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# taz.de -- Theater für Geflüchtete: Schaut auf dieses Kind
> Die Puppe Amal, die auf die Würde von Geflüchteten aufmerksam machen
> soll, ist auf Chios angekommen. Von dort aus wird sie durch Europa
> reisen.
Bild: Dreieinhalb Meter groß, mit sensibler Gestik, auf der Suche nach ihrer M…
Es hört sich zunächst vor allem spektakulär und monumental an: Eine 3,5
Meter hohe Puppe macht sich auf den Weg vom türkischen Gaziantep, nahe der
Grenze zu Syrien, nach Europa. 8.000 Kilometer will sie zurücklegen.
Die Puppe mit dem Namen Amal, arabisch für „Hoffnung“, stellt ein
neunjähriges Mädchen dar, das im Krieg von seiner Mutter getrennt wurde und
sich auf die Suche nach ihr begibt. „The Walk“ heißt das Projekt. Hinter
ihr steckt die britische Theater-Organisation Good Chance, die sich mit
sozial engagierten Projekten, unter anderem im „Jungle“ von Calais, einen
Namen gemacht hat.
Für Mitte letzter Woche war Amals europäische Ankunft [1][auf der
Ägäisinsel Chios] angekündigt – einer der größten griechischen Inseln, in
der es wie auf Lesbos ein Erstaufnahmelager für Geflüchtete gibt. Auf 1.100
Menschen ausgelegt, sollen im Umkreis zeitweise bis zu 7.000 Menschen
Schutz gesucht haben. Derzeit sind es nach Schätzungen von
Zugangsberechtigten noch bis zu 500. Wie alle diese Menschen sollte Amal
mit einem Boot von der nur sieben Kilometer entfernten türkischen
Çeşme-Halbinsel kommen.
Bis zuletzt wurde gezittert, ob das dazu nötige logistische und behördliche
Wunderwerk klappen würde. Bis zum 8. August waren die Grenzen zwischen der
Türkei und Griechenland komplett dicht.
## Austausch mit Initiativen vor Ort
Aber dann ist Amal da. Ein Flüchtlingskind, zu dem man aufschaut. Mehrere
Puppenspieler:innen bewegen sie – innen im Rumpf, außen an den Armen,
andere sind über Funk verbunden. Vor allem durch die sensibel einsetzbaren
Mimik- und gestischen Funktionen (Entwurf und Bau: Handspring Puppet
Company) wirkt Amal trotz ihrer Größe: vor allem verletzlich.
Sie steigt aus einer Art Fischerboot, schaut sich um am Pier, schaut in
unzählige Kameras griechischer Reporter, dann Richtung Türkei zurück,
scheint sich zu orientieren, zögert immer wieder, und hört dann plötzlich
Musik. Eine Blaskapelle steht zunächst für ihren Empfang bereit, begleitet
von einer großen Menschenmenge an der Hafenpromenade.
Für Amals Empfang auf Chios arbeitete Good Chance zusammen mit dem Chios
Music Festival, und in dieser Zusammenarbeit zeigt sich der eigentliche
Geist des Projekts. Amir Nizar Zuabi, der palästinensisch-israelische
Regisseur von „The Walk“, beschreibt das in einem Gespräch kurz vor der
Ankunft der Puppe so: „Es ist unser Anliegen, an jeder Station in
Interaktion mit den Menschen vor Ort eine neue und sehr spezifische
Erfahrung zu schaffen. Der rote Faden ist Amal, das neunjährige Mädchen,
das durch die Erfahrungen seine Biografie entfaltet. Um das zu
gewährleisten, braucht es einen sehr sensiblen Austausch mit den
Initiativen vor Ort, mit denen wir zusammenarbeiten.“
Genau das ist in Chios gelungen. Das Chios Music Festival besteht seit fünf
Jahren, und es war – aufgrund des großen sozialen und kuratorischen
Geschicks der Leiter:innen Olga Holdorff-Myriangou und Lefteris Veniadis
– von Anfang an eine Erfolgsgeschichte.
## Begeisterung statt Didaktik
Das Duo hat das besondere Talent, musikalisches Ideenreichtum mit
beeindruckenden Atmosphären zu verbinden und dabei selbstverständlich
inklusiv zu arbeiten. Mit Begeisterung statt angestrengter Didaktik. Teil
des Konzepts ist es, die verschiedenen Musikensembles der Insel genauso
einzubeziehen wie ältere Menschen, Kinder und Geflüchtete.
Chios hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Im nächsten Jahr wird
sich das sogenannte „Massaker von Chios“ zum 200. Mal jähren, bei dem im
Zuge der [2][griechischen Unabhängigkeitskämpfe] gegen die osmanischen
Besatzer die Bevölkerung der Insel praktisch ausgelöscht wurde. Im Zweiten
Weltkrieg dann die deutsche Besetzung. Flucht- und Migrationserfahrungen
gehören zu den meisten Familiengeschichten. Dennoch strahlt die Insel
nichts von Überlebenskampf aus, sondern wurde nach der Unabhängigkeit zum
Domizil wohlhabender und einflussreicher Reeder.
Vielleicht ist es diese Mischung, die dafür sorgt, dass Chios sogar im
gastfreundlichen Griechenland als besonders gastfreundlich gilt. Schon bei
einer früheren Ausgabe des Chios Music Festivals habe ich immer wieder
gehört, wie groß die Solidarität war, als 2015 die ersten Geflüchteten
kamen. Essen und Kleider wurden gebracht, die Schutzsuchenden sogar
bereitwillig in Privathäuser aufgenommen sowie auch die ersten
musikalischen Zusammenkünfte organisiert.
