| # taz.de -- Identität in Sachsen-Anhalt: Ewig auf Suche nach dem Wir | |
| > Das Image als Schlusslicht prägt Sachsen-Anhalt. Nicht mal mit | |
| > glorreicher Historie kann man sich trösten. Aber vielleicht ist anderes | |
| > wichtiger. | |
| Bild: Gibt es hier ein gemeinsames Wir? Bitterfeld 1990 | |
| Nach dem Wahlsieg wolle man als Erstes das Land [1][Sachsen-Anhalt] | |
| abschaffen, grinst eine Sprecherin der rotbeschlipsten Satiretruppe „Die | |
| Partei“ ins Mikrofon. Hinter der Bemerkung steckt mehr Tiefgang, als man | |
| der „Partei“ zutrauen würde. Denn das Bindestrich-Bundesland konstruiert | |
| seit 30 Jahren Identitäten und ringt um sein Image. Den Menschen, denen | |
| man hier begegnet, merkt man es auf den ersten Blick wenig an. Verglichen | |
| mit den Sachsen nebenan wirken sie spontan vertrauenerweckender und | |
| geradliniger. Und nicht nur beim Idiom klingt manches nach der „Berliner | |
| Schnauze mit Herz“. Aber das ist schon Teil des Identitätsproblems. | |
| Vor allem in der Zeit der Umbrüche und Verunsicherungen, die dem Aufbruch | |
| 1989 in der DDR folgten, [2][bot der Rückgriff auf Traditionen und | |
| Geschichte überall im Osten zumindest eine mentale Orientierung]. Wie | |
| wichtig immaterielle Werte waren, zeigte im Nachbarland die Beschwörung | |
| eines Sachsen-Mythos´ in der Ära von „König“ Kurt Biedenkopf. Der | |
| sächsische Übermensch hatte über Jahrhunderte Rückschläge wie den | |
| Niedergang des Bergbaus kreativ verkraftet, also würde er sich auch diesmal | |
| aufrappeln. | |
| Auf ein solches stützendes Narrativ konnte Sachsen-Anhalt nicht | |
| zurückgreifen. Der moralische Schub einer glorreichen Vergangenheit blieb | |
| dem künstlichen Land verwehrt. Vorgängerterritorien waren seit dem Wiener | |
| Kongress von 1815 die 1944 von den Nazis aufgeteilte preußische Provinz | |
| Sachsen und der Freistaat, später das Land Anhalt. Nach der Kapitulation | |
| wurde in der Sowjetischen Besatzungszone 1947 das fusionierte Land | |
| Sachsen-Anhalt gegründet. 1952 hob die DDR die Länderstruktur schon wieder | |
| auf. | |
| In der Phase der Länderneubildung verunsicherten sächsische Pläne die | |
| potenziellen Sachsen-Anhalter zusätzlich. Variantenvorschläge sahen auch | |
| ein Groß-Sachsen-Thüringen und ein Groß-Brandenburg vor. Die Restitution | |
| des 1952 aufgelösten Landes kam gar nicht mehr vor. In den Grenzen der | |
| bisherigen DDR-Bezirke Halle und Magdeburg wurde es schließlich doch | |
| wiederhergestellt, nunmehr mit der Hauptstadt Magdeburg. | |
| ## Ungünstige Startbedingungen | |
| Eine Selbstfindung des heterogenen Neulandes erschwerten ungünstige | |
| Startbedingungen. Im Norden, in der Börde und in der Altmark, herrschten | |
| ohnehin Äcker und Wälder vor. Im Süden waren Kohle- und Kaliabbau sowie | |
| Chemiegebiete [3][wie der Raum Bitterfeld] besonders stark von der | |
| Deindustrialisierung nach der Währungsunion betroffen. Eine | |
| Erfolgsgeschichte, und sei sie nur suggestiv inszeniert wie in Sachsen oder | |
| Thüringen, konnte niemand glaubwürdig erzählen. Bei fast allen | |
