| # taz.de -- Bäume in der Literatur: „Die Signale der Bäume lesen“ | |
| > Wie kann man Beziehungen zwischen Bäumen und Menschen denken? Ein | |
| > Gespräch mit Solvejg Nitzke, Literaturwissenschaftlerin, über Bäume in | |
| > Romanen. | |
| Bild: Eine alte Eiche auf einer Wiese in Hessen | |
| Bäume gehören zum Diskurs über die Rettung vor der Ökokatastrophe. Sie sind | |
| zum Symbol für Lebensqualität und Zukunftsverantwortung geworden. Und sie | |
| erobern sich immer mehr einen Platz in der Literatur. Darüber hat die taz | |
| geredet mit der Baumforscherin Solvejg Nitzke. Ein Gespräch über Wurzeln, | |
| über Menschen, die Bäume werden und die Frage nach den Rechten der Natur. | |
| taz: Frau Nitzke, Sie sind literarische Baumforscherin. Treten Sie als | |
| Literaturwissenschaftlerin jetzt in die Fußspuren des Autors Richard Powers | |
| und wollen den Wald retten? | |
| Solvejg Nitzke: Das würde ich gerne tun. Aber meine Aufgabe ist es erst | |
| einmal, die Dinge noch komplizierter zu machen, als sie sind. In der | |
| Literatur ist noch viel zu tun, was ein komplexes Mensch-Baum-Verhältnis | |
| angeht. Richard Powers ist insofern ein gutes Beispiel, da er mit „Die | |
| Wurzeln der Welt“ eine tolle Vorlage dafür entwickelt hat, wie viele | |
| unterschiedliche Beziehungsweisen es zwischen Menschen und Bäumen geben | |
| kann: familiäre Beziehungen, Liebesbeziehungen, aber zum Beispiel auch | |
| Nutzungsbeziehungen, die jedoch nicht ausnutzend oder schadend organisiert | |
| sind. | |
| Im aktuellen Klimadiskurs werden Bäume oft als Ökodienstleister behandelt. | |
| Wir müssen sie schützen, damit es uns besser geht. | |
| Sie als Dienstleister für Menschen zu sehen, ist ja schon allein darum | |
| krumm, weil es sie lange vor uns gab und auch lange bevor uns bewusst | |
| wurde, welche verschiedenen Arten von Nutzen sie für uns haben. Wenn man | |
| bedenkt, was die philosophischen und kulturhistorischen Bedingungen dessen, | |
| was wir Welt nennen, sind, dann bedeutet es schon eine ziemlich große | |
| Verschiebung, zu begreifen, dass es ja die Pflanzen sind, die unsere Welt | |
| herstellen und dass wir Teil der Pflanzenwelt sind und nicht umgekehrt. | |
| Forscher:innen, die eine nicht-anthropozentrische Sichtweise einnehmen | |
| wollen, müssen sich immer wieder die Frage anhören: Geht das überhaupt? | |
| Es gibt darauf zwei Antworten: Erstens geht es nicht. Daher werden | |
| Versuche, abzurücken von einer anthropozentrischen Weltsicht, wie sie der | |
| new materialism oder die object orientated ontology unternehmen, oft mit | |
| dem Vorwurf konfrontiert, dass man – sobald man sich in der Sprache | |
| befindet – doch ohnehin alles in menschliche Konzepte stecken muss. | |
| Zweitens? | |
| Für die Philosophie mag das „Spekulieren“ ein Codewort sein, für mich als | |
| Literaturwissenschaftlerin sind es „Erzählen“ und „Fingieren“. Literat… | |
| kann in einem fiktionalen Text von ganz anderen Wirklichkeiten ausgehen, | |
| ohne dass sie diese gleich „verantworten“ oder „erklären“ muss. Wenn in | |
| einem literarischen, fiktionalen Text ein Baum spricht, dann spricht er! | |
| Und es ist erst einmal überhaupt nicht wichtig, ob das in Wirklichkeit | |
| geht. Es muss innerhalb des Textes plausibel sein. Von daher: Kann man eine | |
| rein nicht-menschliche Perspektive einnehmen? Nein. Aber: Man kann es | |
| versuchen und diesen Versuch beobachten. | |
| Ist das Richard Powers in seinem Roman „Die Wurzeln der Welt“ gelungen? | |
