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# taz.de -- Ausstellung zum Baum in der Kunst: Die großen Alchemisten der Welt
> Die Ausstellung „Nous les arbres“ fordert Besucher mit Erkenntnissen über
> Bäume heraus. Sie ist gedankenreich und zugleich exzentrisch.
Bild: Fabrice Hyber: „Paysage de mesures“, 2019. Ölfarbe und Kohle auf Lei…
Diese Ausstellung sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht. Denn sie sind es,
die hier ihren Auftritt haben: „Nous les arbres“. Ganz bewusst räumen die
drei Kuratoren Bruce Albert, Hervé Chandès und Isabelle Gaudefroy der
Fondation Cartier in Paris ihrem Untersuchungsgegenstands im
Ausstellungstitel, und nicht nur dort, die Subjektposition ein. Und
natürlich steht am Beginn der Ausstellung ein prächtiger Baum mit vielen um
sich greifenden Luftwurzeln, Ficus microcarpa, den Luiz Zerbini, einer der
großen Protagonisten der zeitgenössischen brasilianischen Kunst, mitten in
den linken Galerieraum im Erdgeschoss gestellt hat.
Ihn umringt eine quadratische, kniehohe Vitrinenkonstruktion, eine Art
Herbarium voll mit Moosen, Muscheln und Pflanzenwerk, das aus dem
Botanischen Garten von Rio de Janeiro stammt, wo der Maler Samen, Blätter
und andere Dinge gesammelt hat. Acht großformatige Gemälde, die
Dschungelszenen mit modernistisch-abstrakten Rastern und urbanen
Arrangements von Topfpflanzen mischen, bilden dann einen zweiten Ring um
die Chinesische Feige. Und statt im siebenten Höllenkreis endet Zerbinis
bezwingend in Szene gesetzte Rauminstallation mit einem dritten Ring
großformatiger Monotypien, paradiesischen Porträts der Blätter von
Philodendren, Palmen, Schilfgräsern oder Farnen.
Auch der nächste Raum beeindruckt mit wandfüllenden bunten Zeichnungen, die
sinnvoll aber kaum zu dechiffrieren sind. In der Manier des
Notizbucheintrags hat der französische Künstler Fabrice Hyber sie mit
Anmerkungen, Skalen und verweisenden Pfeilen versehen. Die mathematische
Formel neben einem Baum, der bei ihm immer kahl ist und nur aus Stamm und
Ästen besteht, ergibt dann „Impossible – 100 pommes 1000 cerises“, wie d…
Titel des Bildes ironisch orakelt. Obwohl Hyber Wissenschaftlichkeit nur
simuliert, steht sein Raum paradigmatisch für die ganze Ausstellung.
Denn im Lauf des Rundgangs trifft man auf reichlich
wissenschaftlich-botanische Zeichnungen, maßstabbildende Arbeiten wie die
von Francis Hallé zu den Bäumen des Regenwalds oder die von Cesare Leonardi
und Franca Stagi zur „Architektur der Bäume“. Leonardis und Stagis über 20
Jahre hinweg erarbeitete Dokumentation von Bäumen war mit der Erstauflage
1982 gleich ein Standardwerk. Gerade wurden die nach strengen Parametern –
ähnlich Bernd und Hilla Bechers Typologien – geordneten Zeichnungen mit
ihren knappen poetischen Erläuterungen als opulenter Bildband wieder
aufgelegt. Die Mathematik des Baums ist dann im unbedingt lesenswerten
Ausstellungskatalog Thema, wo der Begründer der geometrischen
Gruppentheorie, der russische Mathematiker Michail Leonidowitsch Gromow,
sich über die Graphentheorie von Wäldern und Bäumen auslässt.
Die Art und Weise, wie bei „Nous les arbres“ Künstler und Botaniker,
Architekten, Mathematiker und Philosophen zusammenkommen, ermöglicht es den
Ausstellungsmachern, die Wahrnehmung ihres Publikums auf sehr komplexe
Weise anzuregen. Unbefangen fordern sie seine Neugierde mit neuesten
wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Leben (und Sterben) der Bäume heraus,
verbunden mit der Gefahr, seine Aufnahmefähigkeit auch mal zu überfordern.
Aber dieses Risiko pflegen Hervé Chandès, der Direktor der Fondation
Cartier, und seine Kuratoren. Es ist die Grundlage, auf der ihnen – man
muss es so sagen – gleich in Reihe grandiose Ausstellungen gelingen.
Ausstellungen von unverwechselbarem Charakter: Gelehrt und gedankenreich,
dabei gerne ein bisschen exzentrisch und auf intelligente Weise populär.
