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# taz.de -- Zum Ende des Jahres: Wie geht gemeinsames Nachdenken?
> Es gibt Orte, vielleicht auch Zeiten, in denen Träume es besonders schwer
> haben, weil die Realität den Menschen bereits sehr viel abverlangt.
Bild: Ein Bild des Herschel-Weltraumobservatoriums zeigt die Andromedagalaxie
Eines meiner Lieblingsbücher ist „An Awesome Book!“ von Dallas Clayton. Es
gehört zu den Büchern, die auf den ersten Blick in die Kategorie Kinderbuch
fallen, aber viel häufiger auch von Erwachsenen gelesen werden sollten. Auf
dem Cover ist ein zotteliges grünes Monster abgebildet. Es hält in beiden
Händen den Erdball und hat das Maul weit aufgerissen, so als würde es
extrem über die Welt staunen. Auf der Rückseite sind ein paar Einhörner auf
Skateboards und mit Raketen auf dem Rücken zu sehen und das Buch wird
beschrieben mit dem Satz „a little book about dreaming big“, also „ein
kleines Buch über großes Träumen“.
Ich schreibe das hier, weil ich das Gefühl habe, dass wir dieses Jahr mit
Meinungsstücken durch sind. Für eine Kolumnistin keine hilfreiche
Erkenntnis, ist das hier ein prädestinierter Meinungsplatz. Mein Job ist
eigentlich auch, eine Meinung zu haben. Doch weniger, um Recht zu haben,
sondern um etwas zum gemeinschaftlichen Nachdenken beizutragen.
Wie bei vielen Dingen bin ich mir dieses Jahr allerdings nicht mehr so
sicher, wie genau das funktioniert, gemeinschaftlich nachdenken. Weil es so
viele Baustellen gibt, und sie alle drängen. [1][Weil wir uns an
Todeszahlen gewöhnen] und uns keine Wege mehr einfallen, Missstände so zu
erzählen, dass sie uns berühren. Aber wie ich es drehe und wende komme ich
immer wieder an den Punkt, dass gerade genug gemeint ist.
Wichtige Ansichten sind schon aus vielen klugen Mündern gesagt: Das
Gesundheitssystem ist im Arsch. Solidarität ist mehr als Performance. Horst
Seehofer ist weiterhin kein geeigneter Innenminister. Wir brauchen eine
langfristige Strategie gegen Rechtsextremismus und Rassismus. [2][Ein
Lockdown light ist kein Lockdown]. Europäische Überlegenheit is over. Die
Krise trifft nicht alle gleich. [3][Applaus bezahlt keine Miete]. Menschen
brauchen Hoffnung. Sie wissen schon.
In dem Buch von Dallas Clayton geht es um keines dieser Dinge, jedenfalls
nicht direkt. Es geht um magische Boote aus Wassermelonen und um Autos, die
nicht mit Benzin sondern mit Jelly Beans fahren. Um Menschen, die aufgehört
haben zu träumen, und um die, die es gar nicht erst versuchen. Und um Orte,
vielleicht auch Zeiten, in denen Träume es besonders schwer haben, weil die
Realität den Menschen sehr viel abverlangt.
Ich denke, dass gerade so eine Zeit ist. Und gerade deshalb ist es nicht
nur kurz schön, sondern auch langfristig nötig, von Wassermelonenbooten zu
lesen. Fantasie ist ja viel mehr als Realitätsflucht (obwohl die ab und an
eine absolut legitime Sache ist). Nur wer sich Dinge vorstellen kann, die
außerhalb des tatsächlich Möglichen liegen, ist auch dazu in der Lage, die
Realität ein bisschen besser zu machen. Wirklich revolutionäre Ideen kommen
selten davon, dass man 30 Jahre lang die gleichen Phrasen durchkaut. Und
vielleicht brauchen wir das, gegen die Gewöhnung und die Müdigkeit: kleine
oder große fantastische Revolutionen.
8 Dec 2020
## LINKS
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## AUTOREN
Lin Hierse
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