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# taz.de -- Verhalten der Krabbeltiere: Der Homer der Insekten
> Jean-Henri Fabres „Erinnerungen eines Insektenforschers“ liegen zum
> ersten Mal vollständig in deutscher Übersetzung vor – 4.000 faszinierende
> Seiten.
Bild: Das große Krabbeln: Jean-Henri Fabre untersuchte das Verhalten der Kerfe
Dass Bücher Horizonte eröffnen und Tore zu neuen Welten aufstoßen können,
sagt man so. Tatsächlich so ergangen ist es dem legendären Entomologen und
Schriftsteller Jean-Henri Fabre, dessen von 1879 bis 1907 erschienene
„Erinnerungen eines Insektenforschers“ nun erstmals in deutscher Sprache
vorliegen – und zwar vollständig, in zehn Bänden, einem Konvolut von rund
4.000 faszinierenden Seiten.
Seine „Erleuchtung“ verdankte der Autodidakt, wie er sich gern nannte,
einer Schrift des Naturforschers Léon Dufour, des „Vaters der Entomologie“,
und er beschreibt sie gleich zu Beginn des ersten Bandes: „Schöne Käfer in
einer mit Kork ausgelegten Schachtel aufzureihen, sie zu benennen und zu
klassifizieren, war also nicht die ganze Wissenschaft; es gab Höheres: das
genaue und liebevolle Studium ihres Lebens.“
Sowohl in seinem Geburtsort, dem südfranzösischen Saint-Léons, wo er 1823
geboren wurde, als auch in Sérignan-du-Comtat, nahe Orange, wo er über
dreißig Jahre bis zu seinem Tod im Jahr 1915 residierte – in dem Anwesen,
in dem heute das Musée Harmas Jean-Henri Fabre untergebracht ist –, konnte
der aus einfachsten, ja, ärmlichen Verhältnissen stammende Physiklehrer und
Verfasser volkstümlicher Lehrbücher in Hinblick auf seine „hohe Aufgabe“
noch aus dem Vollen schöpfen.
Zwar sind Insekten auch heute scheinbar allgegenwärtig – man braucht
jedenfalls hierzulande nicht lang zu suchen, um Schmetterlinge, Käfer,
Bienen, Heuschrecken und Ameisen einmal genauer zu beobachten –, doch
belegen Studien mancherorts einen Rückgang der Biomasse von Fluginsekten um
bis zu 80 Prozent (in den vergangenen drei Jahrzehnten in Deutschland).
Insekten in der Literatur
[1][Während Insekten also derzeit einen dramatischen, wenn nicht
apokalyptischen Schwund erleben], dessen Folgen für die Umwelt und für uns
Menschen noch gar nicht abzusehen sind, dienen sie immer häufiger als Sujet
für Bücher – nicht erst seit Maja Lundes Bestseller „Die Geschichte der
Bienen“ von 2015. Hervorgehoben seien hier nur der wunderschön illustrierte
Band „Sonnenfalter und Mondmotten“ (2019) von Anita Albus (die für den
siebten Band der „Souvenirs“ den klug-geschmeidigen Essay „Fabre und
Proust“ beisteuerte) oder auch die Bände „Schmetterlinge“ (2016) und
„Käfer“ (2019) in der von Judith Schalansky herausgegebenen und bibliophil
gestalteten Reihe „Naturkunden“ des Verlags Matthes & Seitz, in dem auch
die „Erinnerungen eines Insektenforschers“ erscheinen.
Diese sind bei Weitem nicht nur für Wissenschaftshistoriker von Belang, sie
sind auch ein veritables literarisches Meisterwerk, das Schriftsteller wie
Victor Hugo – der Fabre einen „Homer der Insekten“ nannte –, Maurice
Maeterlinck, Romain Rolland, André Gide, Marcel Proust natürlich und auch
Ernst Jünger nachhaltig beeinflusste und inspirierte.
1912 wäre Fabre für die „Souvenirs“ beinahe der Literaturnobelpreis
verliehen worden, doch die schwedische Akademie kürte Gerhart Hauptmann,
einen „Naturalisten“ immerhin und in Sachen Naturforschung auch so etwas
wie einen Bruder im Geiste, wobei Hauptmanns Leidenschaft vor allem den
Vögeln und weniger den Insekten galt, wie wiederum seinem Erinnerungswerk
„Das Abenteuer meiner Jugend“ zu entnehmen ist.
Fabre, der nur zwei Jahre jünger war als der Romancier Gustave Flaubert,
den er gleichwohl um Jahrzehnte überlebte, stand mit herausragenden
Persönlichkeiten seiner Epoche im Kontakt, allen voran mit Charles Darwin,
der ihn schätzte und den er schätzte, auch wenn er stets ein Gegner der
Evolutionstheorie blieb. Er konnte sich schlicht nicht vorstellen, dass die
„Wunder der Schöpfung“ in ihrer Schönheit und Vollkommenheit nicht der
Künstlerwerkstatt eines Demiurgen entstammen, sondern Ergebnis eines
langwierigen Veränderungsprozesses sein sollten, in dem durch Abwandlung
und Umformung eine Art aus der anderen hervorging.
