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# taz.de -- Bodenversiegelung in Niedersachsen: Bauboom auf der grünen Wiese
> Im Emsland wird so viel Boden verbraucht wie kaum anderswo. Im Kreis
> Diepholz geht ein Bürgermeister gegen den Flächenfraß vor. Mit Erfolg.
Bild: Traum vom Eigenheim: Niedersachsen versiegelt immer mehr
Haselünne/Barnstorf taz | Plötzlich steht das kleine Eichhörnchen mitten
auf dem plattgewalzten Grund und sieht sich besorgt um. Es entdeckt den
großen gelben Bagger, der einsam in der Mitte steht, und sprintet unter
ihn. „Das arme Kerlchen“, sagt Katja Hübner. Auf offenem Terrain ist das
Eichhörnchen ungeschützt vor Greifvögeln. „Der hat Angst, dass ihn ein
Habicht entdeckt“, sagt Hübner. Zum Sprint setzt das rotbraune Nagetier an,
um sich 30 Meter entfernt im Wald in Sicherheit zu bringen.
Bis vor einigen Monaten hätte sich das Eichhörnchen an selber Stelle nicht
vor Greifvögeln fürchten müssen. Da war die zwei Fußballfelder große Fläc…
noch ein Waldstück. Nun ist sie platt, eingeebnet vom Bagger. Die Bauplätze
sind mit Holzpflöcken abgesteckt für ein gutes Dutzend Einfamilienhäuser;
die Straße, die künftig die Häuser anbinden soll, ist schon asphaltiert.
Es ist der Beginn der Versiegelung. Wie hoch der versiegelte Anteil künftig
sein wird, lässt sich rechts der Fläche schon erahnen: Dort stehen bereits
acht Einfamilienhäuser, mal rot, mal weiß verklinkert, mitsamt ihren
gepflasterten Auffahrten und Schottervorgärten.
„Es war mal ein Mischwald, in dem auch Fledermäuse, Waldkauze, Spechte und
Kleiber lebten“, sagt Hübner und streicht sich die rotlockigen Haare aus
dem Gesicht. Wie es hier vorher aussah, lässt sich zur linken Seite hin
erahnen: Dort steht der Wald noch.
Hübner ist beim Naturschutzbund Nabu im Emsland tätig und wohnt mit ihrer
Familie wenige Hundert Meter entfernt in Lehrte, einem Ortsteil von
Haselünne im tiefsten Emsland. „Und jetzt geht es hier los, dass nicht mehr
nur Äcker, sondern sogar Waldflächen für den Siedlungen und Gewerbe platt
gemacht werden“, sagt sie. Dabei gebe es ja ohnehin schon kaum Wald in der
Region.
Im Emsland wird nach Einschätzung des Kölner Instituts der Deutschen
Wirtschaft (IW) zu viel gebaut. Wohnimmobilien sind in ganz Niedersachsen
gefragt, aber das Emsland steht bei dieser Entwicklung an der Spitze und
hat landesweit am meisten neue Flächen Bauland ausgewiesen – das geht aus
der jüngsten „Wohnbauland-Umfrage“ der landeseigenen N-Bank für den
Zeitraum 2018/2019 hervor. „Das glaube ich sofort“, sagt Hübner und
schnauft.
## 126 Hektar vor allem für Einfamilienhäuser
Der Flächenlandkreis Emsland hat der Analyse zufolge insgesamt 126 Hektar
neues Wohnbauland geschaffen – [1][darauf entstanden sind überwiegend
Einfamilienhäuser.] Aus dem Stegreif zählt Hübner auf, was für Folgen der
Flächenverbrauch und die Versiegelung der Böden zur Folge hat: Der Boden
filtert nicht mehr das absickernde Wasser, wodurch es wiederum langfristig
am Grundwasser mangelt und bei Starkregen zu Überschwemmungen kommen kann.
Das Lokalklima heizt sich auf.
