# taz.de -- Regisseur über Doku und Fiktion: „Wichtig fürs Bildungssystem“ | |
> Für „The Viewing Booth“ (Forum) konfrontierte Ra’anan Alexandrowicz | |
> Studenten mit Videos vom israelischen Militär in den besetzten Gebieten. | |
Bild: Der israelische Regisseur Ra'anan Alexandrowicz | |
Ra’anan Alexandrowicz wurde 1969 in Jerusalem geboren, im Stadtteil Abu Tor | |
– direkt an der Grenze zum Westjordanland. Die israelische Besatzung der | |
palästinensischen Gebiete, die 1967 begann, begleitet ihn schon sein ganzes | |
Leben. Alexandrowicz gastierte auf der Berlinale erstmals im Jahr 2000 mit | |
seinem Dokumentarfilm „Martin“, einem Porträt eines Überlebenden des | |
Konzentrationslagers Dachau. 2001 zeigte er in Berlin seine Dokumentation | |
„[1][The Inner Tour]“. Darin begleitete er Palästinenser, die zum ersten | |
Mal Israel bereisen. Sein Film „The Law in These Parts“, der die | |
Militärjustiz in den besetzten Gebieten thematisiert, wurde 2011 auf dem | |
Sundance Film Festival als „Beste ausländische Dokumentation“ | |
ausgezeichnet. In seinem neuen Film, „The Viewing Booth“, fragt | |
Alexandrowicz, wie wir Wahrheit konstruieren, damit sie mit unseren | |
Überzeugungen übereinstimmt. | |
taz: Herr Alexandrowicz, in einem Interview 2011 überlegten Sie, ob Sie | |
weiter Filme drehen würden. Sie fragten, ob Dokumentationen die Zuschauer | |
überhaupt noch beeinflussen können. Woher kamen damals Ihre Zweifel? | |
Viele Menschen fragen, wie es möglich ist, dass in einer Zeit, in der | |
Ungerechtigkeit und menschliches Leiden so sichtbar sind wie nie zuvor, | |
Menschenrechte an Bedeutung verlieren. Bei den Recherchen für „The Law in | |
These Parts“ sichtete ich Hunderte Stunden von Dokumentationen. Anlässlich | |
des 50. Jahrestags der Besatzung stellte ich die Frage, welche Bedeutung | |
die Dokumentation dabei spielt. Ich beschloss daraufhin, die Kamera | |
umzudrehen, sodass sie nicht mehr die Wirklichkeit filmt, sondern die | |
Zuschauer, die sich diese Realität anschauen. So begann der Weg zu „The | |
Viewing Booth“. | |
Wie verlief das Experiment, das dem Film zugrunde liegt? | |
Ab 2015 machte ich einige solche Experimente, bis ich schließlich | |
beschloss, mich auf die Bilder aus den besetzten Gebieten zu konzentrieren, | |
die ich am besten kenne. Ich wollte an einer US-Universität 40 Kurzfilme | |
zeigen: 20 wurden von Palästinensern für den israelischen | |
Menschenrechtsverein [2][B’Tselem] gedreht. Weitere 20 Kurzfilme stammen | |
von Soldaten und dem Armeesprecher, die im Internet von rechtsgerichteten | |
Gruppen verbreitet wurden. Diese Filme zeigte ich einigen Studenten, die | |
sich für Israel interessieren. | |
In Ihrem Film fokussieren Sie sich auf die Studentin Maia Levy und zeigen, | |
wie sie auf verschiedene Filmszenen reagiert. Warum ausgerechnet sie? | |
Weil ich sie für meine bevorzugte Zuschauerin halte. Sehr schnell wurde mir | |
klar, dass sie politisch rechts steht, Israel bedingungslos unterstützt und | |
eine negative Haltung zu israelischen Menschenrechtsorganisationen wie | |
B’Tselem hat. Andererseits wurde mir klar, dass sie neugierig ist und | |
Dokumentationen der Armee oder die von jüdischen Siedlern kritisch | |
bewertet. | |
Zum Beispiel ein B’Tselem-Video, das eine nächtliche Wohnungsdurchsuchung | |
bei einer palästinensischen Familie zeigt, aufgenommen in Hebron im Jahr | |
2016. | |
Es ist faszinierend zu sehen, wie Maia sieben-, achtmal hin- und | |
herschwingt zwischen der Empathie für die betroffene Familie, zum Beispiel | |
für die Kinder, die geweckt werden – und dem Misstrauen, dass sie alles nur | |
vorspielen. Maia fragt, wieso man die nächtliche Durchsuchung überhaupt | |
filmen konnte. Sie spekuliert, dass das Militär Hinweise auf eine | |
versteckte Bombe erhalten hatte, von der im Video nie die Rede ist. Maia | |
ist überzeugt, dass die Soldaten die Wohnung nicht ernsthaft durchsuchen. | |
