# taz.de -- Performance zu Rechten der Natur: Parlament unter Bäumen | |
> Ob Hopfen oder Pilz: Auf einem Gelände im Wedding wird die | |
> Organismendemokratie erprobt. Was passiert, wenn alle Lebewesen dieselben | |
> Rechte haben? | |
Bild: Lebewesen unter uns: Bäume | |
Durch Baumkronen fällt Sonnenlicht auf eine kleine Lichtung inmitten | |
dichten Gestrüpps und üppig sprießender Pflanzen. Das Grün spendet wenig | |
Schutz vor der sengenden Hitze, die an diesem Junitag über Berlin liegt. | |
Nach und nach treffen rund ein Dutzend Personen ein, die sich vor einem | |
Rednerpult auf Hockern verteilen. Eingepfercht zwischen zwei Wohnblöcken, | |
einer vielbefahrenen Straße und einem Supermarkt, formiert sich auf einer | |
Brache im Wedding das [1][Parlament der Organismen]. Seit 2019 tagt es | |
einmal jährlich hier auf seinem Staatsgebiet an der Osloer Straße. | |
Nacheinander treten die Parlamentarier*innen an ein Podest und lesen | |
von einem Blatt Papier ihre Eide ab. „Als Mitglied des Parlaments der | |
Organismen gelobe ich unverbrüchliche Treue der Organismendemokratie und | |
ihrer Verfassung“, sagen sie. „Ich spreche für das Behaarte Schaumkraut, | |
indem ich sage 'Ich als Behaartes Schaumkraut’“, oder ‚Ich als Aminobacter | |
carboxydus‘.“ | |
Eine Frau tritt ans Rednerpult. Auf ihrem Kleid klebt ein Aufkleber: | |
„Hopfen“. Franziska Matthis arbeitet als Kunst- und Philosophielehrerin. An | |
diesem Samstagnachmittag aber vertritt sie die Interessen des Hopfens, der | |
an den Rändern der Brache wächst. Gemeinsam mit der „Bergulme“ trägt sie | |
einen Antrag vor. | |
Damit die Bäume den Lebensraum anderer Pflanzen hier nicht überwuchern, | |
werden sie jährlich gestutzt. Das aber, argumentiert der Hopfen, reduziere | |
die Zukunftschancen junger Bäume und Kletterpflanzen. | |
## Die Zukunftschancen junger Bäume | |
Kurzum schlagen Ulme und Hopfen vor: Man möge die abgeschnittenen Äste als | |
Setzlinge ausbürgern. Der Verein Kiezwald würde den Pflanzen in der | |
Baumschule des Pankower Max-Delbrück-Gymnasiums eine zweite Chance geben. | |
Aber die Vertretung des Mahonienrosts, eines Pilzes, der auf Mahonien lebt, | |
protestiert. Ungleichbehandlung sei das, Speziesismus sogar. Warum sollten | |
die Gehölze eine solche Chance bekommen, die Pilze hingegen nicht? | |
2019 hat das Künstlerkollektiv Club Real auf einem ehemaligen | |
Brauereigelände die Organismendemokratie gegründet. Ziel des Projekts ist | |
es, [2][allen Lebewesen auf dem Gelände dieselben Rechte zu geben]. Mit | |
Gesetzen, dem Parlament und einer Exekutive wird die Utopie in einer Art | |
Performance zum Leben erweckt. Die Abgesandten können im Parlament Anträge | |
stellen, von denen sie glauben, dass sie den Interessen der Spezies | |
entsprechen. | |
## Asyl für den Schleimpilz | |
Mit ernsten Mienen tragen die Parlamentarier*innen ihre Anträge vor. | |
Die Tauben wünschen sich ein Monument, das an ihre Verdienste erinnert – | |
und den „Verrat“ an den Brieftauben durch die Menschen und ihre | |
Telekommunikationsapparate.* Der Admiral, ein Schmetterling, wünscht sich | |
größere Rücksicht beim Betreten des Staatsgebiets. Auch Asylanträge werden | |
gestellt. | |
Mit dem Schleimpilz will Georg Reinhardt, einer der Gründer der | |
Organismendemokratie, gleich eine ganze Art neu ins Staatsgebiet holen. | |
Laut Asylverfassung dürften eigentlich nur solche Organismen neu eingeführt | |
werden, deren Spezies auf der Roten Liste gefährdeter Arten steht. Dass | |
aber ihre Art im Parlament vollständig fehle, sagt Reinhardt, würde die | |
Schleimpilze diskriminieren. Er plädiert für eine Ausnahme. | |
Unbeteiligte Zuschauer*innen sind nur wenige da. Doch darauf kommt es | |
der Gruppe nicht an. „Das Publikum macht die Performance selbst“, sagt | |
Franziska Matthis. Sie beschreibt die Parlamentarier*innen | |
gleichzeitig als Schauspieler*innen und Beobachter*innen. Die | |
Teilnehmenden lassen sich auf den Versuch ein, andere Organismen aus sich | |
heraus zu betrachten – und nicht nur durch die Augen des Menschen. | |
## Ideen für den Umgang mit anderen Lebewesen | |
„Es ist die Frage, ob wir das überhaupt können. Aber es ist spannend, es zu | |
probieren“, sagt Robert Rädel alias „der Admiral“. Der Politologe bringt | |
häufig Fragen in die Debatte, die die Verfassung der Organismendemokratie | |
betreffen. Für ihn ist das Projekt „ein Inkubator für Ideen“, wie Menschen | |
mit anderen Lebewesen umgehen und zusammenleben können – und sich ihrer | |
besonderen Verantwortung für den Planeten bewusst zu werden. | |
Während der Sitzung werden die Anwesenden selbst zum Teil des | |
Organismenwirrwarrs. Ameisen krabbeln in Ärmel, Raubfliegen landen auf | |
T-Shirts. Ein Ölkäfer gräbt sich einen Weg durchs Gestrüpp. Peter | |
Spillmann, Vertreter der Roten Taubnessel, stellt eine Grundsatzfrage: Ist | |
es überhaupt zielführend, einzelne Spezies zu vertreten? Ist das nicht eine | |
sehr menschliche Sichtweise, die künstlich Konflikte heraufbeschwört? | |
Unser Verständnis von Individualismus lasse sich auf die Organismenwelt | |
nicht eins zu eins übertragen. Schließlich funktioniere diese anders: „als | |
fließende Übergänge, symbiotische Organismenhaufen und Kooperationen“. Wä… | |
es nicht also angebrachter, Sphären statt Individuen zu vertreten: das | |
Reich des Bodens etwa? Um solche Fragen zu besprechen, gründet sich spontan | |
eine Denkwerkstatt. Wie lässt sich eine Welt, in der alles mit allem | |
verbunden ist, politisch vertreten? Im Wedding werden Ideen geschmiedet. | |
*Offenlegung: David Schmidt vertrat die Stadttaube vor dem Parlament. | |
30 Jun 2022 | |
## LINKS | |
[1] https://organismendemokratie.org/ | |
[2] /Bewegung-fuer-die-Rechte-der-Natur/!5830628 | |
## AUTOREN | |
Inga Dreyer | |
David Schmidt | |
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