Und wenn immer mehr Ackerflächen versiegelt werden, muss die Landwirtschaft
die [2][Gülle auf weniger Fläche loswerden] – die Schadstoffkonzentration
nimmt dort zu. „Ich konnte letztens beobachten, wie sich die Amseln schon
bis auf den Tod bekämpften“, sagt Hübner. Den Tieren geht der Lebensraum
verloren, einfach auf die nächste Fläche ausweichen können sie nicht – da
ist schon das Revier und die Nahrung von anderen.
Zwischen der Neubausiedlung und dem Ortskern von Lehrte ist ein kleiner
Acker, auf dem gerade der Mais wächst. „Der Bauer wollte wohl nicht
verkaufen“, sagt Hübner. Die Landwirte stehen schließlich selbst immer mehr
unter Druck. Verkleinern sie ihre Geschäftsgrundlage, wird es für sie immer
schwieriger, im Wettbewerb zu bestehen. Für die aktuellen und künftigen
Bewohner:innen der Siedlung ist das Feld zwischen sich und der
Ortschaft wohl willkommene Idylle: Sie wohnen komplett umgeben vom Acker
und dem Wald: ein Leben im Grünen.
Für den Ort ist das hingegen eine zwiespältige Entwicklung – zwar wirken
Dörfer der Überalterung der Bevölkerung durch die Bereitstellung von
Baugebieten entgegen, weil es ja meist junge Familien sind, die dort bauen,
andererseits zersiedeln die Ortschaften durch jede Erweiterung immer mehr.
„Dadurch leidet sicherlich auf lange Sicht die Dorfgemeinschaft“, sagt
Hübner.
## Ein Bewusstsein zu schaffen, reicht nicht
Sie zeigt auf Google Maps auf ein Waldgebiet kurz vor dem Ortseingang von
Haselünne. Auf dem Weg dorthin blickt Hübner entlang der Straßenränder
ständig auf den nicht versiegelten Boden. Sie schaut, welche Gräser dort
wachsen oder wo in den sandigen Böden klitzekleine Häufchen mit einem Loch
in der Mitte sind – die Nistplätze von Sandbienen.
Beim Nabu, sagt sie, geht’s nicht nur darum, gegen unökologische Projekte
zu wettern, sondern auch aktiv bei der Verbesserung der Umwelt zu helfen.
Zu Hause pflegt sie eine Fledermaus, die flugunfähig ist. Und im
Unterschied zu den Nachbarn ist bei den Hübners der Rasen nicht akkurat
gemäht, sondern eine wildwachsende Sträucherwiese.
Am Ortseingang von Haselünne angekommen, zeigt sich, dass die digitale
Luftansicht veraltet ist. Statt eines Kiefernwaldes ist hier nun eine hell
strahlende Sandwüste, 150 Meter breit und 400 oder 500 Meter lang. Sechs
Bagger planieren gerade mühsam das Gelände. Den überschüssigen Sand haben
sie schon aufgehäuft, er überragt sie um einige Meter. „Früher war das hier
noch sehr hügelig – eine eiszeitliche Moräne“, erklärt Hübner, daher ko…
der ganze Sand.
Ein anderer Bagger, der am rechten Rand steht, füllt unermüdlich einen
großen Häcksler, um die Äste und Sträucher der Fichten zu zerkleinern.
Einige der Stämme liegen noch am Rand gestapelt, bereit zur Abholung.
Anfang des Jahres begannen die Rodungsarbeiten. Bald soll der Platz für ein
Gewerbegebiet vorbereitet sein.
Vor langer Zeit war das Emsland mal eine arme Region, doch das ist längst
vorbei. „Es boomt hier wirtschaftlich“, sagt Hübner, die vor elf Jahren
nach Lehrte gezogen ist. Laut Prognosen soll die Einwohnerzahl in der
Region in den kommenden Jahrzehnten leicht wachsen – doch der
Flächenverbrauch wächst ungleich schneller.
