| # taz.de -- Ein Jahr nach Hanau: Der Kampf für Ferhat | |
| > Vor einem Jahr starb Ferhat Unvar mit acht anderen Menschen bei einem | |
| > rassistischen Attentat. Seine Mutter kämpft um Aufklärung. | |
| Bild: „Ich kann vor meinem Schmerz nicht wegrennen“, sagt Serpil Temiz Unvar | |
| Es sind nur ein paar Dutzend Meter, die Serpil Temiz gehen müsste. Von | |
| ihrer Wohnung über die Straße, an der Kita und Grundschule vorbei, dann | |
| wäre sie schon auf dem Kurt-Schumacher-Platz, zwei Minuten zu Fuß. Dort, wo | |
| Lebensmittelgeschäfte sind, ein Imbiss, ein Friseur. Und die Arena-Bar, mit | |
| dem angeschlossenen Kiosk. | |
| Aber Serpil Temiz ist diesen Weg seit einem Jahr kaum mehr gegangen, seit | |
| dem 19. Februar 2020. Sie kann es nicht. Denn in dem Kiosk wurde damals | |
| [1][Ferhat Unvar] erschossen, ein 23-jähriger Heizungsinstallateur. Ihr | |
| Sohn. | |
| „Ich gehe nicht dorthin, nur wenn ich wirklich muss“, sagt Serpil Temiz. | |
| „Ich kann es nicht aushalten.“ | |
| Und es gibt noch einen anderen Weg, den Serpil Temiz nicht mehr geht. Er | |
| wäre noch kürzer. Er würde, nur eine Straße weiter, in den Norden des | |
| Stadtteils Kesselstadt führen, zu einer kleinen Wohnung in einem schlichten | |
| Reihenhaus, wo die Rollläden nun oft heruntergelassen sind. | |
| ## Der Schmerz bleibt | |
| Hier wohnte der Mann, der aus rassistischen Motiven Ferhat Unvar und acht | |
| weitere Menschen erschoss. Der danach auch seine Mutter ermordete und sich | |
| selbst: [2][Tobias R.], ein 43-jähriger Arbeitsloser, der einem | |
| Verfolgungswahn anhing und rassistisch war. Und hier wohnt weiter dessen | |
| Vater, ein 73-jähriger Rentner, der offenbar ganz ähnlich denkt. Sie meide | |
| auch diese Straße, sagt Temiz. Sie wolle das Haus nicht sehen und auch | |
| nicht den Vater. | |
| Serpil Temiz’ zweitältester Sohn, Mirkan, wollte, dass sie wegziehen nach | |
| der Tat, raus aus Kesselstadt, dem West-Stadtteil Hanaus. „Aber ich kann | |
| nicht weg“, sagt Temiz. „Ferhat ist in Kesselstadt geboren, er ist in | |
| Kesselstadt gestorben, ich kann Ferhat nicht verlassen. Ich kann vor meinem | |
| Schmerz nicht wegrennen.“ | |
| Und dieser Tage ist der Schmerz wieder voll da. Weil sich der Tod von | |
| Ferhat Unvar und den anderen acht zum ersten Mal jährt. Weil nun alle | |
| Erinnerungen wieder aufreißen. | |
| Es war 21.55 Uhr am 19. Februar 2020, als Tobias R. nahe dem Hanauer | |
| Heumarkt die Bar La Votre mit einer Česká-Pistole betrat, dort um sich | |
| schoss und den Barkeeper Kaloyan Velkov tötete, danach den Passanten Fatih | |
| Saraçoğlu und in der benachbarten Shisha-Bar Midnight den Besitzer Sedat | |
| Gürbüz. Dann stieg R. wieder in seinen schwarzen BMW und fuhr nach | |
| Kesselstadt, gefolgt von Vili Viorel Păun. Der 22-Jährige hatte zuvor | |
| versucht, R. mit seinem Mercedes zu blockieren, wurde beschossen – und fuhr | |
| dennoch hinterher. Am Kurt-Schumacher-Platz stieg Tobias R. aus, ging | |
| direkt auf den Wagen von Păun zu und erschoss den Jungen, dann ermordete er | |
| im Arena-Kiosk den Verkäufer Gökhan Gültekin und die Kundin Mercedes | |
