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# taz.de -- Wiederentdeckung von Solomon Nikritin: Sich als Kaktus ausprobieren
> In Dessau werden die Theaterkonzepte des proletarisch orientierten
> Künstlers Solomon Nikritin vorgestellt. Es gibt Parallelen zur Gegenwart.
Bild: Seine avantgardistischen Konzepte visualisierte Nikritin in Kartogrammen,…
Dessau liegt nicht am Meer. Die Arbeit der Wellen kann dort im Museum der
Bauhausstiftung aber dennoch geübt werden: Eine Schüssel mit grobkörnigem
Sand steht bereit, dazu ein Sieb und eine größere Schüssel, in die der Sand
gesiebt werden kann. Nur die feinsten Partikel und die kleinsten der Körner
kommen nach intensivem Ruckeln durch. Strandsandsieben ist Arbeit. Bald ist
der Arm lahm, der Strand gerade groß genug für eine Ameisenkleinfamilie.
Diese Handlungsanordnung ist Teil der poetisch-philosophischen „Skipónic
Vignetten“ von Ilya Dolgov. Der in Russland arbeitende Künstler stellt kaum
im staatlich-institutionellen Kontext aus, nun aber gehören seine
partizipativen Installationen zum Themenschwerpunkt „[1][Xist*innen: ein
Metabolistisches Labor nach Solomon Nikritin“,] einem noch dieses
Wochenende laufenden Programm mit Performances, Filmen und Installationen
rund um die Idee von Nikritins Entwurf eines Projektionistischen Theaters.
Dessen Wiederentdeckung, die das [2][Bauhaus Dessau] für sich beanspruchen
kann, bietet eine spannende kunsthistorische Referenz: Sie eröffnet den
Blick auf ein lebensnäheres Pendant zu den in der Weimarer Republik an der
Bauhausbühne entwickelten, weitgehend sperrigen Tanz- und Theaterversuchen.
Genau wie diese vor 100 Jahren entstanden, hat das Projektionistische
Theater den erst um die letzte Jahrtausendwende vollzogenen „performative
turn“ der Darstellenden Künste vorweggedacht. Damals wie heute ist, im
konsumkritischen Sinn, der Prozess interessanter als das fertige Produkt.
Solomon Nikritin (1898–1965) hat ein Jahr lang bei Wassily Kandinsky
studiert und wurde bislang am ehesten als Maler wahrgenommen. Sein Werk
wird größtenteils von den Sammlungen der Staatlichen [3][Tretjakow-Galerie]
in Moskau sowie des Museums für Zeitgenössische Kunst im griechischen
Thessaloniki verwaltet. Seine für den Ausstellungskontext entwickelten
Theaterideen sind dagegen ausschließlich in russischen Archiven zugänglich.
## Zum Material werden
Die Kuratoren Torsten Blume und Mikhail Lylov haben sie für das Dessauer
Programm übersetzt und ausgewertet. Wie die meisten der
Avantgardebewegungen vom Anfang des 20. Jahrhunderts hat das
Projektionistische Theater eine stark utopische Ausrichtung. Sein Material
ist nicht der Text, sondern der menschliche Körper. Dieser soll durch das
Verüben und Erüben von Gewohnheiten und Wahrnehmungen das Potenzial für
mögliche Zukünfte liefern. Dabei gehe es jedoch, wie Torsten Blume zur
Eröffnung sagt, nicht um das bürgerliche Ideal der Selbstverwirklichung,
sondern vielmehr um eine Selbstwahrnehmung als „Material unter anderen
Materialien“.
Im Ausstellungstext schreibt er: „Das Projekt Xist*innen fragt in diesem
Sinne danach, ob und inwieweit wir uns, ähnlich wie die
Projektionist*innen der 1920er Jahre, als Konzeptpersonen ausprobieren
können, die sich darin üben, ein Vorstellungshandeln für eine neue
Verbundenheit und einen neuen Metabolismus der Koexistenz zu entwickeln,
zum Beispiel als Sukkulentist*innen, Insektist*innen,
Sphereist*innen, Imaginist*innen oder Nichtwachstumist*innen.“
Eines der auf diesen Ideen aufbauenden Übungsfelder stammt in Dessau von
der Künstlerin Anastasiya Kizlova. Ihre für Sukkulentist*innen, das
heißt am Lebensprinzip von Kakteen Interessierte, entworfenen Schürzen und
Überkleider („Succulent Therapy“) sind mit eingenähten Pads versehen, in
denen das pflanzliche Wurzelwerk Halt finden kann. Getragen werden sollen
die Kostüme bei Lesezirkeln, um so durch ausgestoßenes CO2 und Denkwärme
einen Substanzaustausch mit den Mitbewohner:innen in der Kleidung zu
ermöglichen.
