# taz.de -- Giftmüll in Bitterfeld: Bis zur nächsten Eiszeit | |
> Zum Ende der DDR galt die Chemiestadt Bitterfeld als dreckigster Ort | |
> Europas. Inzwischen ist die Oberfläche grün. Doch das Gift ist immer noch | |
> da. | |
Bild: Fred Walkow (links) im Gespräch mit Leipziger Wissenschaftlern, die eins… | |
BITTERFELD-WOLFEN taz | Einst hieß es, hundert Jahre soll es dauern, bis | |
Bitterfeld saniert ist. Das kam vielen Bitterfeldern schon unglaublich lang | |
vor. Viel länger als die Lebenszeit derer, denen zu DDR-Zeiten jeden Tag | |
ein anderer Gestank aus den Fabriken des Chemiekombinats entgegenwehte und | |
die noch zentimeterdicke Flugasche aus ihren Höfen kehrten. Und nun steht | |
Fred Walkow hier kurz hinter dem Ortseingang, ein Siebzigjähriger mit | |
gemütlichem Bart. Er steht inmitten von Bäumen und Büschen, ein kleiner | |
Bach fließt idyllisch Richtung Goitzschesee, ein Milan sucht kreisend nach | |
Beute. [1][Es sieht doch gut aus in Bitterfeld]. Aber Walkow sagt: „Im | |
Grunde war von Anfang an klar, dass dieser Standort nicht zu sanieren ist.“ | |
Fred Walkow war von 1991 bis 2015 Leiter des Bitterfelder Umweltamts, er | |
kennt sich aus in der Stadt, die einst als stinkendes Mahnmal für die | |
[2][Umweltsünden der DDR] galt. Walkow breitet die Arme aus, als wolle er | |
die ganze Region erfassen: „Ein sogenanntes Ewigkeitsproblem ist das hier.“ | |
Schon die erste Umweltkonferenz, die er 1992 einberufen hatte, machte das | |
Ausmaß der Verseuchung deutlich. „Das ist keine Umweltsanierung in | |
Bitterfeld, sondern Gefahrenabwehr nach Polizeirecht“, sagt Walkow. | |
Wir stehen am Rande der Glück-Auf-Straße, die zum Stadtzentrum führt. Einst | |
stand hier eine Forschungsanlage des Leipziger Umweltforschungszentrums. | |
Vor zehn Jahren konnte man hier noch einen echten Eindruck von Bitterfelds | |
Vergangenheit gewinnen. In einem unscheinbaren Flachbau öffneten sich drei | |
Meter breite Schlunde in Bitterfelds Unterwelt. Eine schmale | |
Edelstahlstiege führte 23 Meter in die Tiefe zu einem Grundwasser, das bis | |
heute behandelt wird wie Sondermüll. Der Geruch stieg einem schon deutlich | |
früher in die Nase, eine Mischung aus faulen Eiern und Dixi-Toilette. | |
Die Leipziger Wissenschaftler sind längst abgezogen und mit ihnen die | |
Hoffnung auf eine innovative Lösung für Bitterfelds Untergrundproblem. Die | |
Schächte wurden verfüllt und in dem Flachbau hat inzwischen eine Freikirche | |
ihren Sitz. Zurück blieben verseuchtes Grundwasser in verseuchtem Boden. | |
Für ewig? „Das ist ein abstraktes Wort. Ich sag mal, bis zur nächsten | |
Eiszeit.“ Walkow grinst. Bitterfelder Humor. | |
Geht es etwas konkreter? Ein Forscher habe mal berechnet, dass die | |
ehemalige Kohlegrube im nahen Örtchen Greppin, jahrzehntelang zugeschüttet | |
mit Abfällen aus der Farbproduktion, durch die natürliche Auswaschung in | |
42.000 Jahren größtenteils schadstofffrei sei. „Denken Sie mal“, sagt | |
Walkow, „vor 42.000 Jahren haben sich gerade mal die ersten Menschen in | |
Europa angesiedelt“. Und die Grube Greppin sei hier bei Weitem nicht das | |
größte Problem. | |
Auf der Landkarte reihen sich Wolfen, Greppin und Bitterfeld von Nord nach | |
Süd auf, seit 2007 bilden sie die Stadt Bitterfeld-Wolfen. Im Süden liegt | |
Leipzig, im Norden Wittenberg. Durch die Region zieht sich ein Fluss, die | |
Mulde. Bitterfeld-Wolfen ist umgeben von Seen, der größte ist der | |
sogenannte Goitzschesee. Gesprochen „Gotzsche“ – sonst weiß gleich jeder, | |
