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# taz.de -- Buch über das große Artensterben: Die stattfindende große Verwü…
> „Das Ende der Evolution“ heißt das neueste Buch des Evolutionsbiologen
> Matthias Glaubrecht. Darin warnt er vor dem Massensterben der Arten.
Bild: Pinguine am Strand in Argentinien
Der Klimawandel ist noch unser kleineres Problem. „Der Verlust der
Biodiversität ist die wahre Krise des 21. Jahrhunderts.“ Das ist die
erschreckende und sehr gut belegte These des Hamburger Professors Matthias
Glaubrecht.
Ob das sechste Massenaussterben in der Erdgeschichte bereits angefangen hat
oder kurz bevorsteht, ist wissenschaftlich umstritten. Einig sind sich
viele Experten dagegen, dass ohne radikale und rasche Änderungen unserer
Lebensweise bereits in 80 Jahren mehr als die Hälfte aller Tier- und
Pflanzenarten ausgestorben sein könnten. Das ist keine Frage sentimentalen
Bedauerns. Zu erwarten sind Hungersnöte unbekannten Ausmaßes mit Milliarden
Toten.
Für uns war der Meteorit, der den Dinosauriern den Garaus machte, ein
Glücksfall: Jahrelang verdunkelten Staubwolken den Himmel. Das eröffnete
den Säugetieren neue Entwicklungschancen. Bis dahin waren sie allesamt
nachtaktiv gewesen, weil bei Tageslicht die Riesenreptilien alle
Lebensräume beherrschten.
Die Familie der Primaten gehörten zu den ersten, die sich auf die hellen
Stunden umorientierte. Wahrscheinlich schon vor über vier Millionen Jahren
entwickelten Hominiden dann als Reaktion auf klimatische und geologische
Veränderungen den aufrechten Gang, erst sehr viel später vergrößerte sich
ihr Gehirn – wahrscheinlich um das komplexe Sozialleben und die dafür
notwendige Kommunikation zu meistern.
## Die meiste Zeit unauffällig
Zwar sind wir die einzige Menschenlinie, die nach mehreren
Auswanderungswellen aus Afrika letztlich überlebt hat. Doch die Hybris,
dass alles auf den Homo sapiens als „Krone der Schöpfung“ zulief, ist
sachlich ebenso falsch wie die Annahme, dass wir uns grundsätzlich von
Tieren unterscheiden. Kultur ist unsere Natur.
Es ist unser evolutionäres Erbe, das uns binnen weniger zehntausend Jahre
ermöglichte, die gesamte Erde zu bevölkern: Wir sind flexibel und in der
Lage, uns an neue Umgebungen anzupassen, sind neugierig und haben
Entdeckergeist. Zugleich bestand unsere Strategie seit jeher darin, als
plündernder Pionier weiterzuziehen, sobald die Ressourcen irgendwo
erschöpft waren.
Die meiste Zeit unserer Geschichte war unsere Art unauffällig, bis wir den
Ackerbau entwickelten. In den vergangenen zehntausend Jahren nahm die
menschliche Population um das 1.200-fache zu. Statistisch werden heute pro
Stunde 21.763 Babys gezeugt, und so bleibt immer weniger Raum für andere
Erdbewohner.
Glaubrecht betont den Faktor Bevölkerungswachstum als zentrales Problem,
das er politisch tabuisiert und manchmal sogar in die faschistische Ecke
gestellt sieht. Daneben haben Habitatverlust, Einschleppung fremder Arten,
Umweltverschmutzung und Übernutzung dazu geführt, dass die Artenvielfalt
rasant schwindet. Der Autor beschreibt das für Insekten, große Säugetiere,
Vögel und Meeresbewohner klar und nachvollziehbar.
## Das eigene Leben als Maßstab des Universums
Fokussiert auf die Gegenwart und ausgestattet mit dem Gefühl, das eigene
Leben sei der Maßstab des Universums, fallen die Verluste den meisten
Menschen gar nicht auf. Dabei findet der Schwundprozess auf vielen Ebenen
statt: Mit der Einschränkung von Lebensräumen nimmt die genetische Vielfalt
innerhalb einer Art und auch die Zahl der Individuen ab.
Das vielschichtige Netzwerk des Lebens wird immer löchriger. Es ist, als ob
man auf einer Computerfestplatte leichtfertig immer mehr Teile löscht, ohne
die Funktion der Dateien zu beachten. Irgendwann stürzt das gesamte System
ab, so Glaubrecht.
Das 1.072 Seiten dicke Buch ist sehr kundig. Zugleich hätten ihm ein
intensives Lektorat und eine deutliche Kürzung gutgetan. So gibt es nicht
nur häufig Redundanzen, sondern auch immer wieder weitschweifige
Ausführungen, insbesondere zu asiatischen Regionen, mit zu vielen Details,
die einfach nicht zum Thema gehören.
Sehr gut und fokussiert sind dagegen die beiden plastischen Szenarien am
Ende. Der Autor wählt das Jahr 2062, um Rückschau auf zwei mögliche
Entwicklungen zu halten. Beim „Untergang“ wurden für die
Nahrungsmittelerzeugung Regenwälder gerodet, Dürren und
Extremwetterereignisse nahmen zu – und als die wenigen Hochertragssorten
dann auch noch von Pilzen und Schädlingen heimgesucht wurden, gab es zu
wenig Essen und sauberes Wasser.
## Der Mensch als Teil der Tierwelt
Gewaltexzesse und der Zusammenbruch der Megacitys waren die Folge. Die
Überlebenden wundern sich über die heutige Zeit: „Über was haben sich die
Menschen damals alles Gedanken gemacht: haben viel zu lange über
Luxusprobleme wie Autofahren und Abgase, Fliegen und Fleischkonsum
debattiert und … mit Milliardenaufwand die Anfänge des Universums und die
Oberfläche des Mars erforscht.“
Dagegen hat im Szenario „Rettung“ eine radikale Wirtschafts- und Agrarwende
stattgefunden, die begleitet wurde von internationaler Lastenteilung, einer
drastischen Geburtenkontrolle und dem Beschluss einer internationalen
Biodiversitätskonferenz, riesige Flächen nicht mehr zu nutzen.
Die von uns gekannte Natur kann nur dann weiterleben, wenn wir einerseits
verstehen, dass wir Teil der Tierwelt sind. Zugleich müsste unsere
evolutionär zuletzt entwickelte „Vernunftnatur“ die Oberhand bei unserem
kollektiven Handeln gewinnen. Schwer zu glauben.
29 Jun 2020
## AUTOREN
Annette Jensen
## TAGS
Politisches Buch
Artensterben
Ökologie
Evolution
Buch
Umweltkatastrophe
Sachbuch
Schwerpunkt AfD
Green New Deal
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