## Setzt Energie frei
Auf andere Art wird das Vorstellungsvermögen in der Installation „Follow
me“ von Eugenia Suslova trainiert. Hier bekommen Xist*innen Anleitungen,
um alles, was ihnen wichtig ist, in Icons zu visualisieren und auf den
eigenen Zukunftsscreen zu projizieren sowie alles andere hinter sich zu
lassen. „Erst eine Person, die den eigenen Körper und Geist (einschließlich
der Emotionen) perfekt beherrscht“ – so zitiert der Text zur Ausstellung
Nikritin –, „setzt ihre kreative Energie frei; um eine neue Gesellschaft zu
bilden.“
Denn für eine Gesellschaft, in der es „keine Autorität, keine
Vollstreckung, keine Gefängnisse, keine Strafen, keine Richter usw.“ mehr
geben wird, „ist es notwendig, als biologischer Organismus vollkommene
Selbstbeherrschung zu haben.“
Dieser Hypothese folgend sei es die theaterpädagogische Ambition der
Projektionisten gewesen, „Phobien und Hass gegenüber anderen Körpern zu
lokalisieren und zu überwinden und sozial-technologische Beziehungen neu zu
gestalten“.
## Gefahr der Vereinnahmung
Nikritins Konzepte waren einer ideologischen Vereinnahmung nicht gefahrlos
ausgeliefert. Im Umfeld der breiten russischen Bewegung für „Proletarische
Kultur“, die sich für eine Entprofessionalisierung der künstlerischen
Tätigkeit nach der Oktoberrevolution einsetzte, wollte das
Projektionistische Theater jedem Menschen die Freude an der Gestaltung des
eigenen Lebens zugänglich machen. Da zur Lebensgestaltung aber auch die
Arbeit gehört, und Arbeitsabläufe in ihrer Effizienz durchorganisiert und
klassifiziert werden können, wurde Nikritins Theater 1923 ins Institut für
Arbeitsforschung eingegliedert.
Zum Instrument leninistisch-marxistischer Politik wurde es dennoch nicht –
was mit an seinem philosophischen und experimentellen Ansatz gelegen haben
könnte. Durch die Abwesenheit von narrativem Text und seinen Charakter als
Versuchsanordnung – für die Akteure genauso wie für die Wahrnehmenden – w…
es kein Slogantheater. Vielmehr schien es nach Organisationsstrukturen
eines Miteinanders im Begegnungsraum von Aktion und Kontemplation zu
suchen.
Der Kurator Mikhail Lylov, der mit Studierenden zur Eröffnung ein
Stimmkonzert vorführte, interpretiert in heutiger Terminologie: „Für mich
geht es darum, von einer Dominanz der Macht des Handelns, eines ableism,
wegzukommen; hin zu einer Ermächtigung des Wahrnehmens. Daher ist
Improvisation im Sinn einer Resonanzerfahrung ein wichtiges Mittel dieses
Theaterbegriffs.“
Durchsetzen konnte er sich nicht. Solomon Nikritin hat das Experiment in
seiner zweiten Lebenshälfte ruhen lassen und im Wohnzimmer der durch seine
Frau finanzierten Wohnung figurative Gemälde produziert. Seine Ideen aber
sind im Spiegel der Ideenkunst eines Joseph Beuys oder zeitgenössischer
Performancekunst wie Tino Sehgals weltberühmter „Situations“ heute umso
spannender.
12 Nov 2021
## LINKS
[1] https://www.bauhaus-dessau.de/offene-buehne/xistinnen.html
[2] /Bauhaus-Museum-in-Dessau/!5621038
[3] /Kunstszene-in-Russland/!5210226
## AUTOREN
Astrid Kaminski
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