dass man von auswärts kommt. Ein Paradies für Vogelnerds und | |
Wassersportliebhaber ist das heute hier, die Dübener Heide und das | |
Biosphärenreservat Mittelelbe liegen in unmittelbarer Nachbarschaft. Und | |
Walkow sagt: „Alles hier ist vom Menschen geschaffen, nichts ist mehr so, | |
wie es einmal war.“ | |
Erst kam die Kohle, dann die Chemie. Im 19. Jahrhundert entstanden rund um | |
Bitterfeld die ersten Tagebaugruben. Noch nicht groß und auch nicht tief, | |
so weit war die Technik noch nicht. | |
Doch dann gingen Chemieindustrie und Braunkohleförderung eine unheilvolle | |
Ehe ein. Um die Kohle für die energieintensive Industrie nicht tonnenweise | |
transportieren zu müssen, siedelten sich die Unternehmen direkt hier an. Es | |
entstanden immer mehr, immer größere Gruben, in denen sie die Kohle noch | |
aus den dünnsten Flözen holten. Zu DDR-Zeiten wurde die Kohle im | |
Chemiekombinat Bitterfeld und im Fotochemischen Kombinat Wolfen verheizt. | |
Über 5.000 chemische Stoffgruppen wurden bis 1990 produziert, vorwiegend | |
die besonders umweltschädliche Chlorchemie. In den ausgekohlten Gruben | |
landete tonnenweise der Industriemüll. Aus früherer Arglosigkeit – man mag | |
tatsächlich noch geglaubt haben, der Boden könne alle Giftstoffe | |
verstoffwechseln – wurde schlichte Ignoranz. | |
1982 erklärte ein Ministerratsbeschluss alle Umweltdaten für geheim, die | |
Müllbeseitigung folgte einzig und allein dem Kostenprinzip. So wurden in | |
die Grube Johannes, südlich von Wolfen, drei Jahrzehnte lang giftige | |
Abwasser aus der Zelluloseherstellung ungeklärt eingeleitet. Die Grube wird | |
später berühmt als Silbersee – Euphemismus für ein nach Schwefelwasserstoff | |
stinkendes Schlammloch, in dessen direkter Nachbarschaft große | |
Wohnsiedlungen stehen. Auch die Gruben Freiheit III und Antonie wurden | |
ungeniert als Sondermülldeponie genutzt – hier lagern unter anderem | |
Zehntausende Tonnen Abfall aus der Produktion von Insektiziden, die | |
inzwischen als krebserregend und neurotoxisch verboten sind. | |
Klingt schlimm genug. Tatsächlich ist aber auch noch das riesige Gelände | |
des einstigen Chemiekombinats verseucht. Die Industrieanlagen waren marode | |
und liefen in der DDR dennoch auf Volllast. Manche Bereiche waren so | |
lebensgefährlich, dass Strafgefangene eingesetzt wurden, um dort zu | |
arbeiten. So kam es zu ungezählten Chemieunfällen, Leckagen und Havarien. | |
Peter Krüger steht an einem silbernen Denkmal mitten im einstigen | |
Chemiekombinat. Einen zerplatzten Druckbehälter soll es symbolisieren. | |
Darauf 44 Namensplättchen. „Das waren meine Arbeitskollegen, Freunde, die | |
da gestorben sind.“ Krüger ist 77, das schüttere graue Haar hat er zum | |
Pferdeschwanz gebunden, um den Hals baumelt eine Kompaktkamera. „Ich stelle | |
hier alle paar Tage frische Blumen hin“. | |
Direkt hinter dem Denkmal beginnt ein Metallzaun, dahinter stand einst die | |
erste Plastikfabrik der Welt. 1968 war sie nur noch ein Sammelsurium alter | |
Maschinen, aus denen bei Überdruck Vinylchlorid direkt in die Werkshalle | |
abgelassen wurde. Das Gas wirkt betäubend, ist krebserregend und hoch | |
entzündlich. Dass es noch nie zu einer größeren Havarie gekommen war, glich | |
einem Wunder. | |
Doch am 11. Juli 1968 war die Zeit der Wunder vorbei. Ein Arbeiter entließ | |
vier Tonnen Vinylchlorid zur Druckentlastung in die Halle. Viel zu viel. | |
Die erste Plastikfabrik zerbarst mit einem großen Knall, der in ganz | |
