| # taz.de -- Naturgeschichten von T. C. Boyle und Craig Foster: Die Liebe zu Aff… | |
| > Neue Romane und Filme beleuchten einen Kulturwandel im Verhältnis von | |
| > Mensch und Tier. Dazu gehören Werke von T. C. Boyle und Craig Foster. | |
| Bild: Craig Foster mit dem Kraken | |
| Das Verhältnis zwischen Mensch und Tier ist in Bewegung geraten. Dies legen | |
| zumindest zwei Werke nahe, die diese Beziehung neu verhandeln: [1][T. C. | |
| Boyles aktueller Roman „Sprich mit mir“] (Hanser-Verlag) und Craig Fosters | |
| Dokumentarfilm „Mein Lehrer, der Krake“ (Netflix). Der Film zeigt die | |
| täglichen Tauchgänge Fosters an der südafrikanischen Küste, wobei er auf | |
| ein Oktopusweibchen trifft. | |
| Dieses nimmt Kontakt auf, indem es langsam einen Tentakel ausrollt und | |
| Fosters Fingerspitzen berührt, bei späteren Touren erkennt ihn das Tier | |
| offenbar wieder, um sich schlussendlich sogar an seine Brust zu schmiegen. | |
| Der Film zeigt eine Liebesgeschichte zwischen zwei artfremden Wesen – „I | |
| fell in love with her“, resümiert Foster. | |
| In „Sprich mit mir“ ist es der Affe Sam, der vom Studienobjekt in der | |
| Spracherwerbsforschung zum Liebesobjekt der Studentin Aimee wird. Texte, | |
| die Tiere und insbesondere Affen als dem biologisch nächsten Verwandten des | |
| Menschen in Szene setzen, verhandeln die Mensch-Tier-Differenz. Sie setzen | |
| die „anthropologische Maschine“ (Georgio Agamben) in Gang, die | |
| Grenzziehungen – und damit Selbstdefinitionen – ermöglichen. | |
| ## Erkenne dich selbst | |
| Denn immer noch steht der Mensch vor der Aufgabe, die ihm der Biologe Carl | |
| von Linné zugewiesen hat: Da es ihm in den ersten Auflagen seiner Taxonomie | |
| nicht gelang, den zu den Primaten zählenden Homo durch ein Kennzeichen zu | |
| spezifizieren, setzte er den Zusatz nosce te ipsum – Erkenne dich selbst. | |
| Der Mensch, so resümiert Agamben, ist „dasjenige Tier, das sich selbst als | |
| menschlich erkennen muss, um es zu sein“. | |
| Droht die Abgrenzung schiefzugehen, wird nachgeholfen. Sam ist unter | |
| Menschen aufgewachsen, aber, so der Chef des Forschungsprogramms: „Er ist | |
| kein Haustier, er ist kein Mensch […] und soll ich dir sagen, was ich | |
| machen werde: Ich werde einen Schimpansen aus ihm machen.“ | |
| „Sprich mit mir“ setzt im Titel das Sprach- und damit | |
| Kommunikationsvermögen als zentrales Moment einer ebenbürtigen | |
| Mensch-Tier-Beziehung. Zwar hat Sam Kenntnisse der Gebärdensprache, doch | |
| Chomskys Postulat, die Sprache sei das Privileg des Menschen, führt zum | |
| Versiegen der Fördergelder. | |
| Nun geht es aber in beiden Werken nicht darum, ob und in welchem Maße Tiere | |
| und Menschen ein Sprachvermögen oder – im Fall des Oktopusweibchens – ein | |
| gemeinsames Bewusstsein von irgendwas eint. Es geht weniger um | |
| Ähnlichkeiten und Unterschiede als um Bindungen und Emotionen. | |
| ## Zum „Übertier“ stilisiert | |
| Foster und Boyle erzählen explizit (heterosexuell und damit | |
| hochkonventionell codierte) Liebesgeschichten, in denen sich ein neues | |
| Verhältnis artikuliert: Tiere wie diese Krake wollen wir nicht (mehr) | |
| essen, Tiere wie diesen Sam wollen wir nicht (mehr) quälen. In der intimen | |
