# taz.de -- Bildband „Planet Earth“: Überflug über das 21. Jahrhundert | |
> Daniela Comanis Bildband reinszeniert die visuellen Daten der Welt des so | |
> genannten Anthropozäns. Sie stammen von Apple- und Google-Apps. | |
Bild: Chicago, Los Angels und Brüssel in 3-D-Aufsicht | |
Der kleine dicke Band ist das Buch der Stunde. Vom Format her ein | |
Taschenbuch, mit 768 Seiten aber zu dick, um in einer Jackett- oder | |
Hosentasche zu verschwinden. Weil es aber so umfänglich ist, kommt man mit | |
ihm auch überallhin auf der Welt. Von Aachen über Ancona, Houston, | |
Melbourne, Prag bis Zagreb und schließlich Zürich. Genau 360 Orte auf dem | |
Globus kann der Leser oder die Leserin scheinbar überfliegen. | |
„Planet Earth: 21st Century“ nennt Daniela Comani ihr Kunstprojekt, das aus | |
360 SW-Postkarten und ebenso vielen Stadtansichten in dem bei Humboldt | |
Books in Mailand erschienenen Band besteht. Wahllos aufschlagend, umkreist | |
man aus nicht allzu großer Entfernung die zwei Geschlechtertürme der | |
Asinelli von 1119 und der Garisenda von 1110 in Bologna, um auf der | |
nächsten Seite auf die Messetürme hinabzublicken, die Kenzo Tange ebendort | |
zu Beginn der 1970er Jahre gebaut hat. Zwei Seiten später ist man in Bonn | |
und blickt auf das ehemalige Kanzleramt hinunter. | |
Diese wie all die anderen Bilder hat Daniela Comani bei Apple Maps Flyover | |
und Google Earth Virtual Reality gefunden. Die grundlegende Technik stammt | |
von Firma C3 Technologies und deren 3-D-Programm Flyover, welches | |
ursprünglich für die Rüstungsindustrie entwickelt worden war. Apple kaufte | |
die Firma 2011 auf. Seit 2016 übersetzt Google Earth VR Flugzeug- und | |
Satellitenbilder mittels Rendering-Programmen und GPS in 3-D-Grafikmodelle. | |
Beide Apps erlauben es nun ihren User*innen Städte und Gebäude aus der | |
Vogelperspektive in 3-D zu überblicken. | |
## Blick des Kampfpiloten | |
Die Sichtweise von oben auf die Landschaft hinab, auf Wälder, Flüsse, | |
Straßen, Städte und Gebäude ist kulturell als eine kriegerische codiert. | |
Denn die Luftbildfotografie als Mittel der Feindaufklärung, erstmals in den | |
Jahren 1914 bis 1918 im Großeinsatz, ging insofern siegreich aus dem Ersten | |
Weltkrieg hervor, als von da an der Blick von oben massenmediales | |
Allgemeingut war, sei’s als Postkarte oder als Illustriertenbild, wobei es | |
zunächst die Avantgarde war, die ihn liebte, den distanzierten Blick des | |
Kampfpiloten. Eine „Neue Höhenkunst“ beobachtete denn auch ein Aufsatz der | |
Photographischen Rundschau 1921. | |
In den 1960er Jahren war dann der Kampf zwischen New Yorks Stadtplaner | |
Robert Moses, der mehrere Autobahnschneisen durch Manhattan schlagen | |
wollte, und der Aktivistin zum Erhalt von Greenwich Village, der Stadt- und | |
Architekturkritikerin Jane Jacobs, auch ein Kampf zwischen der | |
Luftbildfotografie und der in New York damals blühenden Straßenfotografie. | |
Ihr Trumpf war das bunte Treiben und Getümmel der Stadtbewohner, die unter | |
Moses’ gottgleicher Perspektive verzwergten, während ihre Umwelt verflachte | |
und eingeebnet wurde. | |
Diese Verflachung ist der neuen Luftbildfotografie, wie sie Daniela Comani | |
zu einer 360-Grad-Rundumsicht kompiliert hat, nicht mehr eigen. Dank der | |
3-D-Technik meint man den Gebäuden, Straßen, Gärten und Parks näher zu | |
sein. Die Szenen, sie könnten geradezu lebendig erscheinen, wäre da nicht | |
der befremdliche Umstand, dass hier, obwohl das Material aus den Jahren | |
2015 bis 2019 stammt, die Straßen und Plätze so menschenleer gefegt sind, | |
als herrschte schon die Coronapandemie. | |
War Daniela Comanis Projekt „Ich war's. Tagebuch 1900–1999“ eine | |
idiosynkratische Rekapitulation geschichtlicher Ereignisse des 20. | |
Jahrhunderts, will Planet Earth, wie die Künstlerin sagt, die „visuellen | |
Daten der Welt in Zeiten des sogenannten Anthropozäns“ reinszenieren, wie | |
sie „aus der Interaktion zwischen der menschlichen Wahrnehmung des | |
Planeten, urbanen Landschaften und der Technologie des 21. Jahrhunderts | |
hervorgehen“. | |
7 Apr 2020 | |
## AUTOREN | |
Brigitte Werneburg | |
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