# taz.de -- Gartengestalter über Bezüge zur Natur: „Durch Beobachtung verst… | |
> Für den Landschaftsgestalter Gilles Clément ist jeder Garten eine Schule. | |
> Ausgehend von diesen philosophiert er über Klimawandel, Ökonomie und | |
> Widerstand. | |
Bild: Der teils von Clément gestaltete Parc André Citroën entstand 1992 auf … | |
taz: Herr Clément, benutzen Sie Antimoskitospray? | |
Gilles Clément: Nein, niemals. Hier, in diesem Teil Frankreichs, im | |
Département Creuse, wo ich meinen Garten habe und von Frühling bis Herbst | |
wohne, gibt es wenig Mücken. Zudem haben sich in einem kleinen Wasserbassin | |
vor meinem Haus Libellenlarven angesiedelt, die insbesondere Mückenlarven | |
essen. Meine Antimückenmittel sind also Larven. Das ist das Tolle an | |
Diversität: ein beständiger Ausgleich. | |
Sie leben nicht nur mit einem Garten, sondern Sie leben nach seinen | |
Gesetzen. Auch Ihr Haus soll offen für Pflanzen, Tiere und Menschen sein. | |
Wie kultivieren Sie diese Offenheit? | |
Ich habe es schon im Kindesalter als Wunder empfunden, dass Raupen zu | |
Schmetterlingen werden können. Diese eigentlich unvorstellbare Metamorphose | |
war der Antrieb, mich für das fantastische Potenzial anderer Lebensarten | |
als der des Menschen zu faszinieren. Durch Beobachtung habe ich gelernt, | |
dass sich ein Ökosystem mit großer Diversität gut selbst reguliert. Das | |
bringt mich dazu, nach dem Prinzip der Offenheit und nicht nach dem des | |
Ausschlusses zu leben. Daher habe ich mich auch von allen Pestiziden oder | |
Gegenmitteln befreit, die nur dafür gemacht wurden, eine Art zu töten. | |
Letztlich töten sie. Zudem deregulieren sie das System. | |
Sie haben Ihr ganzes Leben lang Gärten kreiert. Eine Ihrer | |
Grundüberzeugungen ist, dass ein Garten – und auch die Erde als Ganze | |
bezeichnen Sie als einen solchen, als planetarischen Garten – in Bewegung | |
ist und keine Grenzen akzeptiert. Wie also definieren Sie einen Raum? | |
Es gibt keine biologischen Grenzen, mit einer Ausnahme: den klimatischen | |
Grenzen. Für den Wind, die Vögel und alle anderen Tiere, die Samen von hier | |
nach dort transportieren, existieren administrative Grenzen und Eigentum | |
nicht. Was es dagegen gibt, ist eine gewisse Mission eines Gebiets, die | |
Arten, die sich darin ansiedeln, zu versorgen. Diese Mission ist immer auch | |
mit einem Wandel verbunden, ansonsten könnte das Terrain sich nicht | |
erhalten. In Bezug auf den Klimawandel heißt das zum Beispiel: Das Leben | |
eines Territoriums versucht sich anzupassen. Es kann sich nicht wie zuvor | |
erhalten und auch nicht künstlich erhalten werden. | |
Die Rolle des Gärtners, so schreiben Sie in einem Ihrer Bücher, sei die | |
eines „Grenzenkünstlers“. Er sorge dafür, dass die geschaffene Form sowohl | |
den Sinn des Projekts als auch den Respekt vor dem Leben enthalte. Wie | |
gestaltet sich diese Grenzkunst? | |
Das Wort Garten geht auf zwei Ursprünge zurück: Paradies und Gehege. Das | |
Gehege wurde von den ersten sesshaft gewordenen Nomaden geschaffen. Statt | |
die Früchte am Wegrand während ihrer Wanderungen zu sammeln, haben sie das | |
Beste aus ihrem Erfahrungsschatz ausgewählt, um es an einem geschützten | |
Platz zu züchten. Die Grenze hat also eine Schutzfunktion, um etwas | |
Kostbares zu bewahren. Was jedoch nur funktioniert, solange andere | |
Lebensweisen nicht darunter leiden. Die Kunst besteht letztlich darin, das, | |
was kultiviert wird, nicht auf Kosten anderer zu kultivieren. | |
Sie sagen, man müsse im Garten anfangen, um einer Dynamik zu entkommen, mit | |
der ein „McDonald’s-Teil der Erdoberfläche“ viele Gesellschaften mit sich | |
reiße. Durch Beobachten sei ein anderes Zusammenleben zu erlernen. Braucht | |
es dafür einen eigenen Garten? | |
Generell ist die Beobachtung des Lebendigen schwierig, weil sie in den | |
Schulen und Universitäten kaum gelehrt wird. Wenn man in die Natur geht, | |
dann geschieht dies, um Sport zu treiben, um Fotos zu machen, Partys von | |
mir aus. Die Natur ist ein Ort geworden, wo Erwachsene sich aufführen wie | |
Kinder. All das hat nichts mit einem Sinn für das Lebendige zu tun. | |
Ein Garten verpflichtet einen zu begreifen, was darin passiert. Auch wenn | |
