| # taz.de -- Landtagswahl in Sachsen-Anhalt: Da ginge mehr | |
| > Kein Bundesland hat ein höheres Durchschnittsalter als Sachsen-Anhalt. | |
| > Doch wie blicken die jungen Menschen dort auf das Land? | |
| Bild: Der letzte Schultag in Magdeburg | |
| Wernigerode/Bitterfeld/Halle taz | In Sachsen-Anhalt sind die Menschen im | |
| Durchschnitt 48 Jahre alt – laut Statistischem Landesamt. In keinem anderen | |
| Bundesland ist das Durchschnittsalter so hoch. Die Bedürfnisse der Älteren | |
| bestimmen demnach auch die Landtagswahlen an diesem Sonntag. Was aber ist | |
| mit den jungen Menschen dort? Wie sehen sie das Land? Was wollen sie von | |
| der Politik? Und wie verschaffen sie sich Gehör? | |
| Kürzlich gelang es der Band Sorry3000 aus Halle an der Saale, die ihre | |
| Musik manchmal als „Real Pop aus Sachsen-Anhalt“, manchmal auch als | |
| „Loserpop“ bezeichnen, deutschlandweit Aufmerksamkeit zu erregen. Ihr 2020 | |
| erschienenes Album „Warum Overthinking dein Leben zerstört“ wurde von dem | |
| Musikjournalisten [1][Linus Volkmann] als „wichtigste Deutschpop-Platte | |
| eines gänzlich unnormalen Jahres“ gelobt. | |
| In ihrem Song „Tarifgebiet“ fasst die Band das Dilemma Sachsen-Anhalts so | |
| zusammen: „Als Reisender im ICE tut Sachsen-Anhalt niemand weh“ Und: „Die | |
| Gründung einer Existenz entspricht hier nicht den Wirtschaftstrends.“ Wenn | |
| das der Ausblick junger Menschen aufs Land ist, was dann? | |
| Frank Leiden, Sänger und Gitarrist der Band, braucht einen Moment, um auf | |
| diese Frage zu antworten. „Als wir den Song 2015 geschrieben haben, waren | |
| das eben die Themen, die uns damals beschäftigten. Unser Leben sieht jetzt | |
| anders aus, wir waren da alle noch Studis.“ Frank Leiden ist 2012 nach | |
| Halle gezogen. „Vielleicht hängt unser Begriff „Loserpop“ auch damit | |
| zusammen, dass man hier nicht unbedingt cool sein muss, um eine gute Zeit | |
| zu haben“, sagt er. | |
| Angesprochen auf den Song „Tarifgebiet“ sagt Gesa Gärtner: „Das trifft�… | |
| schon.“ Sie lebt in Wernigerode, gut 100 Kilometer westlich von Halle. Es | |
| ist ein beliebter Touristenort im Harz – und auch meine Geburtsstadt. Gesa | |
| Gärtner hat 2019, noch als Schülerin, die ersten Fridays-for Future-Streiks | |
| organisiert. | |
| Inzwischen ist sie 20 Jahre alt und kürzlich nach Leipzig gezogen. Sie habe | |
| zusammen mit anderen Aktivist:innen nicht gerade das Gefühl gehabt, mit | |
| ihrem Engagement fürs Klima von einem breiten Teil der Regierung ernst | |
| genommen zu werden. Trotzdem sei dies nicht der Grund für ihren Umzug | |
| gewesen. „Ich wollte einfach etwas anderes sehen. Ist doch normal, oder?“ | |
| ## Grüne Skepsis | |
| Jüngere in Wernigerode halten die Fridays-for-Future-Bewegung nun aufrecht. | |
| Einer von ihnen ist Antonius Richter; mit 17 Jahren wäre er nach den | |
| Forderungen der Grünen im Land bereits seit drei Jahren wahlberechtigt. | |
| „Kulturell würde hier noch viel mehr gehen“, sagt er. „Und es muss | |
| einfacher und vor allem günstiger werden, sich fortzubewegen, wenn man | |
| nicht gerade in Halle oder Magdeburg lebt.“ | |
| Tatsächlich ist Kultur ein wichtiges Thema in Sachsen-Anhalt. Die Szene ist | |