| Nähe, die keine anthropologische Distanzmaschine mehr aufhält, werden alle | |
| zu einer großen Familie, so sieht es Aimee: „Vielleicht hatte sie sich | |
| verliebt, in Guy, in Sam, in das ganze neue Leben, das sich ihr plötzlich | |
| eröffnete. Konnte es wirklich so einfach sein?“ Kann es? | |
| Nichtmenschliche Tiere und der Mensch als Tier stehen in einem prekären | |
| Verhältnis, das permanent austariert werden muss. Dabei wird das Tier nicht | |
| nur erniedrigt, sondern auch zum „Übertier“ (Benjamin Bühler/Stefan Riege… | |
| idealisiert: Es kann Dinge in einer Perfektion und/oder Simplizität, über | |
| die der Mensch nicht verfügt, und generiert – etwa in Laboren – Wissen | |
| anstelle des und für den Menschen. | |
| Auch Boyle und Foster inszenieren Tiere als Wissensfiguren. Sam ist weit | |
| mehr als nur ein Studienobjekt; mit ihm entsteht ein „neues Leben“, wie es | |
| Aimee als Schirmherrin der ungleichen Gleichen formuliert: eines, das die | |
| Differenzmaschine suspendiert, eines, in dem sich Mensch und Tier liebend | |
| verbinden. | |
| ## Die Erschaffung | |
| Tatsächlich geht es um nichts weniger als um eine Neuschöpfung der Welt: | |
| Während Aimee Sam nach ihrer beider Flucht taufen lässt, sehen sie ein | |
| Bilderbuch an „und dann fuhren beide mit dem Zeigefinger über die Figuren | |
| in Michelangelos Die Erschaffung Adams“. Bei Foster erhält diese | |
| Neuschöpfung ihr Bild im ausgerollten Tentakel, mit dem die Krake seine | |
| Hand berührt: Der Spalt zwischen Gottes und Adams Fingern, den Michelangelo | |
| ikonisch in Szene setzte – hier wird er geschlossen. | |
| In der biblischen Genesis werden die Hierarchien festgelegt, die mit der | |
| Erschaffung Adams den Menschen als gottesebenbildlich über das Tier | |
| stellen. Darunter rangiert das Reich der Pflanzen, das sich die | |
| Schöpfungslehre nur als Nahrung vorzustellen vermag: „Siehe, ich gebe euch | |
| alles Gewächs, das Samen bildet auf der ganzen Erde, und alle Bäume, die | |
| Früchte tragen mit Samen darin. Euch sollen sie zur Nahrung dienen.“ | |
| In Boyle und Fosters Werken kommen die kulturhistorisch etablierten, immer | |
| auch gegenderten – „Das Thier entspricht mehr dem Charakter des Mannes, die | |
| Pflanze mehr dem der Frau“ ([2][Hegel]) – Ordnungsmuster des Lebendigen | |
| ebenso zum Tragen wie aktuelle Debatten und Diskurse. Boyles Roman spielt | |
| in den 70er Jahren, ist aber als Symptom des gegenwärtigen Kulturwandels im | |
| Zeichen von Vegetarismus und Veganismus, Animal Rights und Tierphilosophie | |
| lesbar, der dem Tier einen neuen Status zuspricht. | |
| ## Sprich mit mir | |
| Doch im Romantitel artikuliert sich noch eine andere Wahrheit: Im | |
| herrischen Imperativ „Sprich mit mir“ zieht der Mensch das Tier zu sich | |
| hinüber in die Welt seiner Fähigkeiten, denen sich das Tier, will es | |
| geachtet werden, würdig erweisen muss – die Kehrseite gut gemeinter | |
| Anthropomorphisierungen, wie sie im getauften Affen ihr satirisches Bild | |
| findet. | |
| Fosters bewegt sich in die andere Richtung: Er passt sich nur mit | |
| Schnorchel und Taucherbrille ausgerüstet einer fremden Welt an und nimmt | |