| Kierpacz – und Ferhat Unvar. Und schließlich in der benachbarten Bar noch | |
| Hamza Kurtović und Said Nesar Hashemi. Nur gut fünf Minuten dauerte all | |
| dies, dann waren neun Menschen tot. Und Tobias R. fuhr wieder nach Hause. | |
| Neun Menschen, ermordet aus Wahn und rassistischem Hass. Die Stadt wird am | |
| Freitag eine Gedenkfeier zum Jahrestag abhalten, pandemiebedingt nur mit 50 | |
| Gästen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird kommen, Hessens | |
| Ministerpräsident Volker Bouffier, Oberbürgermeister Claus Kaminsky. Und | |
| auch Serpil Temiz wird da sein. | |
| Auch dies wird ein schwerer Weg. Denn die 45-Jährige begleiten in diesen | |
| Tagen nicht nur Trauer und Schmerz, sondern auch Fragen, die sie nicht | |
| loslassen. Die größte: Wäre das Attentat zu verhindern gewesen? Könnte | |
| Ferhat noch leben? | |
| Ferhat, der älteste Sohn von Serpil Temiz. Ein smarter, lebendiger Junge, | |
| der viel las, Gedichte schrieb, an Sachen rumschraubte, immer scherzte. Der | |
| sich um seine drei jüngeren Geschwister kümmerte. Wie ein Vater sei er für | |
| diese gewesen, sagt Temiz. Und Ferhat sei ein Junge gewesen, der alles | |
| hinterfragte, auch in der Schule. Er sei dort angeeckt und nicht gleich | |
| behandelt worden, sagt Temiz. Sei „der Ausländer“ gewesen, der es nicht | |
| packe. Aber Ferhat packte seinen Abschluss und hatte eine Lehre als | |
| Heizungsinstallateur abgeschlossen. Er wollte arbeiten, nebenbei noch | |
| studieren. Zwei Wochen später wurde er erschossen. | |
| „Der Schmerz geht nie weg“, sagt Serpil Temiz. „Er wird nicht weniger. Ich | |
| habe 23 Jahre mit meinem Sohn verbracht. Wie soll ich ihn da vergessen?“ | |
| Bis heute verfolgen sie die Bilder im Kopf, wie sie in der Nacht des 19. | |
| Februar in Hanau nach Ferhat suchte, vor der Arena-Bar, in Krankenhäusern, | |
| ohne Erfolg. Bis am Morgen ein Beamter die Namen der Toten verlas. „Jeden | |
| Abend denke ich an diese Nacht.“ | |
| Ferhats Zimmer hat die Mutter bis heute unberührt gelassen. Jeden Tag fährt | |
| sie zu seinem Grab auf dem Hanauer Hauptfriedhof, erzählt ihm, was sie | |
| erlebt. Ferhat habe sich immer gegen Diskriminierungen gewehrt, habe nie | |
| aufgegeben. Also werde auch sie es nicht tun, sagt Temiz. Sie redet nun | |
| immer schneller. „Ich mache weiter, ich mache seinen Kampf weiter, bis zur | |
| letzten Sekunde meines Lebens werde ich etwas gegen Rassismus tun, | |
| verstehen Sie?“ Dann weint sie. | |
| Serpil Temiz ist mit ihrem Schmerz nicht allein. Auch die anderen | |
| Angehörigen und Verletzten sind bis heute traumatisiert, machen Therapien, | |
| etliche können nicht arbeiten. Auch Temiz, die früher frei für eine | |
| kurdische Zeitung schrieb, schafft dies nicht mehr. Die Alleinerziehende | |
| muss sich jetzt um ihre drei Kinder kümmern, die noch bei ihr wohnen. Und | |
| um sich. | |
| Inzwischen aber haben sich die Betroffenen zusammengetan. In einem früheren | |
| Geschäftsraum treffen sich viele von ihnen, gleich um die Ecke vom La | |
| Votre, dem ersten Tatort. Die „Initiative 19. Februar“, eine Gruppe | |
| Unterstützer:innen, hat hier einen Begegnungsraum eingerichtet. An einem | |
