# taz.de -- Berlinale-Retrospektive King Vidor: Antikommunismus als Komödie | |
> Disparat und überraschend: Die Berlinale Retrospektive lädt ein, den | |
> politisch notorisch unzuverlässigen US-Regisseur King Vidor | |
> wiederzuentdecken. | |
Bild: Daniel L. Haynes (links), „Hallelujah“ von King Vidor, USA 1929, Retr… | |
Keck weist sich die Vogelscheuche mit Schild und üppigem Schnurrbart als | |
Gegner aus: Um es dem „Kizer“ zu zeigen, stürmen die Jungs mit ihren | |
Spielzeuggewehren den Hügel herunter. Doch bevor sie den Ersten Weltkrieg | |
auf einem Hügel in Kalifornien im Sturm entscheiden können, schlägt eine | |
Mutter sie mit einer Bratpfanne drohend in die Flucht. | |
Das sind Szenen aus „Bud’s Recruit“, dem ersten Film, der vom US-Regisseur | |
King Vidor überliefert ist. 70 Jahre lang hat der texanische Nachfahre | |
ungarischer Auswanderer, [1][dem sich die Retrospektive der Berlinale in | |
diesem Jahr widmet,] Filme gedreht – fast 40 Jahre davon für die großen | |
Studios Hollywoods. | |
„Bud’s Recruit“ beginnt mit einem aus Tüchern improvisierten Zelt. Links | |
ein Gewehr, oben eine US-amerikanische Flagge, in der Mitte ein Schild: | |
„Bud’s Brigade“. Anders als sein Bruder ist Bud Gilbert kaum zu halten in | |
seinen Bemühungen, die USA im Kampf im Ersten Weltkrieg zu unterstützen. | |
Mit seinen jungen Mitstreitern stichelt er gegen seinen Bruder, den es | |
nicht in den Krieg zieht, und gegen die Friedensgesellschaft der Mutter. | |
Die Örtlichkeiten von „Bud’s Recruit“ verdienen einen näheren Blick. Die | |
Landschaft, durch die die Jungs tollen, während sie Soldaten spielen, wirkt | |
ländlich. Die trockenen Böden sind von Bäumen gesäumt. Das Haus der | |
Gilberts, das Wohnzimmer mit dem Esstisch, der Garten mit der Sitzbank | |
scheinen ortlos. Erst als Buds Bruder sich schließlich doch freiwillig | |
meldet, sehen wir, dass der Film in einer Vorstadt gedreht ist, vermutlich | |
in der Nähe Hollywoods, wo King Vidor damals schon wohnte. Das ländliche | |
Amerika ist ein wiederkehrendes Motiv in den Filmen Vidors. Selbst dann, | |
wenn er Städte dreht, wirken sie nicht selten wie Kleinstädte. | |
## Krieg, Weizen und Stahl | |
Das New York in „The Crowd“ von 1928, der für die ersten Academy Awards | |
nominiert war, wirkt wenig urban. Nur die Enge hält uns bewusst, dass der | |
Film in einer Stadt spielt. In Vidors Filmen durchdringen sich städtische | |
und ländliche Räume. In einer Zeit, in der die Bevölkerung in den USA zu | |
gleichen Teilen in Städten und auf dem Land lebte, traf sich Vidors | |
Vorliebe für das ländliche Amerika mit den Anforderungen des Kinomarkts. | |
Vidors Karriere begann mit einem Job als Büroangestellter bei Universal, | |
der unter Pseudonym Filmideen einreichte, er wurde als Autor angestellt, | |
drehte erste Filme wie „Bud’s Recruit“ für das Filmstudio eines | |
Jugendrichters, dann folgte der erste Langfilm. Richtig Fahrt nahm seine | |
Filmlaufbahn auf, als er Anfang der 1920er Jahre als Regisseur bei Goldwyn | |
Pictures begann. Nach dem Ausstieg von Gründer Samuel Goldwyn fusionierte | |
die Firma mit Marcus Loews Metro-Studios und Louis B. Mayers Filmproduktion | |
zu Metro-Goldwyn-Mayer. | |