Bitterfeld zu hören war und von dem die Fensterscheiben noch in sechs | |
Kilometer Entfernung zu Bruch gingen. Von umherfliegenden Trümmern wurden | |
Menschen verstümmelt, verbrannten bis zur Unkenntlichkeit. Die Retter | |
mussten mit bloßen Händen arbeiten, noch immer flirrte Gas in der Luft. | |
Peter Krüger war damals 24 und kurz vor dem Knall aufs Rad gestiegen, | |
Schichtende. Nun eilte er zurück und ahnte: Die schlimmste Katastrophe | |
drohte noch. Denn der geborstene Druckbehälter war ja nicht der einzige auf | |
dem Gelände. Die Explosion weiterer Behälter und der Austritt von zehnmal | |
mehr Vinylchlorid standen unmittelbar bevor. Krüger drängte auf einen | |
Druckablass, erst wollte keiner auf den jungen Arbeiter hören. Schließlich | |
setzte er sich durch. Später sagen Experten: Die dadurch verhinderte | |
Havarie wäre für einen Großteil Bitterfelds das Ende gewesen. Auch so | |
bleibt der Chemieunfall 1968 einer der größten aller Zeiten. | |
Peter Krüger, der Held. Erst spät kommt er zu einer Ehrung, als Ende der | |
1990er eine Fernsehjournalistin seine Geschichte ausgräbt. Da kämpfte er | |
schon um das Denkmal, das den Hinterbliebenen bereits direkt nach dem | |
Unfall versprochen wurde. Es hat dann noch einmal 20 Jahre gedauert, bis es | |
am 11. Juli 2019 eingeweiht wurde. | |
An der Oberfläche hat sich viel verändert in Bitterfeld, auch für Peter | |
Krüger. Einst hatte er im Chemiekombinat angeheuert, weil hier fast doppelt | |
so viel zu verdienen war wie anderswo. Trotz aller Gefahren für die eigene | |
Gesundheit blieb er. Bis zum vergangenen Jahr wohnte er in einem Haus | |
direkt in Greppin. „Der Weg zur Arbeit war so schön nah“, sagt er. | |
Ausgerechnet Greppin. Dieses Örtchen, eingeklemmt zwischen Chemiekombinat | |
und Fotochemischem Kombinat, galt als dreckigster Ort Europas. | |
Atemwegserkrankungen und Ekzeme waren in den Arztpraxen an der | |
Tagesordnung, vor allem bei Kindern. Nun ist die Luft nicht mehr | |
schmutziger als anderswo. Aber der Untergrund ist auch hier verseucht. 1999 | |
musste eine Grundschule in Greppin schließen, weil im Keller eben jenes | |
hochtoxische Vinylchlorid ausgaste. | |
Wir fahren ins Büro von Ronald Basmer. In der DDR hat er seine Ausbildung | |
in der Chemieindustrie gemacht, 1992 hatte er seinen ersten Arbeitstag im | |
Auftrag der Altlastensanierung. Inzwischen ist er bei der MDSE | |
Mitteldeutsche Sanierungs- und Entsorgungsgesellschaft zuständig für das | |
Ökologische Großprojekt Bitterfeld-Wolfen. Das, was man hier mache, erklärt | |
Basmer, sei nur in einem ganz geringen Maße Sanierung. „Es geht um | |
Beherrschung“. | |
An bis zu 1.800 Messstellen wird das Bitterfelder Grundwasser überwacht. | |
Basmer hat in seinem Aktenschrank Bilder von Proben, deren Farben von | |
Uringelb bis Schwarz reichen. Greppin, die besonders tief gelegenen | |
Siedlungen Annahof und Bergmannshof, das Gelände des Chemiekombinats, die | |
Gruben Antonie, Freiheit III und wie sie alle heißen: Überall gibt es einen | |
eigenen Schadstoffmix. Damit der weder in die Keller der Anwohner*innen | |
läuft, noch in die angrenzenden Gewässer, wird seit 1994 ein gewaltiger | |
Aufwand betrieben. | |
Eine Kaskade aus 47 Vertikalbrunnen pumpt das verseuchte Grundwasser in | |
Fließrichtung aus dem Boden. Speziell auf den Schadstoffmix abgestimmte | |
Aufbereitungsanlagen behandeln das verseuchte Wasser vor, in der Kläranlage | |
wird es dann nochmals gereinigt. | |