| Mittwochabend Ende Januar sitzt dort Serpil Temiz in schwarzer Jacke mit | |
| anderen um einen Laptop, sie besprechen ihre neue Bildungsinitiative, | |
| zwischendrin geht Temiz raus zum Rauchen. | |
| In einer anderen Ecke plaudern Çetin Gültekin, der Bruder von Gökhan | |
| Gültekin, und Filip Goman, der Vater von Mercedes Kierpacz. Vorne steht die | |
| Familie Kurtović zusammen. Es wird auch gescherzt, ein Samowar rauscht, | |
| Kerzen stehen auf den Tischen, die Atmosphäre ist entspannt. Wären da nicht | |
| die Fotos und Zeichnungen der neun Getöteten an den Wänden. | |
| Serpil Temiz kommt oft hierher. „Nur die anderen Familien verstehen den | |
| Schmerz.“ Dieser Tage gibt es in dem Treff aber vor allem ein Thema: Lief | |
| die Polizeiarbeit wirklich so gut wie behauptet? Warum besaß der | |
| Attentäter, trotz seiner psychischen Probleme, einen Waffenschein? Warum | |
| wurde er in der Tatnacht nicht gestoppt? Wie gefährlich ist sein Vater? | |
| Und: Wo bleibt die von der Politik versprochene Zäsur nach Hanau, wo der | |
| entschlossene Kampf gegen Rassismus? | |
| Bis vor Kurzem galt der Attentäter als unauffälliger Einzelgänger. Aber er | |
| fiel schon im Januar 2002 erstmals auf. Damals studierte Tobias R. in | |
| Bayern BWL und meldete der Polizei das erste Mal, er werde von einem | |
| Geheimdienst überwacht. Im Sommer 2004 folgte eine zweite Anzeige. In den | |
| Folgejahren wurde gegen Tobias R. wegen eines Betäubungsmittelverstoßes, | |
| fahrlässiger Brandstiftung und Erschleichung von Sozialhilfe ermittelt. | |
| Und noch im November 2019 schrieb er an die Bundesanwaltschaft und | |
| Staatsanwaltschaft Hanau einen Brief, in dem er erneut beklagte, dass ein | |
| Geheimdienst sich in seine Gedanken einklinke – und Deutschland nichts | |
| gegen „diese ständige Ausländerkriminalität“ tue. | |
| Gleich nach seiner ersten Meldung 2002 landete Tobias R. für einige Stunden | |
| in einem psychiatrischen Krankenhaus, danach blieb er offenbar unbehandelt. | |
| In den nächsten Jahren wurden alle Ermittlungen gegen ihn eingestellt. 2013 | |
| erhielt Tobias R. bei der Waffenbehörde Main-Kinzig seine erste | |
| Waffenbesitzkarte, zwei weitere folgten. Eine wirkliche | |
| Zuverlässigkeitsprüfung gab es nicht. Tobias R. kaufte sich eine | |
| Sig-Sauer-Pistole, später noch eine Walther. Die Česká von der Tatnacht | |
| hatte er in einem Waffengeschäft ausgeliehen. Er schoss damit in | |
| Schützenvereinen und 2019 auch zwei mal bei Schießtrainings in der | |
| Slowakei. | |
| Und Tobias R. bereitete seine Tat wohl von langer Hand vor. Ermittler | |
| fanden in seiner Wohnung eine Skizze, in der er offenbar den Heumarkt und | |
| vier Punkte einzeichnete, zwei davon passen zu den später angegriffenen | |
| Bars La Votre und Midnight. „Drin anfangen“, steht hier notiert. Dazu ist | |
| der Hinweis „min. 10“ notiert, was Ermittler als Zielmarke für die | |
| geplanten Morde deuten. Demnach hatte Tobias R. noch mindestens zwei | |
| weitere Örtlichkeiten im Visier – und noch mehr Tote geplant. | |
| Sechs Tage vor dem Attentat stellte Tobias R. eine Webseite auf seinen | |