„Pfui auf die Systematik“
Den von Darwin proklamierten „Transformismus“ bekämpfte der Gläubige jedo…
nicht mit biblischen Argumenten – wie es noch heute die Kreationisten tun
–, sondern allein mit Erkenntnissen, die er aus akribischen Beobachtungen
und Experimenten gewann. Doch obwohl der „Darwinismus“ keine Theorie mehr
ist, sondern eine zumindest von seriösen Wissenschaftlern unbestrittene
Gegebenheit, fällt es seinen Exegeten nach wie vor schwer, zu erklären, wie
etwa ein Ameisenstaat in seiner Komplexität durch zufällige kleine
Veränderungen entstehen konnte.
Auch mit dem utilitaristischen Philosophen und Hobby-Botaniker John Stuart
Mill, der zeitweise in Avignon lebte und Fabre finanziell unterstützte,
stand der Insektenforscher in freundschaftlichem Austausch. In der
Tradition von Empirismus und Positivismus, deren Wurzeln jeweils bis zurück
in die Antike reichen, die aber im 19. Jahrhundert wieder kräftig
aufblühten, vertrat Mill den Standpunkt, Erkenntnis könne nur aus der
Erfahrung stammen. Auch Fabre hielt nicht viel von hochtrabenden Theorien
und Systemen, er war durch und durch Skeptiker, allerdings – wie der von
ihm zitierte Montaigne – humanistischer Prägung: „Wir meinen uns zum
Allgemeinen zu erheben und versinken im Irrtum“, heißt es einmal in den
„Souvenirs“.
Auch die Taxonomie, also die Klassifizierung und Inventarisierung in
Linné’scher Tradition, die die Wissenschaften seiner Zeit bestimmte und
über die sich Flaubert in seinem Romanfragment „Bouvard und Pécuchet“
lustig macht, war nicht Fabres Sache. „Pfui auf die Systematik“ heißt es an
anderer Stelle, und er widmet sich ohne große taxonomische Skrupel auch den
Spinnen, die mit ihren acht anstelle von sechs Beinen bekanntlich nicht zu
den Insekten zählen. Ihn interessiert das Verhalten der Kerfe, nicht ihre
Auflistung.
Wer Fabre liest, versteht auch sofort, warum das so ist, handelt es sich
doch um, nun ja, bisweilen höchst spezielle Verhaltensweisen, er hat es
beispielsweise mit Jägern zu tun, die echte Splattergemetzel veranstalten,
mit Kannibalen, Blutsaugern, Totengräbern und Sklavenhaltern, aber auch mit
Architekten, mit Fabrikanten von Honig, Seide und Farbstoffen, mit
Gründern von Staaten und nicht zuletzt mit [2][atemberaubenden
Verwandlungskünstlern].
Schmerzhafte Selbstversuche
„Es gibt überall Schönes, vorausgesetzt, es gibt ein Auge, das es zu
erkennen vermag“, schreibt Fabre und sein Augenmerk gilt namentlich etwa
den Pillendrehern (Skarabäen oder Mistkäfern), den Heupferden, Grabwespen,
Rosenkäfern und Gottesanbeterinnen. Er war sich für nichts zu schade und
mancher Selbstversuch endete mit schmerzhaften Stichen und Bissen; einmal
lud er Freunde zum Verzehr von gegrillten Käferlarven, sprich: Engerlingen,
ein. „Der Geschmack erinnert an gebrannte Mandeln, verstärkt durch ein
leichtes Vanillearoma.“ Fabre interessiert das Ganze, er erforscht Leben
und widmet der Forschung sein Leben. Geleitet wird er von fundamentalen
Fragen wie „Warum will der Mensch wissen?“ und „Was ist Wahrheit?“.
Dass er als Empiriker ein Verächter reinen „Buchwissens“ war, hinderte ihn
nicht daran, ein Liebhaber „schöner Literatur“ zu sein – neben Homer, Ho…
und Vergil, der seine Beziehung zur Natur früh und besonders prägte,
standen auch Rabelais, Voltaire und Hugo in seinem Regal – ebenso La
Fontaine, dessen Fabeln er hier und da entomologisch seziert. Etliche
Dichter und Philosophen erwähnt er in seinem Werk, das nicht nur durch
präzise und lebendige Beobachtungen und durch weitreichende Kenntnisse
besticht, sondern auch durch die Gabe mitreißenden und hochpoetischen
Erzählens.
Jean Cocteau bemerkte einmal, Proust habe die Gesellschaft untersucht wie
Fabre die Insekten – und tatsächlich haben die „Souvenirs“ auch etwas von
einem Roman fleuve mit wiederkehrenden Charakteren, und das gilt nicht nur
für die autobiografischen Kapitel. Von Fabre lernen heißt auch schreiben
lernen. Oder besser: beschreiben lernen.
Die Literarizität, die in wissenschaftlichen Kontexten befremden mag, ist –
neben dem breitkrempigen Filzhut – geradezu Fabres Markenzeichen. Seine
schwärmerische Begeisterung für den Gegenstand schlägt ihrerseits Funken,
sie steckt an. Stilistisch wäre er am ehesten dem Realismus zuzuordnen, dem
poetischen Realismus wohlgemerkt, aber wie war das noch? „Pfui auf die
Systematik!“ Nein, Fabre passt einfach in keine Schublade, auch wenn er
dringend auf den Stapel der unbedingt zu lesenden, da ungeheuer lebendigen
Klassiker gehört.
22 Jul 2020
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## AUTOREN
Tobias Schwartz
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