Normalerweise werden auf diese Weise belastete Gebiete saniert: Rund | |
zehnmal das Wasser rauspumpen, bis die Schadstoffe ausgespült sind. Doch in | |
Bitterfeld sind die Schadstoffe so vielfältig, so toxisch und so wenig | |
wasserlöslich, dass auch ein Vierteljahrhundert Pumpen nicht zu einer | |
nennenswerten Verringerung der Belastung geführt hat. Die Schadstoffe sind | |
so aggressiv, dass die Wasserpumpen, die ja eigentlich für Trinkwasser | |
konzipiert sind, zum Teil jährlich ausgetauscht werden müssen, erzählt | |
Basmer. In den Siedlungen Annahof und Bergmannshof schützt außerdem eine 27 | |
Meter tiefe Dichtwand die Keller der Anwohner*innen. Auch Greppin soll in | |
den nächsten Jahren eine solche unterirdische Mauer bekommen. | |
Bis auf unabsehbare Zeit müssen diese Maßnahmen fortgeführt werden, sagt | |
Basmer. Keine Rede mehr von 100 Jahren. Würde man aufhören zu pumpen, zu | |
reinigen und abzudichten, dann landeten die Schadstoffe nicht nur bei den | |
Anwohner*innen, sondern mulde- und elbabwärts auch in Hamburg oder vor | |
Helgoland. „Das ist natürlich keine optimale Situation, eine | |
Komplettsanierung ist immer das Beste“, weiß auch Basmer. Aber warum | |
beseitigt man dann nicht den giftigen Müll mitsamt vergiftetem Boden? | |
„Weil es einfach zu viel ist“, sagt der Altlastenexperte. Wer den | |
kontaminierten Boden in den alten Gruben und auf dem ebenfalls verseuchten | |
Gelände des Chemiekombinats komplett sanieren wolle, müsse ein Gebiet von | |
mindestens zehn Quadratkilometern bis zu 30 Meter tief ausbaggern. Ein | |
gigantischer neuer Tagebau. „Und selbst wenn das vorstellbar wäre, selbst | |
wenn hier nicht direkt Menschen wohnen würden, wo soll das Zeug hin, wer | |
will das haben?“, fragt Basmer. | |
Anderswo wird es zwar tatsächlich so gemacht: Ein Teil der hoch belasteten | |
Kesslergrube im südlichen Baden-Württemberg wird derzeit vom | |
verantwortlichen Chemieunternehmen Roche nach öffentlichem Druck komplett | |
ausgebaggert und neu verfüllt. Allerdings handelt es sich dabei um einen | |
Gesamtaushub von 182.000 Kubikmetern belastetem Boden. Zum Vergleich: | |
Allein die Grube Antonie umfasst ein Volumen von 5 Millionen Kubikmetern. | |
„Insgesamt reden wir von rund 100 Millionen Kubikmetern“, sagt Basmer. | |
Von Anfang an ging es aber in Bitterfeld auch noch um etwas anderes, | |
erklärt Evelyn Schaffranka, die neben Basmer in dessen Büro sitzt. Mit | |
Blick auf den neuen Chemiepark. Schaffranka ist stellvertretende | |
Geschäftsführerin der Landesanstalt für Altlastenfreistellung des Landes | |
Sachsen-Anhalt, Auftraggeberin der MDSE. Seit 20 Jahren beschäftigt auch | |
sie sich mit den Hinterlassenschaften der DDR-Industrie. „Helmut Kohl hat | |
schon klargemacht, dass der Chemiestandort erhalten bleiben soll“, sagt | |
Schaffranka. Und das sei gelungen. Rund um Bitterfeld gibt es nicht nur die | |
vielbelachten blühenden Landschaften, sondern auch 12.000 Arbeitsplätze in | |
den seit der Wende angesiedelten 300 Chemie- und Industrieunternehmen. | |
Nach 1989 wurden die zerschlissenen Industriebauten abgerissen. Chemieriese | |
Bayer war 1991 das erste Unternehmen aus den alten Bundesländern, das sich | |
hier ansiedelte. Aspirin für ganz Europa wird inzwischen in Bitterfeld | |
hergestellt. Bayer herzuholen war wichtig – dafür wurden Grundstücke | |
hergerichtet und dekontaminiert. „Da haben wir schon ein Stückchen mehr | |
gemacht“, sagt Schaffranka. Noch heute werden Grundstücke auf dem Gelände | |