| statistischen Kennziffern rangierte das Land im Bundesvergleich am Ende. | |
| Höchste Arbeitslosigkeit, geringste Gründerneigung, Niedriglöhne und | |
| demzufolge geringste Kaufkraft, dramatische Abwanderung und Überalterung | |
| bewirkten ein Rote-Laterne-Image, das wie ein kollektives Trauma wirkte. | |
| Manche der hartnäckigen Negativnachrichten tragen bis heute skurrile bis | |
| makabre Züge. Spitzenplätze auf der bundesweiten Angst-Skala etwa, und noch | |
| in diesem Wahlkampf-Mai fand das Bundeskriminalamt heraus, dass bei | |
| Straftaten in Sachsen-Anhalt am häufigsten geschossen wird. | |
| ## Am Selbstbild hat sich wenig verändert | |
| Wie in anderen ostdeutschen Ländern auch konnten in den vergangenen zehn | |
| Jahren in Sachsen-Anhalt einige Trends wie Abwanderung und | |
| Niedrigentlohnung gestoppt oder sogar umgekehrt werden. Am Selbstbild der 2 | |
| Millionen Einwohner hat das offenbar wenig geändert. Entsprechende | |
| Erhebungen hinterließen in den vergangenen 20 Jahren einen auffallend | |
| schwankenden Eindruck. | |
| Negative Konnotationen schienen 2009 überwunden, als eine Zeitung | |
| feststellte, zwei Drittel der Sachsen-Anhalter fühlten sich ihrem Land | |
| „innig verbunden“. 2014 behauptete der Sachsen-Anhalt-Monitor ebenfalls, | |
| zwei Drittel der Bürger seien im Grunde zufrieden. Ein Jahr später waren es | |
| nur noch 28 Prozent. | |
| Beim seit eineinhalb Jahren laufenden Online-Meinungsbarometer „MDRfragt“ | |
| erhärteten die Teilnehmer [4][in diesem Mai das Schlusslicht-Dauerimage | |
| ihres Landes]. 69 Prozent der jungen Menschen halten dieses für | |
| unattraktiv. Im Vergleich mit Sachsen und Thüringen wird Sachsen-Anhalt | |
| auch bei Gewerbeansiedlungen, medizinischer Versorgung, Umwelt- und | |
| Klimaschutz oder bei der Anbindung ländlicher Räume am schlechtesten | |
| bewertet. | |
| ## Hoher Erlösungsbedarf | |
| Die Folge ist ein anhaltend hoher „Erlösungsbedarf“, mit dem sich auch das | |
| volatile Wählerverhalten erklären lässt. Wie überall im Osten ruhten 1990 | |
| die Hoffnungen zunächst auf der CDU. Mit dem Magdeburger Modell übernahm | |
| 1994 eine Minderheit von SPD und Bündnisgrünen die Regierung und ließ sich | |
| von der PDS tolerieren – ein bundesweiter Skandal. Ein noch größerer waren | |
| vier Jahre später die 12,9 Prozent der rechtsradikalen und völlig | |
| politikunfähigen Deutschen Volksunion DVU. Das Politikbeben, das die 24,3 | |
| Prozent der AfD 2016 nur drei Jahre nach deren Gründung auslösten, fällt in | |
| die gleiche Kategorie. | |
| Nachweisbare Erfolge haben offenbar sowohl das Selbstbild als auch das | |
| Image Sachsen-Anhalts nicht entscheidend aufbessern können. Seit jeher | |
| galten hier Kinderbetreuung und Ganztagsanspruch als vorbildlich, | |
| Hochschulen und Universitäten sind wettbewerbsfähig, aus Drecklöchern wie | |
| Bitterfeld oder den Braunkohletagebauen sind touristische Attraktionen wie | |
| die Goitzsche oder der Geiseltalsee geworden. | |
| ## „Wir stehen früher auf“ | |
| Wie konnte die wenig beneidenswerte Landespolitik gegensteuern? Parallel zu | |