In nahezu jeder Ortschaft im Emsland gibt es zwei markante Ansichten: ein
Neubaugebiet auf der grünen Wiese – und eine Andachtsstation mit Jesus-,
Marien- und anderen Heiligenstatuen, an der sich Gläubige beim Vorbeigehen
bekreuzigen können, was man sonst nur aus Süddeutschland kennt. Rund 70
Prozent der Emsländer:innen sind katholisch. Die CDU hat seit
Jahrzehnten ein Abo auf jeden Wahlsieg. „Hier im Emsland ist das
Bewusstsein für einen schonenden Umgang sicher noch nicht so weit
verbreitet“, sagt Hübner.
Dennoch, bei den anstehenden Kommunalwahlen im Herbst können die
Wähler:innen in Haselünne zum ersten mal ein Kreuz bei den Grünen
setzen, das gab es bislang noch nie. „Ein Bewusstsein bei den Menschen zu
schaffen, reicht sicherlich nicht – es braucht konkretes politisches
Handeln“, sagt Hübner. Wie das aussehen könnte, zeigt sich knappe 70
Kilometer weiter östlich.
## Eine Gemeinde, die es besser macht
Die Samtgemeinde Barnstorf liegt im Landkreis Diepholz in der Nähe von
Bremen. Es ist flach dort, entlang der Landstraßen erstrecken sich
Maisfelder. Bei der Autofahrt hat Jürgen Lübbers die meiste Zeit nur eine
Hand am Lenker. Mit der anderen muss er entweder Leute grüßen, die ihm im
Auto oder auf den Fußwegen entgegenkommen – oder er zeigt damit auf Häuser
rechts und links der Straßen.
„Hier, das war vorher auch Brachland“, sagt er und zeigt auf ein modernes
Mehrfamilienhaus. „Und hier rechts, die Fläche konnten wir auch zur
Innenverdichtung gewinnen.“ Bei einem dritten Gebäude freut er sich
besonders: „Hier ist das erste Mehrgenerationenhaus entstanden.“
Der freundliche Herr Lübbers – weiße Haare, weißer Bart, weißes,
kurzärmeliges Hemd – fährt nicht nur gern durch seine Heimatgemeinde, er
reist mittlerweile mehrmals im Jahr für Vorträge durch die ganze
Bundesrepublik, um von Barnstorf zu erzählen. Und um anderen ländlichen
Gemeinden und Städten zu zeigen, wie sie ihren Flächenverbrauch und damit
die Versiegelung reduzieren – und damit auch noch der Verödung der
Ortskerne entgegenwirken können.
Lübbers ist Bürgermeister der Samtgemeinde. Schon die Ausbildung zum
Verwaltungsbeamten hatte er, in den 1970ern, im Rathaus in Barnstorf
gemacht. Zwischenzeitlich, Anfang der 90er, verschlug es ihn für den Posten
des Amtsleiters in den Landkreis Bitterfeld im Osten. Lübbers ist seit 23
Jahren Bürgermeister der Samtgemeinde. Im Herbst geht er in Rente.
Die Samtgemeinde besteht neben Barnstorf noch aus drei weiteren
Ortschaften. Entgegen der allgemeinen Tendenz im ländlichen Niedersachsen
wächst die Gemeinde seit einigen Jahren kontinuierlich. Schon allein
deswegen müsste es hier, ähnlich wie im Emsland, eine stark zunehmende
Umwandlung von Wiesen, Äckern oder gar Wäldern in Siedlungs- und
Gewerbegebiete geben.
Doch schon vor mehr als einem Jahrzehnt hat die Samtgemeinde beschlossen,
nicht mehr auf der grünen Wiese bauen zu lassen. Damit stemmt sie sich beim
Flächenverbrauch und bei der Versiegelung gegen den allgemeinen Trend – und
wird regelmäßig von Umweltverbänden gelobt.
