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# taz.de -- Dialog zwischen Kunst und Natur: Bohnenranke in die Unendlichkeit
> Wie verwoben sind Kunst und Natur? Dem geht Reto Pulfer mit
> raumgreifenden Skulpturen nach, die im Kunsthaus Potsdam zu sehen sind.
Bild: Detail aus Reto Pulfer, „mm zu r wird glückstor“, 2022, Buntstift au…
Der Schweizer Künstler Reto Pulfer hat in den letzten Jahren große Hallen
bespielt, zum Beispiel auf der [1][Liverpool Biennal] oder im [2][Genfer
Centre d’Art Contemporain.] Er füllt sie mit Sound, Skulpturen,
Performances und, allem voran, mit Textilkunst. Aufgespannte Tücher in
spritzig-lebendigen Farben bilden Segel, Höhlen und Gänge, in denen die
Besucherinnen wandeln oder verweilen.
Nun hat der Wahluckermarker das [3][Kunsthaus Potsdam] einem
„Blitzzzustand“ unterzogen – so der Titel der aktuellen Ausstellung. Im
Gegensatz zu früheren Locations muss das Kunsthaus eine Herausforderung
gewesen sein. Die [4][Galerie befindet sich in einem idyllischen,
postindustriellen Hinterhof] und ist hell und einladend. Aber die
Ausstellungsräume sind nicht nur klein, sondern auch maisonetteartig
verwinkelt. Pulfer geht in die Offensive und drapiert ein Tor aus buntem
Patchwork-Stoff direkt hinterm Eingang, sodass das Eintreten unwillkürlich
zu einem bewussten Akt wird und der Raum zu einem Erfahrungsort.
Es duftet hier intensiv nach frischem Heu. In transparenten Netzen liegen
die Ballen auf dem Boden oder hängen von der Decke. Geräusche und eine Art
schamanischer Gesang erfüllen den Raum. Als würden diese Sinneseindrücke
den Geist schärfen und gleichzeitig entschleunigen, beginnt eine behutsame
Entdeckungsreise.
## Detaillierte Beobachtung
Die Ausstellung funktioniert auf mehreren Ebenen. Während die expressive
Textilkunst den ersten Eindruck dominiert, laden Zeichnungen auf Holz und
feine Webereien zu detaillierteren Beobachtungen ein. Stiefmütterchen,
Regenwürmer und Kraniche bildet Pulfer mit intuitivem Sinn für Anatomie ab,
belässt sie jedoch so simpel und konturhaft, dass ihre Grundlinien stärker
hervortreten und so eine in ihrer Natur bereits angelegte
Ornamenthaftigkeit zur Geltung kommt.
Diese Linien rotiert und spiegelt Pulfer, sodass Muster entstehen. Einige
wirken wie Entwürfe aus dem Grafikstudium, andere wie jahrhundertealte
Folklore.
An einer Wand lehnen Bohnenstangen, an denen alte, verholzte Ranken als
Helix emporklettern. Um eine von ihnen hat Pulfer einen weiteren Streifen
gebunden, der mit einem blauen Wellenmuster bestickt ist. Durch diese
einfache Inszenierung wird ein Phänomen aus dem Bereich der Natur und der
Landwirtschaft plötzlich zu einer Kunstform, die ein so abstraktes Konzept
wie die Unendlichkeit momenthaft greifbar macht.
Wo eben noch die Sinne erkundeten, öffnen sich nun philosophische Fragen:
Macht es überhaupt Sinn, [5][zwischen Kunst und Natur zu unterscheiden,
wenn doch beides so schön ist und zum Nachdenken anregt?] Anstatt in eine
naive oder esoterische Richtung zu verfallen oder zu behaupten, es sei
alles gleich, spielt Reto Pulfer kritisch mit den Grenzen.
Die Materialien spiegeln keinen verklärten Blick auf die Natur, sondern
einen mitunter materialistischen Diskurs. Das meiste ist gefunden oder
recycelt, Industriefilz und Heuballen treten in direkten Austausch mit
solchen Objekten, die gemeinhin als Kunst erkennbar sind, und solchen, die
als pure Natur gelten.
## Gleichgewichte zu finden
Poetische, theoretische und humoreske Texte deuten wiederum auf eine
unüberbrückbare Trennung zwischen uns und anderen Lebewesen hin. Auf einem
Tuchgemälde unterhalten sich einzelne Blätter aus einer Ornamentkette über
Sprechblasen. Ein lächelndes und umgedrehtes Blatt sagt: „Upside down
doesn’t matter to me.“ Das Nachbarblatt macht ein trauriges Gesicht und
entgegnet schlicht: „Fuck you.“
Pulfers Figuren und Narrative sind unprätentiös und behandeln die ihn
umgebenden „Lebedinge“ – wie es in seinem psychedelisch angehauchten
Naturroman „Gina“ heißt – mit einer Mischung aus Demut und Witz. Er sche…
darauf bedacht, Gleichgewichte zu finden und dem Publikum etwas mitzugeben,
was nicht nur die Ausstellungsräume betrifft, sondern auch die Wahrnehmung
der alltäglichen Umwelt.
Es geht um einen Dialog, der trotz unüberbrückbarer Grenzen permanent
zwischen uns und der scheinbar außerhalb liegenden Natur stattfinden kann
und sollte. In diesem Sinne kann Pulfers Kunst als kritische
Anthropozänkunst gelten und ein Besuch seines „Blitzzzustandes“ wird
unbedingt empfohlen.
8 Aug 2022
## LINKS
[1] https://www.biennial.com/2021/exhibition/artists/reto-pulfer
[2] https://centre.ch/en/exhibitions/reto-pulfer-dehydrierte-landschaft/
[3] https://www.kvkhpotsdam.de/
[4] /Gruppenausstellung-in-Potsdam/!5594858
[5] /Archiv-Suche/!5658810&s=Tom+Mustroph+Kolbe+Museum&SuchRahmen=Print/
## AUTOREN
Zora Schiffer
## TAGS
Ausstellung
Skulptur
Natur
Umwelt
Interview
Geige
Performance
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