| den begrenzten Möglichkeiten konkreter Programme hat sie immer wieder | |
| versucht, ideelle und Imagedefizite in eine offensive Hauruck-Stimmung | |
| umzumünzen. Der spätere Finanzminister Jens Bullerjahn, eine schillernde | |
| SPD-Figur, prophezeite 2002 dem Land eine „Spitzenposition“ schon im Jahre | |
| 2010. Frohbotschaften sollte auch die „Heimatschachtel“ verbreiten, mit der | |
| ab 2006 vor allem junge Leute zur Rückkehr bewogen werden sollten. Mit dem | |
| Slogan „Wir stehen früher auf“ erntete Sachsen-Anhalt Respekt, aber auch | |
| Spott. | |
| Wichtiger für die Identitätsbildung war und ist die | |
| Vergangenheitsbeschwörung. Der Rückgriff erfolgt auf Zeiten, die mit dem | |
| Landesnamen noch gar nichts zu tun haben konnten, dafür mit großer | |
| deutscher Geschichte. Drei Millionen Euro kostete 2012 die Magdeburger | |
| Landesausstellung „Otto der Große und das Römische Reich“. „Wir möchte… | |
| dass die Menschen erkennen, in welch lange Läufe der Geschichte wir | |
| eingebettet sind“, erklärte der Direktor des Kulturhistorischen Museums, | |
| Matthias Puhle, damals. | |
| ## Heiligtum in Stonehenge-Dimensionen | |
| [5][Die Himmelsscheibe von Nebra] bekam ein Heiligtum in | |
| Stonehenge-Dimensionen. In frischer Erinnerung ist noch der Riesenhype um | |
| 500 Jahre Reformation in Wittenberg oder das Bauhaus-Jubiläum 2019. Stolz | |
| ist das Land zu Recht auf seine sechs Unesco-Welterbestätten. | |
| Eine ungewollte aktuelle Allianz zwischen SPD und AfD zeigt, dass dieses | |
| Engagement für das Landeserbe nicht unumstritten ist. Beide bemängeln, dass | |
| Mittel aus dem Kohle-Umstrukturierungs-Fonds für den Naumburger Dom und das | |
| Wörlitzer Gartenreich abgezweigt worden sein sollen. Mit der | |
| Gegenwartskunst tut sich Sachsen-Anhalt schon schwerer. Theater und | |
| Orchester haben schmerzhafte Kürzungsrunden hinter sich. | |
| Unter den Publikationen des Landesheimatbundes Sachsen-Anhalt entdeckt man | |
| zwar vieles zu historischen Details, aber keine Gesamtschau zur | |
| Identitätsproblematik. Geschäftsführerin und Ethnologin Annette | |
| Schneider-Reinhardt macht sich darüber auch keine Sorgen. Vor allem Jüngere | |
| hätten „kein Problem mit der Landesidentität“. Diese Erörterung sei | |
| überhaupt mehr „eine Zuschreibung von außen“. Wie anderswo auch würden | |
| Selbstzuordnungen zuerst regional erfolgen. | |
| So gesehen erscheinen Kampagnen zur Erweckung eines sachsen-anhaltischen | |
| Nationalbewusstseins müßig. Wichtiger sind positive Erfahrungen der Bürger, | |
| die dem Bindestrichland aus der gefühlten Defensive heraushelfen. | |
| 3 Jun 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Schwerpunkt-Landtagswahl-in-Sachsen-Anhalt/!t5749746 | |
| [2] /!1696795/ | |
| [3] /Fridays-for-Future-in-Bitterfeld/!5754644 | |
| [4] https://www.mdr.de/nachrichten/sachsen-anhalt/mdrfragt-umfrage-ergebnis-sac… | |
| [5] /Kaiser-Otto-I-und-die-Himmelsscheibe/!5524494 | |
| ## AUTOREN | |
| Michael Bartsch | |
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