# taz.de -- Solidarität mit der Natur: Wie Mutter Erde überleben kann | |
> Wie können wir uns mit der Natur solidarisieren? Antworten geben ein | |
> Indigener, ein Forstamtsmitarbeiter und ein Primatenforscher. | |
Bild: Schaffen es die Menschen, sich wenigstens mit Tieren zu solidarisieren? | |
Dieser Text ist Teil einer freundlichen Übernahme. Die [1][taz | |
Genossenschaft] wird in diesem Jahr 30 Jahre alt. Zum Feiern haben 18 | |
unserer über 22.200 Eigentümer*innen eine eigene taz gemacht. Die | |
ganzen 16 Seiten gibt es am 2./3. Juli am Kiosk oder [2][hier]. | |
Vier Tage lang hatte ich meine Rede perfektioniert und eingeübt. Nun war es | |
so weit. An einem Donnerstagabend im Mai stand ich vor den fünf | |
Mitgliedern des Planungsausschusses von Montgomery County im | |
US-Bundesstaat Maryland. Auf der Agenda stand die öffentliche Anhörung zur | |
Neugestaltung des örtlichen Regionalparks. Wie in einem Gerichtssaal | |
trennte eine Balustrade Besucher:innen von den Ausschussmitgliedern. Es | |
war nervenaufreibend. | |
Ich war nicht die Einzige, die über sich hinauswuchs. Mit mir sagten noch | |
zwei Dutzend weitere Bürger:innen aus. Ohne uns zu kennen, hatten wir | |
alle spontan beschlossen, unsere Argumente vorzutragen. Dabei kämpften wir | |
nicht für den Erhalt unseres Zuhauses, einer Schule oder eines | |
Jugendzentrums, sondern wir stritten für einen Reitstall, ein Heim von 34 | |
Pferden, der seit 60 Jahren Anziehungspunkt für groß und klein ist. Er | |
drohte, einem Sportplatz weichen zu müssen. Mit fester Stimme schleuderte | |
ich den Ausschussmitgliedern entgegen: „Wir haben ein wahres Juwel mitten | |
in einer Metropole. Zerstört es doch nicht! Seid kreativ, um diesen Schatz | |
zu erhalten!“ | |
Viele weitere Bürger:innen hatten E-Mails geschrieben und protestiert. | |
Unser Engagement machte mich nachdenklich: Wieso hatten so viele Menschen | |
spontan die Zeit und Kraft, sich für einen Reitstall und 34 Pferde | |
einzusetzen, während wir gleichzeitig mit der Klimakrise kämpfen? | |
In meiner Nachbarschaft, einem bürgerlichen Viertel mit niedrig gebauten, | |
u-förmigen Wohnkomplexen und Grünflächen in den Innenhöfen, lässt sich | |
unser destruktives Verhalten beobachten: Menschen fahren mit Autos vor, | |
steigen aus und ein oder bleiben sitzen, ihre Köpfe über das Handy gebeugt. | |
Und: Die Motoren summen im Leerlauf und verpesten unbedacht die Luft. | |
Manchmal ein paar Minuten, manchmal über eine halbe Stunde. | |
## Soli mit Mehlschwalben | |
Ist diese selektive Solidarität ein spezifisch US-amerikanisches Beispiel? | |
Mitnichten. In Meßkirch zum Beispiel, einer Kleinstadt im Südwesten | |
Deutschlands, solidarisierten sich Menschen mit Mehlschwalben und | |
beschenkten die bedrohte Vogelart mit einem Mehlschwalbenhaus – während | |
gleichzeitig das Tempolimit auf deutschen Autobahnen boykottiert wird. | |
Für eine Erklärung dieses Phänomens wende ich mich an jene, die sich | |
wissenschaftlich mit dem Thema beschäftigen, und jene, die kulturell und | |
beruflich eine innige Verbindung zur Natur pflegen. | |
Solidarität definieren Barbara Prainsack und Alena Buyx in ihrem Buch | |
„Solidarity in Biomedicine and Beyond“ als den unbedingten Einsatz für | |
diejenigen, mit denen sich die Helfenden identifizieren und zugehörig | |
fühlen, selbst wenn sie für ihren Einsatz finanzielle, soziale oder | |
emotionale Kosten auf sich nehmen müssen. Für die Solidarität mit der Natur | |
gibt es den Begriff der ökologischen Solidarität, der sich unter anderem | |
als die Akzeptanz des Menschen definiert, sich als integralen Teil des | |
Ökosystems zu verstehen. | |
Haben sich indigene Völker nicht schon immer mit der Natur solidarisiert? | |
Ich treffe ein Mitglied der Navajo Nation in einem mexikanischen | |
Restaurant. Er möchte nur Tom genannt werden, ist Anfang 40, trägt schwarze | |
kurze Haare, Jeans und ein T-Shirt mit dem Aufdruck eines lokalen | |
Fitnessstudios. Er hat ein warmes Lächeln. | |
Tom ist im Reservat im nordöstlichen Arizona aufgewachsen. Seine Vorfahren | |
hätten sich in der Tat als Teil der Natur empfunden. Für sie seien Mond, | |
Erde und Himmel nicht einfach nur Planeten und Luftraum über der Erde | |
gewesen, sondern Familienmitglieder. „Der Mond war ihr Bruder, ihre Mutter | |
die Erde, der Himmel ihr Vater. Sie wussten, dass es ohne die Natur kein | |
Überleben für sie gab.“ | |
1868 wurden die [3][Navajo] ins Reservat abgeschoben, das Teile der | |
US-Bundesstaaten Utah, Arizona und New Mexico umfasst. Danach hätten sie | |
ihre Traditionen nicht mehr leben können und sich immer mehr von ihrer | |
Familie Natur entfernt. Sie konnten sich nicht mehr in und mit der Natur | |