| Durchaus. Bäume sprechen hier, aber nicht mit Menschenstimmen, sondern | |
| indem sie Menschen beibringen, die Signale, die Bäume aussenden, zu lesen. | |
| Außerdem geht es – worauf der Originaltitel des Romans, „Overstory“, | |
| verweist – darum, den Menschen zu zeigen, wie sie wieder an einer großen | |
| Geschichte des Lebens teilnehmen können, anstatt sich selbst und ihre | |
| Umgebung auf die jeweilige Arbeitskraft zu reduzieren. Bäume werden im | |
| Roman weit differenzierter beschrieben als Menschen, was man dann aus | |
| anderer Perspektive auch kritisieren könnte. Aber erst einmal ist es gut, | |
| das Verhältnis umzudrehen. | |
| Interessant ist, dass es aktuell mehr und mehr Literatur gibt, in der | |
| Menschen richtiggehend Bäume werden wollen. | |
| Zum Beispiel in dem Buch „Wie ich ein Baum wurde“ von Sumana Roy. Dadurch | |
| entstehen Gedankenexperimente, die, wenn man sich an rein | |
| naturwissenschaftliche Bedingungen hielte, gar nicht möglich wären. Eine | |
| Vorstufe davon sind die Beschreibungen, wie Baumbeobachtungen funktionieren | |
| [1][von Robert MacFarlane] oder auch Annie Dillard, die zeigen, wie sehr | |
| man von seinen eigenen menschlichen Bewegungsgewohnheiten absehen muss, um | |
| verstehen oder erst einmal sehen zu können, was passiert. | |
| Ich denke unter anderen auch noch an „Die Vegetarierin“ von Han Kang. Sehen | |
| Sie in den Baum-Metamorphosen in erster Linie den Wunsch nach einer | |
| interspezifischen Kommunikation? | |
| Interessanterweise ist es bei Sumana Roy oder Han Kang im Gegenteil eher | |
| der Wunsch nach Nicht-Kommunikation, allerdings in Bezug auf die Menschen. | |
| Bei Roy kann eine in Bengalen lebende Frau ab einer bestimmten Zeit das | |
| Haus nicht mehr verlassen. Sie will unter anderem zum Baum werden, weil | |
| Bäume keine BHs tragen müssen und sich nicht an Ausgangssperren halten. In | |
| „Die Vegetarierin“ hört die Protagonistin, die sich im Buch kaum selbst | |
| äußern darf, einfach auf, Dinge zu tun, die sie menschlich machen, bis zu | |
| dem Punkt, an dem sie per Kopfstand im Wald steht und sich beregnen lässt, | |
| um Baum zu werden. Beide Geschichten lassen sich einerseits als Arten von | |
| Verrücktwerden erzählen, aber auch als fundamentale Ablehnung dessen, was | |
| Frauen in den jeweiligen Gesellschaften zugemutet wird. | |
| Baumwerdung als Flucht? | |
| Dazu gibt es ein Vorbild: die Nymphe Daphne, die vor der Liebe Apolls | |
| flieht und sich aus Verzweiflung in einen Baum verwandelt, da es keine | |
| andere Möglichkeit gibt, ein freies Leben zu führen und sich der | |
| Vergewaltigung zu entziehen. Dennoch ist die Baumwerdung nicht nur eine | |
| Flucht. Sie ist eine Möglichkeit, Welt zu gestalten, selbstbestimmter Teil | |
| einer Umwelt zu werden auf eine Weise, die der Figur in der Realität nicht | |
| offen steht. | |
| Aber ohne Erfüllung? | |
| Nicht wie beim Mythos von Philemon und Baucis, für die es eine große | |
| Belohnung ist, zu Eiche und Linde zu werden, weil sie dann als Bäume noch | |
| 1000 Jahre zusammen bleiben können. Das war bei der Nymphe Daphne sicher | |
| nicht so. Sie wäre, glaube ich, sehr zufrieden gewesen, wenn sie weiter | |
| durch den Wald hätte streifen dürfen. Gemeinsam ist ihnen | |
| interessanterweise vielleicht dennoch etwas: der Wunsch, keine Angst mehr | |
| haben zu müssen. | |
| Haben Bäume keine Angst? Dass Pflanzen auf sensorischer und taktiler Ebene | |
