# taz.de -- Bauhaus und Esoterik in Sachsen-Anhalt: Vollmond in Dessau | |
> Revolutionäre Architektur und gelebte Freizügigkeit – dafür stand einst | |
> das Dessauer Bauhaus. Heute ist der Eso-Kult längst der Realität | |
> gewichen. | |
Bild: Meditation, Yoga und Vollmond-Muggen in Dessau | |
Dessau taz | Als sich Falk Röske ein Jahr nach der Wende in sein neues | |
Leben aufmachte, war er 30 Jahre alt. Er fuhr von Dessau, der Bauhaus-Stadt | |
in Sachsen-Anhalt, auf eine wilde Wiese an einem Gebirgspass irgendwo in | |
Polen in der Nähe zur ukrainischen Grenze. Unbewohntes Terrain an einem | |
Fluss und einer Trinkwasserquelle. | |
Röske war in der DDR Offizier und mit den staatlichen Behörden heftig in | |
Konflikt geraten. Nach dem Mauerfall suchte er nach einem Gegenpol zu den | |
Nachwirkungen seiner Biografie. Das „Rainbow Familiy Gathering“, von dem er | |
gehört hatte und das eine Art Treffen von Menschen war, die „etwas anderes“ | |
wollten und lebten, erschien ihm wie eine Verheißung. | |
Auf der Wiese standen Tipis, die Gebirgsquelle spendete Trinkwasser, im | |
Fluss wuschen sich die etwa 15 Frauen und Männer, darunter | |
Umweltaktivist:innen, Hippies, Aussteiger:innen, Esoteriker:innen. Es war | |
die Zeit um einen Sommer-Vollmond herum, tagelang wurde getrommelt, sich in | |
Trance getanzt, meditiert, Mantras gesungen, auf Bäume geklettert. Es | |
wurden Qigong, Tai-Chi und Yoga praktiziert, ein Gong rief zum veganen | |
Essen in Kokosnussschalen mit geschnitzten Löffeln. | |
„Das war Esoterik pur“, sagt Falk Röske: „Das kannte ich bis dahin noch | |
nicht. Und es faszinierte mich.“ Rainbow Gatherings schwappten als | |
Alternativbewegung aus den USA nach Deutschland. Bei Röske mit nachhaltigem | |
Erfolg. Im Herbst wird er 60, ein großer, muskulöser Mann mit kahlen Kopf | |
und einer Ruhe, bei der Zuhörer:innen schon mal unruhig werden können. | |
Mitunter dauert es gefühlt minutenlang, bis er Sätze sagt wie diesen: | |
„Danach sehnte ich mich: Einssein mit den Mondphasen, mit den Vorgaben der | |
Natur zu leben.“ | |
## Röske etablierte Eso-Szene | |
Zurück in Dessau gründete Röske gemeinsam mit ein paar anderen einen | |
Verein, den sie „Mandala“ nannten, nach den hinduistischen Diagrammen, die | |
das Universum abbilden sollen. Röske bot Meditationswochenenden und | |
Rhythmuskurse mit der Schamanentrommel an, lehrte die 5 Tibeter, | |
Yoga-Übungen, in denen manche „tibetische Unsterblichkeitsübungen“ erkenn… | |
und andere ihre Erleuchtung finden. Er organisierte Vollmond-Muggen mit | |
Live-Musik und orientalischem Tanz, fuhr zum Mittelaltermarkt auf der Burg | |
Rabenstein. In Frankreich baute er aus langen Holzstöcken sogenannte | |
Schwitzhütten, die die Form von Tipis haben – für männliche | |
Initiationsriten. | |
Röske etablierte die Eso-Szene in Dessau. „Damals waren Yoga und | |
Vollmondtrommeln für die meisten unbekannt und für manche sogar | |
angsteinflößend“, sagt er: „Es wurde viel über uns gekichert.“ Zur ers… | |
Vollmondparty kam eine Handvoll Leute. Was soll das hier sein? Wieso | |
ausgerechnet eine Party bei Vollmond, auch wenn es mitten in der Woche ist? | |
Später stießen Leute wie ein Berliner Räucherstäbchen-Händler dazu, der | |
viel vom „Geist für das Transzendente“ sprach und Frauen riet, rote | |
Unterwäsche zu tragen – für intensiveren und ausdauernden Sex. Mondkalender | |
waren der letzte Schrei, und wenn Frauen in der Vollmondphase | |
menstruierten, schienen sie im Gleichklang von Körper und Natur angekommen | |
zu sein. Einige Dessauer Paare reisten zu Tantraworkshops und Kursen, bei | |
denen mit dem Argument der „totalen Offenheit“ auch schon mal Gruppensex | |
legitimiert wurde. | |
Die letzte Vollmond-Party fand im September 2002 statt – und war legendär. | |
Röske hatte Ralf Benschu, den damaligen Saxofonisten der Ostband Keimzeit, | |
für einen Live-Gig eingeladen. Das zog auch Menschen an, die mit dem | |
„Eso-Kram“ nichts am Hut hatten, es kamen etwa 200 Leute. So etwas spricht | |
sich in einer Stadt wie Dessau mit damals knapp 90.000 Einwohner:innen | |
schneller herum als ein Windhund laufen kann – und das Ordnungsamt rückte | |
an. | |
## Bauhäusler:innen kannten Yoga und Esoterik | |
Die Skepsis gegenüber der „Eso-Szene“ war groß. Das erlebte auch Burghard | |
Duhm. Duhm, 60, Forstökonom, Kulturwissenschaftler, Mitbegründer der Grünen | |
in Sachsen-Anhalt und zertifizierter Yogalehrer, erinnert sich an die Zeit | |
nach der Wende: „Damals mussten wir uns immer spontan in gerade freien | |