des einstigen Chemiekombinats vermarktet. Wenn ein Investor kommt, dann | |
wird der kontaminierte Boden zwei bis drei Meter tief ausgekoffert und neu | |
aufgefüllt. „Keller kann man hier natürlich nicht bauen“, sagt Schaffrank… | |
[3][Die Verwaltung der Altlasten in Bitterfeld] und Umgebung sind zu einem | |
Unternehmen geworden. Regelmäßig reisen Delegationen aus aller Welt | |
hierher, um sich am kompliziertesten Altlastenstandort Deutschlands | |
erklären zu lassen, wie man diese dauerhafte Gefahrenabwehr organisiert. | |
Für die Anwohner*innen sei die Verwaltung der unterirdischen Gifte | |
dagegen zu einer selbstverständlichen öffentlichen Leistung geworden, sagt | |
Ronald Basmer. So wie die Müllabfuhr oder das Wasser aus der Leitung. | |
Und was kostet diese Selbstverständlichkeit? Mit einem Sonderfonds über | |
eine Milliarde Euro habe sich der Bund im Jahr 2000 als Rechtsnachfolger | |
der DDR freigekauft, erklärt Schaffranka. Das war mehr als jedes andere | |
ostdeutsche Bundesland bekommen hat. „Zu der Zeit erschien das völlig | |
auskömmlich.“ Aber man hatte mit den damaligen Zinsen gerechnet. Jedenfalls | |
ist der Sonderfonds bereits auf geschätzte 670 Millionen Euro geschmolzen, | |
eine genaue Zahl für 2020 gibt es bislang nicht. Das ist immer noch eine | |
immense Summe. Aber jedes Jahr kosten die Altlasten Sachsen-Anhalt rund 60 | |
Millionen Euro. Bitterfeld hat 2020 ein Viertel der Kosten verursacht. Man | |
kann sich leicht ausrechnen, dass das Geld keine Ewigkeit reichen wird. | |
„Irgendwer wird weiter bezahlen müssen“, sagt Schaffranka. | |
Die Menschen, die Bitterfeld noch aus einer Zeit kannten, in der es über | |
und unter der Erde gleich dreckig war, werden dann nicht mehr da sein. „Man | |
muss sehen, was geschafft wurde“, sagt Ronald Basmer, der in diesem Jahr in | |
Rente geht. | |
Fred Walkow, der langjährige Bitterfelder Umweltdezernent, fährt mit uns | |
noch zum Spittelwasser. Ein Bach, der einst die Abwasser aus Wolfen | |
ungefiltert in die Mulde trug und mal purpurfarben, mal giftgrün | |
dahinfloss. Und immer stank. „Zu DDR-Zeiten war das gesamte Gebiet am | |
Spittelwasser biologisch tot“, sagt Walkow, der es noch mit eigenen Augen | |
gesehen, mit eigener Nase gerochen hat. Direkt im Uferbereich bauten | |
Kleingärtner Erdbeeren und Tomaten an. So war das halt. | |
Und nun biegen wir an der Landstraße aus Bitterfeld raus nach Norden in | |
einen Birkenwald. Eine kleine Brücke führt über das gebirgsbachklare | |
Spittelwasser, zwei Stockenten fliegen auf. „Wie bestellt“, sagt Walkow | |
zufrieden. In den 1990ern habe ihn mal einer gefragt, was seine Vision für | |
Bitterfeld im Jahr 2000 sei. „Eine Biberplage hab ich mir gewünscht“. | |
Tatsächlich leben Biber, Fischotter, Reiher und Störche hier am Rande des | |
Unesco-Biosphärenreservats Mittelelbe. „Es war ein Erlebnis, zu sehen, wie | |
die Natur zurückkommt.“ | |
Die Natur hat die Lasten der Vergangenheit überwuchert. Mit gigantischem | |
Aufwand wird das Oben vom Unten getrennt. Schächte sind zugeschüttet, | |
Keller werden nicht mehr gebaut, das Grundwasser künstlich ferngehalten, | |
nur Denkmäler erinnern an früher. Nichts sehen, nichts hören, nichts | |
riechen. Ja, fast könnte man vergessen, dass es unter der Erde noch | |
gewaltig stinkt. Für eine Ewigkeit. | |
16 Jul 2021 | |
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Manuela Heim | |
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