man keine wissenschaftliche Bildung hat, kann man durch Beobachtung Stück | |
für Stück lernen und verstehen. Leider kann nicht jede Person einen eigenen | |
Garten als Beobachtungsgrundlage haben. Aber es gibt [1][zum Glück immer | |
mehr Gemeinschaftsgärten] und es wäre auch möglich, das Konzept von | |
öffentlicher Parks in diese Richtung zu entwickeln. | |
Nicht zuletzt das Coronavirus hat unseren Bezug zur Natur verändert. Als | |
scheinbar sicherer Rückzugsort, aber auch als Ort zukünftigen Lebens. Wie | |
nehmen Sie diese Tendenz wahr? | |
Rauszugehen in die Natur, um dem Virus zu entkommen, ist natürlich eine | |
Illusion. Als gäbe es Reservate, in die ein Virus nicht eindringen kann. Es | |
ist überall. Wir leben, auch wenn wir keine Fische sind, im Wasser und vom | |
Wasser. Die Atmosphäre ist nichts als Wasser. Wir sind darüber beständig im | |
Kontakt mit Mikroorganismen. Mehr als das: Wir nehmen auch beständig | |
Mikroplastik zu uns, ohne uns dessen bewusst zu sein. | |
Ich sehe jedoch einen Sinn in der Bewegung aus den Städten hinaus aufs | |
Land. Diese Bewegung wertet aufgegebene Regionen wieder auf und eröffnet | |
Möglichkeiten. Das Départment Creuse, in dem ich lebe, ist beispielsweise | |
sehr dünn besiedelt. In den letzten drei Jahren sind aber wieder Menschen | |
hinzugezogen. Plötzlich sind sie mit Grünflächen vor den Häusern | |
konfrontiert und fangen an zu lernen, was eine Pflanze ist, welche | |
Schmetterlinge und Vögel es gibt. Sie lernen etwas Konstruktives über das | |
Leben. | |
Noch wichtiger ist, dass es junge Menschen gibt, die aus den Universitäten | |
kommen und sagen: „Wir wollen nicht so leben, wie es uns beigebracht wurde, | |
wir wollen anders leben.“ Sie haben die ernsthaften Probleme, die wir | |
unserem Planeten bereiten, erkannt. Wir wissen noch nicht, wie es ihnen | |
gelingen wird, etwas zu ändern. Aber ich bin sicher, dass wir von ihnen | |
lernen können. | |
Für die Zukunft der Erde schlagen Sie vor, dass auch der Ökonom nach den | |
Prinzipien des Gärtnerns arbeiten solle. Das heißt, nach Ihrem Motto „So | |
viel möglich dafür, so wenig wie möglich dagegen tun“? | |
Ein Ökonom wäre jemand, der uns beibringt, so wenig wie möglich zu | |
konsumieren, um so wenig wie möglich Ressourcen erschöpfen zu müssen und | |
sie so viel möglich zu erhalten. | |
Das ginge mit einer größeren ökonomischen Unabhängigkeit einher? | |
Für eine Ökonomie der Unabhängigkeit könnten wir uns von einem Sprichwort | |
leiten lassen: „Lege nicht alle Eier in denselben Korb.“ Denn züchtet man | |
nur Hühner und legt deren Eier in denselben Korb, dann hat man nichts mehr, | |
fällt dieser um. Wer nicht nur auf Hühner setzt, muss sich diese Sorgen | |
nicht machen. Dieses Gesetz gilt nicht nur für die Agrikultur, sondern auch | |
für die Erde. Die Monokultur, die einseitige, industrielle Ausnutzung des | |
Bodens, ist das Gefährlichste, was wir ihr antun können. Die Monokultur | |
zerstört beides: den planetarischen Garten und die Wirtschaft. | |
Das Beispiel der [2][Weizenproduktion in der Ukraine] ist doch unglaublich. | |
Was ist mit uns passiert, dass wir einen Krieg in Europa brauchen, der eine | |
Hungersnot in anderen Ländern der Welt auslöst, weil ein großer Teil des | |
weltweiten Grundnahrungsmittelbedarfs in einem einzigen Teil der Erde | |
produziert wird? Der Korb fällt um, und wo führt das hin? Wie kann die | |
Menschheit zu solch einer Dummheit fähig sein? | |
Als Nicolas Sarkozy an die Macht kam, hatten Sie die Zusammenarbeit mit | |
staatlichen Repräsentant:innen bis auf Weiteres aufgekündigt. Kann der | |
zeitgenössische Garten ein Ort des Widerstands sein? | |
Ja, ein Garten, in dem ich die Entfaltung des Lebens beobachte und davon | |
lerne, kann für mich ein Ort des Widerstands sein, selbst wenn ich das | |
nicht intendiert hatte. Ein Ort auch, sich dem Markt eines falsch | |
verstandenen Wachstums zu entziehen. Wenn der Garten ein Ort ist, an dem | |
ich das Leben erhalte, dann wird er eine Möglichkeit des Widerstands. | |
21 Jul 2022 | |
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## AUTOREN | |
Astrid Kaminski | |
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