Sie braucht eine plausible Erklärung für die verstörenden Bilder. Plötzlich | |
wird ihr klar, dass sie auf die Idee, es könnte eine Bombe geben, durch die | |
israelische Fernsehserie „Fauda“ kam, die auf Netflix lief. | |
Maia verwechselt in diesem Fall ein TV-Drama mit einer Dokumentation. | |
Passiert das häufig? | |
In den heutigen Medien verwischen die Grenzen zwischen Dokus und TV-Dramen, | |
die sich als „fast authentisch“ vermarkten. Hinzu kommen Reality-Sendungen. | |
Daher glauben Zuschauer manchmal, dass auch Dokumentationen nach einem | |
Drehbuch entstehen. Als Maia sich zum Beispiel den Kurzfilm über die | |
palästinensische Familie anschaut, sucht sie ständig nach der | |
vermeintlichen Regiearbeit, obwohl der Familienvater das Video gedreht hat | |
(mit einer Kamera von B’Tselem, Anm. d. Red.). | |
Hier sollte man „Bezirk Jerusalem“ erwähnen, eine israelische | |
Doku-Reality-TV-Serie über die Jerusalemer Polizei, die 2019 im | |
öffentlich-rechtlichen Fernsehsender KAN lief und in Israel einen Skandal | |
auslöste. | |
Das war ein schlimmer Vorfall. Die TV-Serie zeigt die Arbeit der | |
israelischen Polizisten im besetzten und annektierten Ostjerusalem. In | |
einem Kapitel versteckte die Produktionsfirma im Haus der palästinensischen | |
Familie ein Gewehr, das die Polizisten alsdann vor der Kamera durchsuchten. | |
Von diesen „eingepflanzten“ Waffen erfuhren die Zuschauer nichts. (Die | |
Polizei gab dem ahnungslosen Familienvater anschließend sogar einen | |
„Durchsuchungsbericht“, der bestätigte, dass bei ihm nichts gefunden wurde. | |
Aber nach der Sendung, die mit dem „Waffenbefund“ endet, befürchtete er, | |
dass seine Nachbarn ihn für einen Kollaborateur mit Israel halten würden, | |
weil er niemals verhört wurde, Anm. d. Red.). | |
Den Höhepunkt Ihres Films bilden die Szenen, in denen Maia mit ihren | |
eigenen Reaktionen auf die Videos konfrontiert wird. | |
Beim ersten Dreh wusste ich noch nicht, dass daraus ein Film entstehen | |
wird. Sechs Monate später bat ich Maia zu einem zweiten Drehtermin. Ich | |
fragte mich, ob sie nach einem zeitlichen Abstand die Bilder anders sehen | |
würde. Natürlich hoffte ich, dass sie inzwischen ihre Meinung geändert hat. | |
Wichtig war mir, dass Maia versteht, wie sie auf die Bilder reagiert. Ich | |
hoffe, dass die Zuschauer dieses Films nicht nur auf Maia schauen, sondern | |
auch auf sich selbst und auf ihre Reaktionen auf meine Dokumentation. | |
Wie sehen Ihre Zukunftspläne aus? | |
Ich bin kein Lehrer geworden, denn ich bin nicht bereit, meinen Traum | |
aufzugeben, dass das Kino Einfluss hat – so wie Bildung. Dieser Film ist | |
wichtig für das Bildungssystem. Wir alle müssen lernen, in dieser medialen | |
Welt zurechtzukommen. Das sogenannte Media-Literacy-Programm soll kritische | |
Zuschauer erschaffen. Mein Film kann in Schulen und Universitäten dazu | |
beitragen. | |
Ihr Film feierte 2019 auf dem Dokumentarfilmfestival DocAviv in Tel Aviv | |
Premiere. Wie waren die Reaktionen? | |
Maia kam zur Filmpremiere und auch die palästinensischen Protagonisten, die | |
die Videos gedreht hatten. Sie begegneten sich dort. Die überwiegend | |
linksgerichteten Zuschauer waren sehr interessiert, mit Maia zu sprechen. | |
Wie reagierte Maia auf die Palästinenser, die sie für Propagandisten | |
gehalten hatte? | |
Sie hat ihre Meinung zwar nicht geändert, aber sie beschloss, weitere | |
solche Videos zu sehen. | |
Und wie reagierten die Palästinenser auf Maia? | |
Die meisten von ihnen waren allein durch die unmittelbare Begegnung mit ihr | |
optimistisch, dass sie ihre Meinung ändern würde. Das hat mich sehr | |
überrascht. Ein Happy End ist das aber nicht, es birgt nur weitere Fragen | |
für die Zukunft. | |
26 Feb 2020 | |
## LINKS | |
[1] https://www.youtube.com/watch?v=vGIoWNFcXPs | |
[2] https://www.btselem.org/ | |
## AUTOREN | |
Igal Avidan | |
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