| die Position des Schülers gegenüber einer Lehrmeisterin ein (leider gendert | |
| auch die Synchronisation: aus „she“ wird „er“). | |
| „Mein Lehrer, der Krake“ erzählt eine Liebes- als Lehrgeschichte, die sich | |
| indes erst nach dem Tod der Krake vollends entfaltet, als sich Fosters | |
| Wahrnehmung zunehmend auf den Ort richtet: „Was she taught me was to feel, | |
| that you’re part of this place, not a visitor. That’s a huge difference.“ | |
| Dieser wilde Ort spreche mit dir, heißt es weiter, seine Sprache sei | |
| sichtbar. Dabei fokussiert die Kamera Bewohner der Unterwasserwelt. Die | |
| sichtbare Sprache der Wildnis muss niemand erlernen – alle Lebewesen | |
| repräsentieren die Natur, verkörpern sie als Zeichen. | |
| ## Ökologisch fortschrittlich | |
| Wenn alle Lebewesen gleichberechtigte Zeichen der Natur sind, dann stellt | |
| sich die Frage nicht nur nach den Rechten und dem Status von Tieren. Diese | |
| nicht zu essen gilt als ökologisch fortschrittlich und ethisch korrektes | |
| Verhalten, Pflanzen zu essen scheint dem gegenüber ganz natürlich – was | |
| sollte man auch sonst tun? | |
| Hinter diesem tierischen Chauvinismus – der Mensch, eben auch ein Tier, | |
| identifiziert es sich halt eher mit seinesgleichen – verbirgt sich ein | |
| Problem, das der Philosoph Emanuele Coccia formuliert hat: „Die | |
| Tierrechtsdebatte, die stark von einem extrem oberflächlichen Moralismus | |
| geprägt ist, vergisst offenbar, dass die Heterotrophie die Tötung anderer | |
| Lebewesen als natürliche, notwendige Dimension alles Lebendigen | |
| voraussetzt.“ | |
| Dass die Heterotrophie – die Ernährung durch andere Lebewesen – Grundlage | |
| des Lebens ist, zeigt Fosters Film eindrücklich. Es ist fast schockierend, | |
| als sich die charmante Oktopusdame als gerissene Jägerin zeigt, die eine | |
| süße Krabbe vertilgt. Später wird sie selbst von einem Hai gejagt und nach | |
| einer spektakulären Selbstrettungsaktion von ihm getötet. Foster greift | |
| nicht ein – auch wenn es ihm das Herz zerreißt. Auch der Zuschauer Herzen | |
| bluten. | |
| ## Kein Mitleid für Pflanzen | |
| Ein ähnliches Mitleid dürften Pflanzen nicht erwarten, auch wenn sie es | |
| sind, die als Sauerstoffproduzenten alles Leben auf der Welt ermöglichen. | |
| Dass auch sie fühlen, agieren und nicht gerne verspeist werden (sie | |
| versprühen zum Beispiel Duftstoffe gegen Fressfeinde), ist neuerdings zwar | |
| Gegenstand biologischer Forschungen sowie philosophischer Reflexionen, doch | |
| der Gedanke, dass auch sie so etwas wie Wahrnehmungen geschweige denn | |
| Rechte haben könnten, löst bei vielen Zeitgenossen weiterhin | |
| Erheiterungsanfälle aus. | |
| Die Geringschätzung, die in Pflanzen nur Nahrung und sie damit in | |
| „dienender“ Funktion für andere sieht, setzt sich bis heute fort. Auch der | |
| Naturschutz erfolgt vorrangig im Blick auf den Menschen: ungespritztes | |
| Gemüse ist halt gesünder. | |
| Und so ist es Fosters Film, der den Horizont weitet: Leben bedeutet Leben | |
| an einem Ort, dessen Bewohner alle Teil derselben Natur sind. Coccia, der | |
| die Welt von der Pflanze her denkt, hat dies als „Eingetauchtsein“ in die | |
| Atmosphäre beschrieben, die alle Wesen teilen und über die sie sich als | |