| im Aufschwung. Durch eine Reform Anfang des Jahres bekommen freie Theater | |
| künftig bessere Förderungen. Was wiederum Literatur angeht, ist der | |
| sachsen-anhaltische Sitz des bundesweit agierenden Literaturfördervereins | |
| Friedrich-Bödecker-Kreis e. V einer der wohlhabendsten Deutschlands. Zudem | |
| zählt Sachsen-Anhalt zu den Ländern mit der größten Dichte an | |
| Unesco-Welterbestätten. Doch ohne ein zuverlässiges öffentliches | |
| Verkehrsnetz wird der Besuch von Kulturveranstaltungen und -einrichtungen | |
| erschwert. Denn 80 Prozent der Bevölkerung Sachsen-Anhalts lebt im | |
| ländlichen Raum. | |
| ## Probleme der Provinz | |
| Kultur und Klimapolitik sind Themen, die in Städten verhandelt werden; sie | |
| stoßen bei einer Befragungsrunde im Oberharz auf wenig Interesse. „Es kann | |
| doch nicht sein, dass es hier kaum Internetempfang gibt und die Fahrt in | |
| den nächsten Ort immer anstrengender wird, weil die Spritpreise steigen“, | |
| ruft ein junger angehender Kfz-Mechaniker. „Wir sind hier auf unser | |
| Fahrzeug angewiesen“, sagt ein Zweiter. „Und mal ganz ehrlich“, fügt er … | |
| ernstem Blick hinzu, „wenn ich mir unsere Wälder angucke, wird mir angst | |
| und bang. Besser wäre es, Pestizide einzusetzen, als weiterhin dieses Elend | |
| zu sehen.“ | |
| Der dramatische Zustand der Harzer Wälder wird neben Borkenkäferplagen vor | |
| allem durch Unwetter und Dürre verschlechtert, was nicht zuletzt auf den | |
| Klimawandel zurückzuführen ist. Die riesigen Kahlstellen und die sichtbare | |
| Zerstörung bilden ein generationsübergreifendes Thema, das den Leuten, die | |
| das direkt vor ihrer Tür miterleben, Sorgen bereitet. Trotzdem stehen auch | |
| junge Menschen hier den in Sachsen-Anhalt stärker werdenden Grünen, die | |
| sich gegen Fichtenmonokulturen aussprechen und einen sich selbst | |
| regenerierenden Wald fordern, skeptisch gegenüber. | |
| Als ich der grünen Landtagsabgeordneten Cornelia Lüddemann auf ihrer | |
| Wahlkampftour von den Sorgen der jungen Menschen auf dem Land erzähle, | |
| nickt sie bedächtig. „Veränderung braucht Zeit“, sagt sie. „Aber bei | |
| gewissen Dingen bleibt einfach keine Zeit mehr. Trotzdem kann ich die | |
| Unsicherheit der Menschen verstehen.“ | |
| Demografie, Klimaschutz und das Gefühl, als Land abgehängt zu sein, das | |
| sind die Fragen, die ich auch anderen Politiker*innen auf | |
| Wahlkampftour stelle. Allen spiele ich zunächst den Song „Tarifgebiet“ vor. | |
| ## Solidarisch und bunt | |
| Die Linken steigen auf das Lied ein: Oliver Wiebe, Pressesprecher der | |
| Landtagsfraktion, zitiert daraus einige Verse auf Twitter und fügt einen | |
| euphorischen Appell hinzu: „Machen wir etwas dagegen. Machen wir das Land | |
| solidarischer, bunter und kreativer.“ Die Spitzenkandidatin der Linken, Eva | |
| von Angern, sieht gerade den Ausbau des kulturellen Angebots als essenziell | |
| an, wenn es darum geht, das Land für junge Menschen lebenswerter zu | |
| gestalten. | |
| Sachsen-Anhalts Wirtschaftsminister Armin Willingmann, SPD, ist weniger | |
| euphorisch: „Erinnert mich irgendwie an Neue Deutsche Welle. Ein bisschen | |
| zynisch das Ganze.“ Ein Demografieproblem sieht er nicht, er betont aber | |