Was Vidor für Ideen habe, fragte der neue Produktionsleiter Irving Thalberg | |
Vidor. „Ich habe drei Ideen: Krieg, Weizen und Stahl“, lautete die Antwort. | |
Das Ergebnis war Vidors erster großer Erfolg: „The Big Parade“. Der Film | |
führt drei junge Männer, den Unternehmersohn Jim, den Bauarbeiter Slim und | |
den Barmann Bull zusammen. Die drei werden nach Frankreich verschifft, | |
verlieben sich in die gleiche Frau. | |
Vidors Film erzählte den Krieg ohne großen Heroismus aus der Perspektive | |
der Soldaten. Der Film gewann die Photoplay Magazine Medal, den wichtigsten | |
Filmpreis der USA vor der Etablierung der Academy Awards. Hatte Vidor bis | |
dahin jährlich drei bis vier Filme produziert, sank nun die Zahl leicht auf | |
zwei bis drei. Vidors produktivstes Jahrzehnt hatte begonnen. | |
## Ein Film mit schwarzer Besetzung | |
Während der Regisseur in Europa mit seinem Film „The Crowd“ tourte, erfuhr | |
er vom Erfolg des Tonfilms in den USA. Vidor sah die Zeit gekommen für ein | |
lange gehegtes Projekt: ein Film mit einer komplett schwarzen Besetzung. Er | |
setzte den Film gegen alle Vorbehalte von Produzenten und Verleihern durch. | |
„Hallelujah“, der entstandene Film, ist jedoch vor allem ein Dokument, wie | |
die rassistischen Traditionen der Minstrel Shows, die zentral sind für die | |
Vorstellungen über schwarze Amerikaner während des mörderischen Rassismus | |
der Restoration-Zeit, in den Film wanderten. Kein Wunder, dass Paul | |
Robeson, Sänger, Anwalt, Aktivist, die Hauptrolle abgelehnt hatte. | |
In ihrer Studie zu Vidor beobachten Raymond Durgnat und Scott Simmon: | |
„Vidors Filme passen nicht in die Kategorien. Die Figuren sind zu | |
wechselhaft, die Räume zu offen, ihr Tonfall zu rastlos, sie kommen nie | |
recht zur Ruhe.“ | |
So wahr diese Beobachtung für viele Filme Vidors ist, so ist das | |
verlockendste Angebot der Retrospektive doch, den Genrefilmer Vidor | |
wiederzuentdecken. Fast zeitgleich mit „Hallelujah“ dreht Vidor die | |
Screwball-Komödie „The Patsy“, den ersten von drei Filmen mit Marion | |
Davies, von denen vor allem „The Patsy“ und „Not so dumb“ einen Blick | |
lohnen. Es folgt der Western „Billy the Kid“ und die Melodramen „The | |
Champ“, „Cynara“, „Street Scene“ und „The Stranger’s Return“, d… | |
[2][Qualitäten der Filme von Douglas Sirk] erreichen, aber durchaus | |
sehenswert sind. | |
## Wirtschaftskrise und New Deal | |
Politisch bleiben auch bei weiteren Filmen Vidors aus den 1930er Jahren | |
viele Vorbehalte: „Our Daily Bread“ von 1934, Vidors zentraler | |
New-Deal-Film, erzählt bildgewaltig vom Neubeginn eines verarmten Paares. | |
Gemeinsam mit weiteren Opfern der Wirtschaftskrise beginnen sie ein | |
Farmprojekt aufzubauen. Der Film ist an reaktionäre Bewegungen der Zeit | |
ebenso anschlussfähig wie an progressive. Er verbindet Roosevelts Losung | |
„Zurück aufs Land“, die die Ernährungsnot beantworten sollte, mit | |
christlichen Motiven. Der Film ist ein erfreulich verwirrendes Produkt | |
autoritärer Tendenzen in den USA in den Zeiten der Wirtschaftskrise und des | |
New Deals. | |
Gegen das Bild der Südstaaten und die Darstellung der Sklaverei in „So Red | |
the Rose“ (1935) ist „Vom Winde verweht“ eine antirassistische | |