„Bäume“, so setzt die Ausstellung an, „zählen zu den ältesten Organism…
unseres Planeten – die bekannten Fossilien datieren 385 Millionen Jahre
zurück – und die Welt der Pflanzen macht 82,5 Prozent der terrestrischen
Biomasse aus. Die Menschen dagegen sind erst 300.000 Jahre alt und sie
repräsentieren auch nur 0,01 Prozent der organischen Biomasse der Erde.“
Bäume und Pflanzen sind die Pioniere, die unsere Welt erst erschufen. Sie
sind die großen Alchemisten unserer Welt, die mithilfe von Sonnenlicht
nährenden Zucker aus Wasser und Kohlenstoff gewinnen, wobei Sauerstoff
abfällt.
## Vom Zentrum ins Abseits
Als atmende Tiere sind wir ihre Geschöpfe. Und „Atmen“, so sieht es der
italienische Philosoph Emanuele Coccia in seinem Katalogbeitrag, ist
„intime Kommunikation mit Bäumen“. Obwohl es durchaus Arbeiten zum
vernichtenden Raubbau an den großen Urwäldern gibt, wie das Video des
Architekturbüros Diller Scofidio + Renfro, bemerkt Coccia völlig zu Recht,
dass die Exponate dieser Ausstellung nicht unsere ökologischen Sorgen und
Anliegen der letzten 40 Jahre widerspiegeln
„Nous les arbres“ ist [1][nach „Le Grand Orchestre des Animaux“] 2016
einfach die letzte in einer Reihe von Ausstellungen der Fondation Cartier,
die uns in unserer anthropozentrischen Wahrnehmung als Meister aller
Klassen etwas verunsichern möchte. Coccia selbst arbeitet in seiner
Philosophie der Pflanzen höchst erfolgreich an diesem Projekt, den
Menschen, wie Nietzsche sagt, „vom Zentrum ins Abseits“ zu rücken.
Von dort ins Zentrum gerückt ist nun also der Baum, wobei es in
Wirklichkeit, anders als im Sprichwort, nicht der Wald ist, den man vor
lauter Bäumen nicht sieht, es sind die Bäume, die im Wald verschwinden. Die
Fotografie könne deshalb nicht in der Botanik eingesetzt werden, meint der
Spezialist für Urwälder Francis Hallé in einem ungemein erhellenden,
zugleich amüsant geführten Gespräch mit Coccia. Sie hebe die Pflanze nicht
genügend von ihrer Umwelt ab.
Den Baum zu zeigen und seine Umwelt dazu, das gelingt Joseca oder Kalepi,
den vom Kurator Bruce Albert eingeladenen Yanomami-Künstlern aus dem
brasilianischen Regenwald, meisterhaft. Sie stellen einerseits die
konstruktive Schönheit der Bäume sehr genau heraus, vergessen aber weder
die Affen und Papageien, die in ihnen zugange sind, noch die Eichhörnchen,
Tapire und Schweine, die bei den Früchten und Samen unter ihnen fündig
werden. Der Baum ist eben eine ganze Welt.
Der Baum ist eine Sonne möchte man sagen, angesichts der geradezu
psychedelisch farbenprächtig auflodernden Bäume in den Zeichnungen von
Salim Karami, der 2013 mit 75 Jahren in seinem Geburtsort Rascht im Iran
verstarb. Seine Wahrnehmung kommt der Emanuele Coccias wohl am nächsten,
der vom heliozentrischen Leben der Bäume spricht. Der Baum ist aber auch
ein Ärgernis, wenn er seine Blätter abwirft oder sein wunderschönes
Wahlnussholz unverkäuflich ist und er als traditionelle Quelle von
Wohlstand ausfällt.
Davon sprechen die Leute, die der Fotograf und Filmemacher Raymond Depardon
zu ihrem Verhältnis zum Baum befragte. In seinem Video sind prachtvolle
Trauerweiden, steinalte Steineichen, Bäume, die hartnäckig am Abgrund
wurzeln und Blätter werfende Platanen zu bestaunen und dazu die Menschen,
die mit diesen Bäumen aufgewachsen sind und mit ihnen leben. Sie sprechen
über sie wie über Angehörige, weshalb sich auch die eine oder andere Klage
in den doch sehr respektvollen Erzählungen und Anekdoten Bahn bricht.
15 Aug 2019
## LINKS
[1] /Innovatives-Ausstellungsprojekt-in-Paris/!5321748
## AUTOREN
Brigitte Werneburg
## TAGS
Bäume
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Ökologie
Schwerpunkt Klimawandel
Umweltschutz
Fondation Cartier
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