| die Notwendigkeit einer „anderen Außenwirkung des Landes. Sachsen-Anhalt | |
| muss längst nicht mehr nur mit billigen Mieten werben“, sagt Willingmann. | |
| In fast allen Parteiprogrammen existieren Pläne für den Ausbau des | |
| digitalen Netzes und des öffentlichen Nahverkehrs, der auch noch günstiger, | |
| wenn nicht gleich kostenlos nutzbar gemacht werden soll. Zudem sollen mehr | |
| Kulturstätten errichtet werden. Das klingt attraktiv. Und trotzdem planen | |
| laut einer Studie der Universität Maastricht zwei von drei Studierenden | |
| nach dem Abschluss, Sachsen-Anhalt zu verlassen. | |
| Janine Koska, sie ist 38, wohnt mit ihrer Familie in Magdeburg und leitet | |
| eine PR-Agentur. In dem TV-Format „Meine Meinung“ des Mitteldeutschen | |
| Rundfunks forderte sie anlässlich der anstehenden Landtagswahl keine | |
| Imagekampagne, dafür aber eine echte Vision für Sachsen-Anhalt. Wie diese | |
| aussehen könnte, frage ich. | |
| „Wir haben den Harz, viel Geschichte und das Moderne muss jetzt einfach nur | |
| in die Zukunft gedacht werden“, sagt Koska. „Ich kann mir vorstellen, dass | |
| Sachsen-Anhalt die Modellregion für neue Arbeit wird. Themen wie | |
| Start-up-Kultur, Bildung, Diversity, Nachhaltigkeit und vor allem | |
| Digitalisierung müssen in den Fokus rücken.“ | |
| Dennoch wird Sachsen-Anhalt ein entscheidendes Problem nicht durch eine | |
| schnellere Internetverbindung und eine noch bessere Imagekampagne | |
| loswerden. In dem Song „Tarifgebiet“ wird das Problem ebenfalls besungen, | |
| und zwar so: „Und draußen vor der großen Stadt stehen die Faschos sich die | |
| Füße platt.“ | |
| Als ich Frank Leiden, den Gitarristen der Band, frage, welche Veränderungen | |
| er sich für Sachsen-Anhalt wünsche, spricht er sofort von der Bekämpfung | |
| des Antisemitismus und Faschismus im Land. Die mittlerweile in Leipzig | |
| lebende FFF-Aktivistin Gesa Gärtner erinnert sich an rechte Aufmärsche in | |
| ihrer Heimatstadt. „Das waren wirklich stramme Faschos. Mit SS- und | |
| 88–Tattoos, das volle Programm. Viele meiner Komiliton:innen haben so | |
| etwas in ihren Heimatstädten nie gesehen.“ | |
| ## Mehr Gewalt von Rechten | |
| Laut einer [2][unabhängigen Statistik der Mobilen Beratung für Opfer | |
| rechter Gewalt] nahm die rechte Gewalt in Sachsen-Anhalt 2020 im Vergleich | |
| zum Vorjahr zu, „trotz der pandemiebedingten öffentlichen | |
| Einschränkungsmaßnahmen“. Rechtsextremer Terror und rechte Gewalt in | |
| Sachsen-Anhalt sind die größten politischen Gefahren. Sie greifen die | |
| Demokratie und die gesamtgesellschaftliche Sicherheit an. Zuallererst | |
| bemerkt man es im alltäglichen Wohnumfeld. | |
| Wenn aber Menschen, die bereit wären, sich dem auch in ihrem Wohnumfeld | |
| entgegenzustellen, darunter sind oft junge Leute, Sachsen-Anhalt verlassen, | |
| dann hat das Land keine Zukunft. Vielleicht geht es vor allem darum: das | |
| Leben dieser Menschen sicher zu gestalten. | |
| 6 Jun 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://kaput-mag.com/critics_de/sorry3000-warum/ | |
| [2] https://www.mobile-opferberatung.de/jahresbilanz-der-mobilen-opferberatung-… | |
| ## AUTOREN | |
| Aron Boks | |
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