Streitschrift. Wieder ist man Vidor als Zuschauer dankbar, als er in die | |
Konventionen des Genres zurückkehrt und erst den Western „The Texas | |
Rangers“ und dann das Drama „Stella Dellas“ dreht. 1940 folgt die | |
antikommunistische Komödie „Comrade X“, die trotz unterhaltsamer Momente | |
wirkt, als hätte Vidor ein Jahr nach Lubitschs „Ninotschka“ dessen Erfolg | |
reproduzieren sollen – was ihm in kommerzieller Hinsicht auch gelang. | |
Im Rückblick allerdings steht Vidors eigener Antikommunismus dem Humor der | |
Komödie doch ziemlich im Weg. Was bei Lubitsch Spitzen sind, ist bei Vidor | |
der Holzhammer. Aber: Was soll bei einer Komödie mit Clark Gable als | |
amerikanischer Korrespondent, [3][Hedy Lamarr in einer Mehrfachrolle] und | |
Sig Rumann als dauerindignierter Nazi-Korrespondent schon schiefgehen? | |
1944 tritt Vidor der Motion Picture Alliance for the Preservation of | |
American Ideals bei, die den antikommunistischen Autoritarismus in die | |
Filmindustrie hineinträgt. Nach Kriegsende gerät auch das MGM-Studio in | |
eine Krise. Nach einer Phase voller wiederentdeckenswerter Genre-Filme | |
Anfang der 1950er Jahre, wendet sich Vidor am Ende seiner Karriere | |
monumentalen Großproduktionen wie „War and Peace“ und „Solomon and Sheba… | |
zu. | |
Das wenig inspirierte Konzept der Berlinale-Retrospektive, einen einzelnen | |
Regisseur ins Zentrum zu stellen, rettet sich im Falle von King Vidor | |
selbst. Vidors Werk ist so disparat, dass man immer wieder überrascht wird | |
– bisweilen nicht ohne Schaudern, aber doch überrascht. | |
20 Feb 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Archiv-Suche/!5568473&s=Retrospektive+Berlinale&SuchRahmen=Print/ | |
[2] /Archiv-Suche/!5316836&s=Douglas+Sirk&SuchRahmen=Print/ | |
[3] /Archiv-Suche/!5614818&s=King+Vidor&SuchRahmen=Print/ | |
## AUTOREN | |
Fabian Tietke | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Antikommunismus | |
Hollywood | |
Retrospektive | |
Schwerpunkt Berlinale | |
Retrospektive | |
Kino | |
Neuseeland | |
Schwerpunkt Berlinale | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Filmstreaming von Archiven und Museen: Bunt blitzt das Meer | |
Seit Schließung der Kinos bieten einige Filmmuseen kostenlos Retrospektiven | |
im Netz an. Ein Eintauchen in Filmgeschichte und Experimente. | |
Das Klo im Kino: Die sich nicht wegspülen lassen | |
Verändert sich der Blick auf einen Schauspielstar, wenn er im Film auf der | |
Toilette sitzt? Wir machen uns dazu Gedanken – aus aktuellem Anlass. | |
Die Wahrheit: Oscar-Nachwehen | |
Neues aus Neuseeland: Das ganze Land feiert Erfolgsregisseur Waititi, aber | |
ein alter Rassist zeigt noch immer den Stinkefinger. | |
Die Berlinale-DirektorInnen im Interview: „Berlin ist eine politische Stadt“ | |
Die Berlinale hat eine neue Leitung. Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian | |
im Gespräch über „dunkle Filme“ und die NS-Vergangenheit von Alfred Bauer. | |
Film und Rezession: "Die Filmförderung ist eher reaktiv" | |
Der Umbau der Hollywood-Industrie in eine Copyright-Industrie hat | |
Auswirkungen darauf, wie Film in Zukunft zu sehen sein wird, sagt der | |
Filmwissenschaftler Rembert Hüser. |