| fühlen können, wissen wir ja inzwischen. Wie ist es mit der emotionalen? | |
| Wenn man sich die biologischen Äußerungen von Angst anschaut, wie sie bei | |
| Tieren und Menschen auftreten – [2][Jens Soentgen beschreibt das in | |
| „Ökologie der Angst“] zum Beispiel anschaulich – fällt natürlich auf, … | |
| Bäume da anders ticken. Dennoch reagieren auch Bäume auf Gefahr. Sie warnen | |
| sich zum Beispiel gegenseitig, wenn Fressfeinde kommen. Trotzdem würde ich | |
| bei Bäumen nicht von Angst sprechen, sondern vielleicht eher vom Begriff | |
| der Sorge, oder Vorsorge, davon, dass Bäume in Gemeinschaften leben, die | |
| sich umeinander kümmern und die wahrscheinlich ein ganz anderes Empfinden | |
| von Gegenwart haben. Jede ihrer Verhaltensweisen – wenn wir hier von | |
| „Verhalten“ sprechen können – ist auf die Zukunft ausgerichtet. Eine Eic… | |
| zum Beispiel kann erst mit 300 Jahren von uns als „erwachsen“ bezeichnet | |
| werden. | |
| Bei Jens Soentgen heißt es, Pflanzen seien zu langsam, um Angst zu haben. | |
| So einfach ist es, denke ich, nicht. Wenn jene Eiche zum Beispiel jedes | |
| Jahr den Energieaufwand betreibt, Tausende von Früchten zu produzieren, von | |
| denen im allerbesten Fall drei wieder einen neuen Baum hervorbringen, dann | |
| könnte man dahinter ja vielleicht auch eine sehr große Zukunftsangst sehen, | |
| die Angst, dass überhaupt etwas weitergeht. Dennoch würde ich dabei | |
| bleiben, eher von „Sorge“ zu sprechen – und wenn von Angst, dann nicht als | |
| eine emotionale und nicht als Angst vor dem eigenen Ende. Diese Angst ist | |
| etwas sehr Menschliches. Ein Baum stirbt nicht so schnell, wenn man ihn | |
| fällt. Er kann wieder austreiben, und das muss noch nicht einmal aus | |
| demselben Stamm sein. Er konfrontiert uns daher auch mit einer weiteren | |
| menschlichen Eigenschaft: dem ständigen Streben, mit sich identisch zu | |
| sein. | |
| Trotzdem sterben täglich unzählige Bäume. Brauchen wir nicht nur eine | |
| Literatur über Bäume, sondern auch Baumrechte? | |
| Dafür gibt es mehrere Ansätze. So hat die [3][Biologin Florianne Koechlin] | |
| eine Ethikkommission für Pflanzen in der Schweiz geleitet. Wobei sehr viel | |
| Häme über sie kam, weil es zum Beispiel dann auch um die Rechte des | |
| Löwenzahn ging. Gerade in dieser Beziehung kommen wir schnell an die | |
| Grenzen unserer Vorstellung. Da kann die Literatur noch vieles leisten, um | |
| uns Pflanzen näher zu bringen. Die typische menschliche Vorstellung ist zum | |
| Beispiel, dass der Wald nur das ist, was man über der Erde sieht. Man sieht | |
| also tatsächlich den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. Würde man das ganze | |
| System sehen, die Formen, die Zusammenhänge, die Farne, Flechten, Moose und | |
| Pilze, sowie vieles, was wir als Menschen immer noch nicht verstanden | |
| haben, würden wir begreifen, dass es keine Option ist, einen Wald wie den | |
| [4][Hambacher Forst] umzuhauen und dafür eine sogenannte Ausgleichsfläche | |
| zu pflanzen. Diese Art von Denken setzt Bäume als eine Art Arbeiter, | |
| CO2-Binder, ein und entfremdet sie, marxistisch gesprochen, von sich | |
| selbst. Es reduziert die Wesen auf die Produkte, die sie liefern. Wer Bäume | |
| schützen will, muss Boden und Baumpartner:innen mitbedenken. | |
| 5 May 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Astrid Kaminski | |
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