„Ehrlich gesagt: Um Nachhaltigkeit ging es mir anfangs nicht“, sagt
Lübbers. 2005 schloss überraschend die Bundeswehrkaserne vor den Toren
Barnstorfs. Die Gemeinde überlegte, wie sie auf der Fläche
Gewerbetreibende ansiedeln könnte. Lübbers ging auf die Suche nach
Fördermitteln und stieß dabei auf ein Förderprogramm des Bundes, das,
wissenschaftlich begleitet, Kommunen beim sparsamen Umgang mit Flächen
unterstützt. „Irgendwann hat es dann auch bei mir Klick gemacht, dass das
ökologisch sinnvoll ist.“
Die Ansiedlung neuer Gewerbetreibender auf dem ehemaligen Kasernengelände
gelang ohne neue Versiegelung von Ackerflächen – nun sollte die gesamte
Gemeinde sich nach diesem Prinzip entwickeln.
Er habe viel Überzeugungsarbeit leisten müssen – auch hinter den Kulissen.
„Manche hier im Rathaus waren entgeistert, als ich vorschlug, nicht mehr
auf der grünen Wiese bauen zu lassen“, sagt Lübbers und lacht munter. Auch
in Barnstorfs Verwaltung war man davon überzeugt, es sei gut, so viel wie
möglich neues Bauland auszuweisen. „Ich habe auch so gedacht“, sagt
Lübbers.
2008 konnte er im Gemeinderat einen Grundsatzbeschluss durchboxen. „Es kam
zur Kampfabstimmung und wir haben sie knapp gewonnen.“ Der zentrale Satz
des Beschlusses lautet: „Im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung und eines
schonenden Umganges mit den natürlichen Ressourcen wird die Samtgemeinde
Barnstorf ein nachhaltiges Flächenmanagement durchführen.“
## Zustimmung zur Verdichtung
„Nachhaltiges Flächenmanagement“ ist ein sperriger Begriff. Konkret
bedeutete er: Die Verwaltung ging auf die Suche nach allen Brachflächen
innerorts und versuchte, die Eigentümer:innen davon zu überzeugen,
ihre Zustimmung zur Verdichtung zu geben. Heute leistet die Gemeinde auch
finanzielle Unterstützung, wenn Einwohner:innen alte, marode Häuser
abreißen, um darauf neu zu bauen. „Für eine Sanierung braucht es viel
Geld“, sagt Jürgen Lübbers. Aber neu versiegelt wird dadurch nichts.
Auch sein Büro im Rathaus ließe sich als nachhaltig beschreiben – es
versprüht den Charme von Amtszimmern aus den 90er Jahren. An der Wand
hängen Luft- und Landkarten der Samtgemeinde. Der Drucker, der links von
ihm auf einem Tisch steht, könnte aus derselben Zeit stammen.
Aus seinem Fenster schaut der Bürgermeister raus auf Barnstorfs
Hauptstraße, auf den Ortskern mit seiner Handvoll Geschäfte, die trotz der
vielen Schwierigkeiten, die ländliche Gemeinden haben, noch immer
existieren: „Hätten wir nicht auf einen nachhaltigen Umgang mit Flächen
gesetzt, wäre hier heute viel verfallen und verödet“, sagt Lübbers.
Jetzt wohnen mehr Ältere im Zentrum, denen das alte Haus zu groß geworden
ist. „Das ist natürlich für die Geschäftsleute sehr gut“, sagt Lübbers.
Ihre Kund:innen wohnen nun nebenan.
„Mit dem Boden nachhaltig umgehen wird man nicht von heute auf morgen“,
sagt Lübbers. Auch in Barnstorf werden noch Äcker in Siedlungen verwandelt
und versiegelt. Mit seinem grauen Auto biegt er links in ein Neubaugebiet
ein. „Barnstorf wächst seit einiger Zeit rapide“, sagt Lübbers.
Dicht an dicht drängeln sich die Einfamilienhäuser aneinander, jeweils nur
durch ein, zwei Meter breite Rasenflächen getrennt. Außer dem Rasen und
einigen Zierrosen wächst innerhalb der Siedlung nichts. Kein Beet, keine
Büsche – graue Wüste umgeben von grünen Feldern.
„Da würden wir wohl beim nächsten Mal etwas rigidere Vorgaben für eine
geringere Versiegelung machen“, sagt Lübbers. Es braucht Geduld.
27 Jun 2021
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## AUTOREN
André Zuschlag
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