ernähren, sondern mussten in Handelsstationen der Weißen einkaufen. | |
Heute ist Tom froh, im Reservat aufgewachsen zu sein, trotz einer Kindheit | |
in Armut und vielen Entbehrungen. Dort habe er gelernt, aus wenigem das | |
Beste zu machen. Mit 17 Jahren verließ er das Reservat, um zu studieren. | |
Seine Familie feiert noch immer die traditionellen Feste zu Ehren von | |
Mutter Erde, Vater Himmel und Bruder Mond. Das Gefühl, Teil der Natur zu | |
sein, sei sofort wieder präsent, sobald er nach Hause zu seiner Familie | |
komme – auch wenn er sich sicher sei, dass es mit dem Naturgefühl seiner | |
Vorfahren nicht vergleichbar ist. | |
Für die Zukunft ist Tom optimistisch: Schon heute verbinde sich die Navajo | |
Nation wieder stärker mit der Natur. Junge Navajo, die an den Universitäten | |
gut ausgebildet wurden, kämen zurück, um im Reservat eine Zukunft für sich | |
aufzubauen. Sie etablierten umweltfreundliche Bewässerungs- und erneuerbare | |
Energiesystem. | |
Auch innerhalb der nicht indigenen Gesellschaft gibt es Menschen, die in | |
und mit der Natur arbeiten. Vor Kurzem durfte ich Mike kennenlernen. Er ist | |
ein 67-jähriger kräftiger Mann, der lange als sogenannter „Maultier-Packer�… | |
für den National Forest Service, das nationale Forstamt, gearbeitet hat. | |
Mit seinen Maultieren, die Gepäck trugen, erreichte er Orte in der Wildnis | |
von Wyoming, die anders nicht zugänglich wären. | |
Manchmal begleitet er auch Touristen auf Ausflüge. Er arbeitete bei der | |
Feuerwehr und half bei der Aufforstung nach Waldbränden. Obwohl Mike hart | |
sein Leben lang in der Natur gearbeitet hat, ist ihm die Debatte über den | |
Klimawandel suspekt. Sicherlich würde dieser viele Regionen hart treffen, | |
andere Regionen würden dafür aber profitieren. | |
Die Waldbrände im Westen der USA sieht Mike beispielsweise eher gelassen. | |
Nahe seiner Heimatstadt in Wyoming habe es seit 1917 viermal gebrannt, das | |
letzte Mal 2017. Er sagt, viele Ökosysteme seien auf die neuen Bedingungen | |
nach Bränden und Überflutungen angewiesen, um sich zu erneuern und zu | |
überleben. Natürliche Brände sollten aus seiner Sicht daher gar nicht | |
gelöscht werden. Er wünscht sich, kontrollierte Brände würden denen | |
nachgeahmt, wie sie die amerikanischen Indigenen kultiviert haben: | |
regelmäßig, in Mosaikform, damit sie klein und kontrollierbar bleiben. | |
Richtig findet er, Äcker nicht mehr zu pflügen, um Bodenerosion zu | |
verhindern. Gesunde Böden und Pflanzen seien das A und O. | |
Doch wie können wir alle gemeinsam daran arbeiten, unsere Lebensgrundlage | |
zu erhalten? Der Wissenschaftler Frans deWaal meint dazu: Menschen sollten | |
sich vom Verständnis lösen, als Herrscher nach Gutdünken über die Natur | |
verfügen zu können. Denn eine Voraussetzung für gelungene Solidarität ist | |
Empathie, die Fähigkeit, den Gefühlszustand eines Gegenübers zu verstehen | |
und zu teilen. DeWaal hat sich der Erforschung dieses Themas gewidmet. Ich | |
spreche am Telefon mit dem Biologen und Primatenforscher, der an der Emory | |
University im US-Bundesstaat Georgia lehrt. Er ist sich sicher: Nur wenn | |
sich Menschen als Teil der Natur begreifen und sich mit ihr solidarisieren, | |
besteht die Chance, die Erderwärmung langfristig zu verlangsamen. | |
DeWaal und seine Kolleg:innen studieren das Verhalten von den nächsten | |
Verwandten des Menschen: Bonobos und Schimpansen. Wer einmal gebannt einem | |
Vortrag von deWaal gelauscht oder eines seiner Bücher gelesen hat, wird | |
zugeben müssen, sich im Verhalten von Bonobos und Schimpansen | |
wiederzufinden. Er und andere Verhaltensforscher:innen haben | |
herausgefunden, dass viele Tiere genau wie Menschen Empathie empfinden und | |
empathisch handeln – nicht nur Säugetiere, sondern auch Vögel. | |
Sollte deWaal recht behalten und die Menschen überleben, indem sie sich als | |
Tiere und Teil der Natur wahrnehmen, so ist die nicht indigene | |
Mehrheitsgesellschaft von dieser Wahrnehmung heute weiter entfernt als die | |
Indigenen. Das zeigt ein Besuch auf der Homepage des Navajo Nation | |
Umweltamtes. Da heißt es: Seine Mission sei der Schutz von Mutter Erde und | |
Vater Himmel und allem Lebenden. Seine Vision die Wiederherstellung von | |
Harmonie und einer nachhaltigen Umwelt für alles Lebende. Im Vergleich dazu | |
liest sich die Webseite des deutschen Umweltbundesamtes dagegen eher | |
trocken. Das Amt begrüßt seine Besucher auf der Homepage mit dem Satz: | |
„Mehrwertsteuer ökologisch und sozial gestalten“. | |
3 Jul 2022 | |
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## AUTOREN | |
Claudia Gebert | |
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