Räumen treffen, um Yoga zu machen.“ Mal war das ein Raum in einem | |
Sozialverein, dann in einem Kunstprojekt. Als Duhm für seine Kurse werben | |
wollte, warnten ein Sektenbeauftragter und die evangelische Kirche: Bei | |
Yoga müsse man vorsichtig sein, das verführe die Seele, dahinter stecke | |
eine neue Sekte. Die Kirche verbot Aushänge in Einrichtungen, die in ihrer | |
Trägerschaft waren. | |
Heute ist Yoga so etwas wie Volkssport, auch in Dessau. Mittlerweile gibt | |
es in der Stadt mehrere Yoga-Gruppen, die Frau des Sektenbeauftragten ist | |
selbst aktiv. | |
Warum aber die einstige Ablehnung? Dessau steht mit dem Bauhaus nicht nur | |
für eine Architektur- und Designrevolution, sondern auch für eine | |
Avantgarde von Lebensentwürfen: Frauen konnten an der Akademie Kunst | |
studieren und lebten gemeinsam mit den Männern in Wohnheimen – ein | |
absolutes Novum damals. Die Motto- und Kostümpartys mit Perücken und | |
androgynen Verkleidungen der Bauhäusler:innen sowie Tanz- und | |
Theaterabende waren berühmt-berüchtigt. | |
Auch Yoga und Esoterik waren den Bauhäusler:innen nicht fremd. 1919 kam | |
der Maler und Reformpädagoge Johannes Itten ans Bauhaus und brachte die | |
Mazdaznan-Lehre mit: eine esoterisch-religiöse Mischung aus | |
Zarathustrismus, Christentum, Hinduismus und Tantra. Itten lehrte nicht nur | |
Kunst, sondern auch Fasten, Vegetarismus, Atem- und Sexpraktiken. Das | |
passierte zwar alles noch in Weimar, bevor das Bauhaus aus politischen | |
Gründen 1925 seinen Sitz in Thüringen aufgab und nach Dessau zog – Ittens | |
Geist aber siedelte mit um. | |
## Semantische Einheit | |
Das „wilde Leben“ sorgte seinerzeit nicht nur für Aufsehen, sondern auch | |
für Spott. Der Philosoph Theodor Adorno bezeichnete die modernen | |
Flachdachhäuser als „Konservenbüchsen“. Und die Freizügigkeit der | |
Bauhäusler:innen stieß nicht wenigen kleinbürgerlichen | |
Dessauer:innen als unsittlich und verlottert auf. Dessau wurde zwar | |
fest sozialdemokratisch-liberal regiert – und war doch ein politisch hart | |
umkämpfter Raum. So fürchtete etwa das rechts-konservative Handwerkermilieu | |
die Konkurrenz der frischen Bauhäusler:innen und machte Stimmung gegen | |
„die Modernen“. Trotzdem bildete sich in der Stadt ein | |
Unterstützernetzwerk, von dem das Bauhaus bis zur Schließung durch die | |
Nazis profitierte. | |
Heute bilden Dessau und das Bauhaus so etwas wie eine semantische Einheit. | |
Mit Folgen: Die Stadt, die mit der Schwerindustrie monoökonomisch | |
aufgestellt war, erlebte nach der Wende einen herben Einbruch. 1998 betrug | |
die Arbeitslosenquote 23 Prozent, die Jungen verließen die Stadt, die | |
eingequetscht zwischen Berlin, Leipzig und Halle kaum eine Chance auf einen | |
größeren wirtschaftlichen Aufschwung hat. Regina Bittner, Kunsthistorikerin | |
und Bauhaus-Interimschefin, sagt: „Wir müssen die Geschichte des Hauses | |
einbinden in den demografischen und Strukturwandel der Stadt.“ Als Haus | |
präsenter in der Innenstadt sein, in die Schulen gehen, weniger | |
Designavantgarde und mehr Alltagskultur. „Das Bauhaus rettet die Stadt | |
nicht“, sagt Bittner: „Aber es kann sie gestalten.“ | |
Bittner trat im Sommer 2020 als Interimschefin an die Stelle der früheren | |
Bauhaus-Direktorin Claudia Perren, die noch vor Ablauf ihrer zweiten | |
Amtszeit das Baushaus verließ. 2018 war es zu einem Eklat um den Auftritt | |
der Band Feine Sahne Fischfilet gekommen. Rechte Gruppen hatten vor dem | |
Konzert zum Protest gegen die linke Band aufgerufen, Perren sagte das | |
Konzert kurzfristig ab. | |
Zurückweichen vor den Rechten? Und das im Bauhaus, einer Institution, die | |
für Demokratie, politischen Widerstand, künstlerische Freiheit steht? Heute | |
gibt es das Netzwerk „Gelebte Demokratie“, das Bauhaus ist bei | |
Antirassismus-Demos ebenso dabei wie bei den jährlichen Gedenktagen für den | |
Asylsuchenden Oury Jalloh aus Sierra Leone, der 2005 in einer Dessauer | |
Polizeizelle verbrannte. Mit anderen Worten: Der gegenwartsflüchtige | |
„Eso-Kult“ ist der Realität gewichen. | |
Falk Röske arbeitet heute als Musiktherapeut in einer psychiatrischen | |
Klinik in der Nachbarstadt Lutherstadt Wittenberg. Mit seinen | |
Patient:innen singt er Mantras, meditiert, trommelt. Er sagt: „Das hat | |
für mich noch immer einen Reinigungseffekt. Deswegen habe ich diese | |
Arschruhe weg.“ | |
5 Jun 2021 | |
## AUTOREN | |
Simone Schmollack | |
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