## Bedingungslose Gastfreundschaft
Später hat sich auch auf Chios die Stimmung aufgrund von Überforderungen
und damit verbundenen Aggressionen sowohl Geflüchteter als auch von Teilen
der Bevölkerung teilweise geändert.
Das Chios Music Festival hat sich zur Ankunft von Amal aber für das Wagnis
entschieden, an die bedingungslose Gastfreundschaft anzuknüpfen. Zusammen
mit verschiedenen Musikensembles der Insel wie Bläsern, Trommler:innen,
Gitarrist:innen, von brasilianischen Rhythmen inspirierten
Schlagwerker:innen, einer bekannten Sängerin, einem Kinderchor sowie einer
Gruppe geflüchteter Kinder heißen sie Amal bei ihrer Bootsankunft
willkommen, um sie dann die ganze Hafenpromenade entlang bis auf den
zentralen Rathausplatz mit Variationen chiotischer Musik zu begleiten.
Und zwar nicht mit irgendeiner Musik, sondern der sogenannten Painemata,
einem Strophenlied, das traditionell jedes Jahr zu Neujahr mit einem neuen
Text versehen wird, um Wünsche für die Zukunft zu äußern. Das traditionelle
Kulturgut wurde nun umgedichtet zu einem Willkommens- und Segenslied für
Amal, das auch von geflüchteten Kindern gesungen wird.
## Umwege wegen der Brände
Engagiert hat sich für die Einstudierung auch die junge Dirigentin
Andrianna Neamoniti. Sie nahm bereits als Schülerin 2015 an den ersten
„music circles“ für Geflüchtete und Vor-Ort-Bevölkerung teil und hat sich
nun, gleich nach dem Studium, selbst ins Engagement gestürzt.
„Jedes Kind sollte ein Recht auf Bildung haben“, sagt sie in einem
Gespräch, in dem sie auch bewegt davon erzählt, wie ihr bei der
Textdichtung für die Painemata klar wurde, dass manche Jugendliche noch
nicht einmal in ihrer Muttersprache schreiben können. Ein Satz eines
Mädchens aus den Workshops blieb der Dirigentin besonders im Gedächtnis:
„Amal, wenn du die Hoffnung verlierst, leb in deinen Träumen.“
Für Amal jedoch gibt es durchaus Hoffnung. Ihr Weg durch die Türkei, mit
Umwegen wegen der derzeit fatalen Brände, sei menschlich ermutigend
gewesen, berichtet Amir Nazir Zuabi, dem vor allem die große Empathie auf
der bereisten Strecke auffiel. Gewalttätige Anfeindungen gegen
Syrer:innen, wie zuletzt in Ankara, musste Amal nicht bezeugen.
## Perplex und überwältigt
Der Empfang in Izmir und Çeşme sei besonders überwältigend gewesen:
„Zusammen mit geflüchteten Kindern schuf das Internationale Puppenfestival
in Izmir innerhalb von dreieinhalb Monaten sechs große Puppen zur Begrüßung
von Amal. Sie waren sehr, sehr hübsch! Zusätzlich haben mehrere
traditionelle Zeybek-Tanz-Gruppen Amal einen Empfang gegeben.“
Für Europa erwartet der Regisseur mehr Konfrontationen. Was Chios angeht,
haben sich seine Befürchtungen jedoch ganz und gar nicht erfüllt. Daran hat
sehr wahrscheinlich die harmonisierende Präsenz des gesellschaftlich
geschätzten Chios Music Festivals einen großen Anteil. Die Gemeinde sperrte
zur Ankunft von Amal die Hafenpromenade für den Autoverkehr, sodass die
Bevölkerung über die gesamten etwa eineinhalb Kilometer den Variationen der
Neujahrsmusik lauschen und die Puppe auf ihrem Weg zum zentralen Platz
begleiten kann.
Viele sind erst einmal perplex und überwältigt, starren das Geschehen durch
ihre Mobilkameras an. Im Verlauf wird die Stimmung gelöster – jemand ruft
ein Kosewort für kleine Mädchen, manchmal wird getanzt.
## Auf einer weiten Reise
Eine Frau, die nach der Abschlusszeremonie so ernst wie kräftig
applaudiert, kommentiert: „Es ist wichtig, dass unsere Kinder von diesen
Schicksalen wissen.“ Eine etwa 18-jährige Jugendliche hat Tränen in den
Augen und danach gefragt, antwortet sie: „Ja, ich bin sehr, sehr berührt.
Ich war 2015 hier, als die ersten Geflüchteten eintrafen und wir alle
versuchten, zu helfen. Dann kam, was kam. Alle hier nun so harmonisch
vereint zu sehen ist ein unbeschreibliches Gefühl.“
Ein paar Meter weiter treffe ich eine junge Frau, die ursprünglich aus
Somalia stammt. Am Mittag hatte sie mich angesprochen und ich hatte ihr
geholfen, eine E-Mail zu schreiben, um die digitale Bestätigung ihres
negativen Covidtests zur Überfahrt nach Athen anzufragen. Die Strategie der
Behörden ist es derzeit, das Lager leer zu räumen. Dazu werden Asylgesuche
schneller als sonst positiv beschieden, was einer Entlassung der
Anfragenden in die Obdachlosigkeit gleichkommt.
Die Bestätigung des Covidtests der jungen Frau ist nicht gekommen, sagt
sie, die Fähre ist ohne sie nach Athen gefahren. So gesehen hat Amal, als
Stellvertreterin der laut UNHCR weltweit derzeit über 84 Millionen
Geflüchteten, noch eine sehr weite Reise vor sich.
18 Aug 2021
## LINKS
[1] /Brand-im-griechischen-Lager-Moria/!5774758
[2] /Aus-Le-Monde-diplomatique/!5760070
## AUTOREN
Astrid Kaminski
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