| # taz.de -- Bewegung für die Rechte der Natur: Robben und Seepferdchen | |
| > Die europäische Rechte-der-Natur-Bewegung will das Denken auf den Kopf | |
| > stellen. In Amsterdam und Den Haag ist zu besichtigen, wie. | |
| Bild: Versteinerte Geschichte, zu sehen in „From the Court for Intergeneratio… | |
| Könnte die Nordsee nach ihrer Meinung befragt werden, ob sie weiterhin | |
| XXL-Handelsschiffe und Tanker in ihren Gewässern akzeptieren möchte, was | |
| würde sie dann wohl sagen? „Super, dass ich mich nützlich machen kann“? | |
| Oder würde sie sich an sämtliche Havarien und deren Folgen für ihre | |
| Bewohner:innen erinnern? | |
| Daran, wie viel Arbeit es ist, Kühlschränke und Tonnen von anderem | |
| Kunststoff und Plastik [1][aus über Bord gegangenen Containern an den | |
| Strand von Borkum zu spülen]? An all die Meeresgrundausschürfungen aufgrund | |
| ständig größer werdender Schiffe? Die Ölteppiche? Was würde sie | |
| andererseits zu Windparks und Deichen sagen? Sähe sie die Niederlande sowie | |
| sämtliche ost- und nordfriesische Inseln vielleicht lieber von oben? | |
| Vermutlich würde sie gar nichts sagen, weil Sprechen nicht so ihr Ding ist. | |
| Wie aber würde sie sich ausdrücken, wenn sie Rechte hätte, wie würde sie | |
| ihre Interessen vertreten? Ähnliche Fragen werden seit knapp 15 Jahren | |
| vermehrt gestellt. [2][2008 nahm der Staat Ecuador Grundrechte für die | |
| Natur in die Verfassung auf]. Ein Paradigmenwechsel. Seitdem gibt es | |
| weltweit immer mehr erfolgreiche Initiativen, Entitäten der Natur als | |
| juristische Personen anzuerkennen. Dieses Recht soll bis 2030 auch die | |
| Nordsee erhalten. | |
| Initiativnehmer dafür ist [3][The Embassy of the Northsea], eine | |
| zivilgesellschaftliche Organisation von Künstler:innen, | |
| Wissenschaftler:innen, Jurist:innen sowie politisch Aktiven, die 2018 | |
| ihre Räumlichkeiten im Botschaftsviertel Den Haags eröffnete. Neben dem | |
| Ziel, das Meer zur juristischen Person zu machen, soll die Nordsee bis 2030 | |
| außerdem mit einem Sitz im Parlament vertreten sein – letzteres Vorhaben | |
| ist inspiriert vom viel beachteten Werk „Das Parlament der Dinge“ [4][des | |
| Philosophen Bruno Latour.] | |
| ## Das Meer als Klägerin | |
| Bis dahin ist es noch ein langer Weg. Eine Etappe dazu wurde in der letzten | |
| Woche mit der Vorstellung des von [5][der „Botschaft der Nordsee“ | |
| beauftragten Buchs „Rights for Nature“] genommen. Sie fand im | |
| gesellschaftspolitisch engagierten Amsterdamer Kunstraum „Framer Framed“ im | |
| Rahmen der Ausstellung [6][„Court for Intergenerational Climate Crimes“] | |
| des [7][Künstlers Jonas Staal] und der Aktivistin, Autorin und Anwältin | |
| Radha D’Souza statt. | |
| Jonas Staal ist wie der Theaterregisseur Milo Rau unter anderem dafür | |
| bekannt, im künstlerischen Kontext mit realen Akteur:innen politische | |
| Präzedenzprozesse zu inszenieren. Die Inszenierungen gelten dem Versuch, | |
| komplexe rechtliche Situationen für die gesellschaftliche Diskussion | |
| zugänglich zu machen. Für den Kontext der aktuellen Ausstellung geht es | |
| darum, in den Niederlanden ansässigen Firmen sowie auch der Regierung in | |
| fingierten Prozessen Klimaverbrechen anzulasten. | |
| Wird die Initiative der „Botschaft der Nordsee“ erfolgreich, könnte das | |
| Meer in einigen Jahren nicht nur in solch einem fingierten Prozess, sondern | |
| sogar real als Klägerin auftreten. An anderen Orten der Welt ist Ähnliches | |
| bereits der Fall. In Ecuador kann jede:r Bürger:in im Namen der Natur | |
| einen Prozess eröffnen. In Bolivien, Kolumbien, Indien oder Neuseeland | |
| können Repräsentant:innen dies im Namen von Mutter Erde, Wäldern, | |
| Bergen und Flüssen tun. | |
| ## Natur als Subjekt des Rechts | |
| Das Kompendium „Rights for Nature“, das von den Juristinnen Laura Burgers | |
| und Jessica den Outer für eine allgemeine Leserschaft mit großer | |
| stilistischer und inhaltlicher Klarheit verfasst wurde, versammelt in | |
| dieser Beziehung die interessantesten Fallbeispiele aus der ganzen Welt. 70 | |
| Prozent der irdischen Wirbeltiere seien, so das Vorwort, seit den 1970er | |
| Jahren ausgestorben: Zeit, fundamental neu nachzudenken über unsere | |
| Beziehungen zur Natur. | |
| Die Initiative, aus der Natur als Objekt des Eigentums ein Subjekt des | |
| Rechts zu machen, ist eine Möglichkeit dazu. Sie stellt das Denken auf den | |
| Kopf. Beziehungsweise ist sie eine der möglichen Wege, anders zu denken. | |