| Atmende permanent austauschen. Dieses Eingetauchtsein würden wir beim | |
| Schwimmen bewusst erleben. | |
| Aufgetaucht aus Buch und Film stellt sich am Ende das Wunschbild einer Welt | |
| jenseits von Chauvinismus, Anthropomorphisierung und Differenzmaschinen ein | |
| – so, [3][wie der Biologe Stefano Mancuso das Reich der Pflanzen] als | |
| Vorbild für uns sieht: kooperativ, nicht hierarchisch, umweltgerecht; | |
| gewissermaßen: weltweise. | |
| 13 Mar 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Neuer-Roman-von-TC-Boyle/!5748167 | |
| [2] /Zum-250-Geburtstag-von-Hegel/!5703321 | |
| [3] /Buch-ueber-Natur-in-der-Stadt/!5610014 | |
| ## AUTOREN | |
| Elke Brüns | |
| ## TAGS | |
| Literatur | |
| Dokumentarfilm | |
| Menschen | |
| Affen | |
| Meer | |
| T.C. Boyle | |
| Literatur | |
| Literatur | |
| Literatur | |
| Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2025 | |
| Nordsee | |
| Vegetarismus | |
| Literatur | |
| US-Literatur | |
| Literatur | |
| Buch | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Roman von Emily St. John Mandel: Vorsicht vor Zeitreisen | |
| Der aktuelle Roman von Emily St. John Mandel ist, wie die Autorin selbst | |
| nahelegt, leicht neben der Spur. Doch er ist auch von Lebensfreude | |
| getragen. | |
| KI in Filmen und Romanen: Die KI versteht dich besser | |
| Was ist die Künstliche Intelligenz? Rationale Bedrohung? Oder | |
| Wunschmaschine? Filme und Romane verwischen die Grenzen zwischen Mensch und | |
| Programm. | |
| Neuer Ökothriller von Ned Beauman: Profit und Buße | |
| Ned Beauman erzählt mit grimmigem Humor vom Artensterben. Sein neuer Roman | |
| „Der Gemeine Lumpfisch“ ist ein ziemlich hochtouriger Ökothriller. | |
| Chihiro Hamanos Buch „Saint Zoo“: Unausgesprochen einvernehmlich | |
| Ist Tierliebe pathologisch oder eine eigene sexuelle Orientierung? Hamano | |
| betreibt Feldforschung im zoophilen Deutschland. | |
| Bewegung für die Rechte der Natur: Robben und Seepferdchen | |
| Die europäische Rechte-der-Natur-Bewegung will das Denken auf den Kopf | |
| stellen. In Amsterdam und Den Haag ist zu besichtigen, wie. | |
| Film zur Debatte über das Tierwohl: Liebeserklärung an eine Sau | |
| „Gunda“ ist der neue Dokumentarfilm des eigenwilligen russischen Regisseurs | |
| Victor Kossakovsky. Protagonistin des Films ist ein Mutterschwein. | |
| Bäume in der Literatur: „Die Signale der Bäume lesen“ | |
| Wie kann man Beziehungen zwischen Bäumen und Menschen denken? Ein Gespräch | |
| mit Solvejg Nitzke, Literaturwissenschaftlerin, über Bäume in Romanen. | |
| Neuer Roman von T. C. Boyle: Er will einen Cheeseburger | |
| Haben Affen Humor? Das ergründet T. C. Boyle, der kalifornische König der | |
| klugen Unterhaltung, in seinem neuen Roman „Sprich mit mir“. | |
| Pilar Quintana, Autorin aus Kolumbien: Eine Art Lady Macbeth in black | |
| Im fabelhaften Roman „Hündin“ der kolumbianischen Autorin Pilar Quintana | |
| geht es um animalische Realität und Kinderlosigkeit. | |
| Verhalten der Krabbeltiere: Der Homer der Insekten | |
| Jean-Henri Fabres „Erinnerungen eines Insektenforschers“ liegen zum ersten | |
| Mal vollständig in deutscher Übersetzung vor – 4.000 faszinierende Seiten. |