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# taz.de -- Nach rassistischem Attentat in Hanau: Die Routine
> Für viele war es nur ein weiterer Skandal. Unsere Autorin denkt seit dem
> rassistischen Attentat in Hanau an jedem 19. des Monats an die Opfer.
Bild: Erinnerung im Stadtbild: Plakate mit Gesichtern der Opfer des Attentats i…
Routinen gelten als gesund. Zu Beginn der Pandemie habe ich gelesen, dass
es besonders wichtig sei, sich neue Routinen zu schaffen, wenn die alten
wegbrechen. Eine neue Routine ist, dass jetzt häufiger Wespen Zuflucht in
meiner Wohnung suchen und ich sie lasse. Sie sind meistens sehr schwach und
kommen bei mir vorbei, um zu sterben. Wespen gehören eigentlich zu den Top
Drei der Lebewesen, die ich verfluche. Aber die, die jetzt zum Sterben
vorbeikommen – mit denen habe ich Mitleid.
Im Gegenzug bemerke ich, dass häufiger Arschlochmenschen aus ihren
Wohnungen nach draußen gehen. Es heißt, dass sie nach draußen gehen, [1][um
zu demonstrieren]. Sie demonstrieren hauptsächlich Arschlochtum. Manche
tragen einen gekreuzigten Jesus mit sich herum, manche tragen
Herzchenluftballons, manche tragen Hoodies mit Sophie-Scholl-Aufdruck,
manche tragen abgeklebte Tattoos. Maske tragen sie nicht. In der Regel habe
ich Mitgefühl mit Menschen, aber für diese Leute habe ich nur Verachtung.
Es gibt Tage, da kann ich Routine, und welche, da kriege ich nichts hin.
Morgens eine Runde raus, um einen Arbeitsweg zu suggerieren. Mittags weg
vom Bildschirm. Meine zuverlässigste Routine ist die Neunzehn. Sie kommt
von allein, an jedem 19. des Monats, pünktlicher als meine Periode.
Manchmal schließe ich den Briefkasten auf und sie klemmt zwischen der
Zeitung und dem Flyer einer Entrümpelungsfirma. Manchmal türmt sie sich vor
meiner Haustür auf wie ein überdimensionaler Laubhügel. Oder sie leuchtet
auf dem Handydisplay. An jedem 19. [2][denke ich an Hanau].
Als hätte ich Kreuzchen im Kalender gemacht, habe ich aber nicht. Mein
Kalender ist seit dem Frühling ein Souvenir von anderswo. Ich frage mich,
ob bei der Bundeskanzlerin irgendwo ein Post-it rumfliegt, auf dem steht
„noch mal was zu Hanau sagen“. Ob es ihr ein schlechtes Gewissen macht.
Weil es ja eine Zäsur war, aber dann waren so viele andere Zäsuren, dass
wir mittlerweile ein paar Meter näher Richtung Meeresspiegel abgesackt
sind. Wie tief kann man schneiden, bis man auf der anderen Seite
herauskommt?
## Alles bloß Routine
Unsere Augen sind müde von 18 Stunden Bildschirmzeit. Routine ist auch,
sich zu erinnern, dass es anderen schlechter geht. Manchmal denken wir, wir
nehmen uns zu wichtig, aber man muss sich selbst wichtig nehmen, wenn kaum
jemand anders es tut. Es ist nicht fair, dass sie die Neunzehn wie eine von
vielen in einer Reihe aufstellen, und es ist ein Skandal, dass sich keine:r
die Zeit nimmt für eine Anamnese. Bloß sind Skandale jetzt auch Routine,
deshalb wirken sie nicht.
Wir sehen derweil zu, wie immer mehr Beulen entstehen. Wir haben gelernt,
dass in einer Pandemie Arschlochtum demonstriert werden darf, aber man sich
nach rassistischen Morden nicht zum Mahnen und Gedenken versammeln kann.
Diagnose: gesellschaftliche Langzeitschäden. Immer der Neunzehnte, Routine.
27 Nov 2020
## LINKS
[1] /Querdenker-Protest-in-Leipzig/!5730298
[2] /Opfer-des-Terroranschlags-von-Hanau/!5714888
## AUTOREN
Lin Hierse
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