| Die Tatsache, dass in Europa dieses Denk-Wegenetz noch weniger ausgebaut | |
| ist als in anderen Kontinenten, hat Gründe. Bei den Panels zur | |
| Buchvorstellung erinnerte sich die in Indien aufgewachsene Radha D’Souza: | |
| „Wenn ich als Kind ein Bad nahm, musste ich sämtliche Flussnamen der Region | |
| aufsagen.“ In nichteuropäisch geprägten Kulturen ist oder war das | |
| Verhältnis zwischen Mensch und Natur oft weniger auf Ausbeutung als auf | |
| Zusammenleben ausgerichtet. Von daher wurzelt die „Rights for | |
| Nature“-Bewegung in der Emanzipation vom Kolonialismus. | |
| ## Gutes Leben, Wohlbefinden | |
| Die kosmologischen, soziologischen und anthropologischen Hintergründe | |
| hinter den Gesetzesinitiativen werden jeweils von den Autorinnen mit | |
| angeführt. Für Ecuador, Bolivien und Peru wird zum Beispiel der Begriff | |
| „sumak kawsay“ für „gutes Leben“ oder „Wohlbefinden“ erklärt, der… | |
| allem auf ökologische Nachhaltigkeit und nicht auf ökonomischen Wachstum | |
| beziehe. | |
| In Neuseeland, wo der Fluss Whanganui, der Berg Taranaki und der Wald Te | |
| Urewera als Rechtspersönlichkeiten anerkannt wurden, sei in der maōrischen | |
| Kultur das Konzept eines Geleitetwerdens durch Naturkräfte zentral. Maōri | |
| betrachten Te Urewera als ihren Vorfahren – „seine Landschaft strömt über | |
| von Mysterium, Abenteuer und entlegener Schönheit“ heißt es im | |
| Gesetzestext. Lernen von solchen Prozessen und Wissensformen, nicht | |
| transplantieren – so lautet der Tenor bei den Panelgesprächen zur | |
| Buchvorstellung. | |
| In den Niederlanden, in Deutschland und anderen europäischen Ländern haben | |
| die Aktivitäten für die Rechte der Natur in den letzten Jahren Fahrt | |
| aufgenommen. Neben der „Botschaft der Nordsee“ gibt es Initiativen für das | |
| Wattenmeer, für die Maas oder die Dommel. In Deutschland baut sich die | |
| inzwischen landesweite Bewegung auf die Basis eines Volksbegehrens für das | |
| Recht der Isar auf. Bereits 1988 gab es einen ersten Versuch, Seehunde zu | |
| Rechtspersonen zu erklären. Gescheitert. | |
| Die erste europäische Implementierung eines Gesetzesentwurfs könnte in | |
| nächster Zeit in Spanien erfolgen. Dort war ein Volksbegehren erfolgreich, | |
| das sich für das Recht der Mar-Menor-Lagune einsetzt, wo [8][in den letzten | |
| Jahren jeweils mehrere Tonnen Fische verendeten] und unter anderem fast die | |
| gesamte Seepferdchenpopulation ausstarb. | |
| „Aber passt es überhaupt zur Nordsee, sie zur Rechtspersönlichkeit zu | |
| erklären?“, fragen ihre Botschafter. Diese große Frage ist der Grund, warum | |
| für die Rechte-der-Natur-Bewegung Aktivismus, Wissenschaft und Kunst eng | |
| zusammenarbeiten. So hat die „Botschaft der Nordsee“ ein Programm | |
| entwickelt, in dem zunächst das Zuhören und dann das „Sprechen“ mit der | |
| Nordsee, beziehungsweise der Austausch zwischen Pflanzen, Tieren, Mikroben | |
| und Menschen, geübt wird. Es geht darum, durch die Schulung von Sinnen und | |
| Vorstellungskraft zu komplett neuen Denkansätzen zu finden. Eines der | |
| künstlerischen Projekte ist beispielsweise ein Parcours durch Amsterdam | |
| aus der Perspektive von Aalen. | |
| Auch der Kulturort Framer Framed präsentiert weitere künstlerische Zugänge. | |
| [9][Die nächste, auch online zu verfolgende Veranstaltung ist „A sea for | |
| the sea“, initiiert vom belgischen Journalisten-Aktivisten-Künstlerduo | |
| Greet Brauwers und Raf Custers.] Die Präsentationen und Performances, die | |
| auch auf Tournee gehen, finden vor dem Hintergrund des steigenden | |
| Interesses an [10][kommerziellem Tiefseebergbau] statt. Die Gebiete der | |
| Tiefsee, die in internationalen Gewässern liegen, sind die letzten noch | |
| nicht kolonisierten Gegenden der Erde. | |
| 8 Feb 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Frachtschiff-in-der-Nordsee-havariert/!5562639 | |
| [2] /Genossen-machen-die-taz/!5096204 | |
| [3] https://www.embassyofthenorthsea.com/ | |
| [4] /Ausstellung-im-ZKM-Karlsruhe/!5684912 | |
| [5] https://www.embassyofthenorthsea.com/product/rights-of-nature-case-studies-… | |
| [6] https://framerframed.nl/exposities/court-for-intergenerational-climate-crim… | |
| [7] /Kuenstler-will-klagen/!5674853 | |
| [8] /Tiere-sterben-in-Europas-groesster-Lagune/!5634774 | |
| [9] https://www.youtube.com/watch?v=ws3VXbdXHR0 | |
| [10] /Meere-als-Bergbaureviere/!5822108 | |
| ## AUTOREN | |
| Astrid Kaminski | |
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