| Namen online. Darauf stand ein 24-seitiges „Skript“ und ein Video von ihm, | |
| aufgenommen in seinem Zimmer, ein karg eingerichteter Raum, mit Regalen | |
| voller Aktenordner. Der 43-Jährige redet darin erneut über Geheimdienste, | |
| nun aber legt er seinen rassistischen Hass offen: die Existenz von | |
| Migranten sei „an sich ein grundsätzlicher Fehler“. Ganze Völker müssten | |
| „vernichtet werden“. Er führe einen „Krieg“ – „gegen die Geheimorg… | |
| und gegen die Degeneration unseres Volkes“. Es ist eine offene | |
| Tatankündigung. Die offenbar niemand bemerkt. | |
| „Warum wurde dieser Mann nie überprüft, obwohl er solche Sachen den | |
| Behörden schreibt?“, fragt Serpil Temiz. „Warum durfte er seine Waffen | |
| behalten? Weil er Deutscher ist? Das ist nicht zu akzeptieren. Keine | |
| Behörde hat ihre Arbeit gemacht. Auch darum wurden unsere neun Kinder | |
| getötet.“ | |
| Und die Fragen von Serpil Temiz gehen weiter. Bis heute weiß sie nicht, wie | |
| genau ihr Sohn starb. Der Attentäter hatte um kurz vor 22 Uhr im Kiosk auf | |
| Ferhat geschossen, in dessen Sterbeurkunde wird aber als Todeszeitpunkt | |
| 3.10 Uhr notiert. „Was ist mit meinem Kind in diesen Stunden passiert? | |
| Warum kann mir das keiner sagen? Lag er da und keiner hat sich um ihn | |
| gekümmert? Können Sie sich meine Gefühle dazu vorstellen?“ Wieder weint | |
| Temiz. | |
| Zuletzt wurde zudem bekannt, dass die Notrufzentrale der Hanauer Polizei | |
| unterbesetzt war, mit nur zwei Arbeitsplätzen, eine Rufumleitung gab es | |
| nicht. Kurz nach Beginn des Attentats waren mit den ersten Notrufen die | |
| Leitungen bereits besetzt. Auch Vili Viorel Păun wählte auf seiner | |
| Verfolgungsfahrt hinter Tobias R. her drei Mal den Notruf – und kam kein | |
| Mal durch. Dann wurde er erschossen. Hätte sein Tod verhindert werden | |
| können, wenn er die Polizei erreicht und diese ihn zu Vorsicht und Abstand | |
| gemahnt hätte? Wären vielleicht auch die Morde in Kesselstadt vermeidbar | |
| gewesen? Der an Ferhat Unvar? Serpil Temiz glaubt das. | |
| Und warum war in der Arena-Bar der Notausgang verschlossen? Hätten die | |
| Gäste sonst daraus fliehen können, auch Hamza Kurtović und Said Hashemi? | |
| Laut Stammgästen war die Tür seit Jahren verschlossen, auch die Polizei | |
| habe davon gewusst. Inzwischen stellten Hinterbliebene eine Strafanzeige | |
| wegen fahrlässiger Tötung, die Staatsanwaltschaft Hanau ermittelt. | |
| Das Polizeipräsidium Südosthessen bestätigt, dass der Notausgang bei einer | |
| Kontrolle Ende 2017 verschlossen gewesen sei, was man der Stadt meldete. | |
| Dort heißt es, man habe es kontrolliert, bei späteren Kontrollen sei die | |
| Tür offen gewesen. Berichte, wonach die Polizei selbst anordnete, die Tür | |
| zu verschließen, um Fluchten bei Drogenrazzien zu verhindern, dementiert | |
| das Präsidium: Solch eine Weisung würde „niemals“ ergehen. Und auch zum | |
| unterbesetzten Notruf verteidigt sich die Polizei: Eine Verzögerung habe es | |
| nicht gegeben, man sei bereits wenige Minuten nach Bekanntwerden der | |
| Schüsse an den Tatorten gewesen. | |
| Aber die Fragen beschäftigen nun auch wieder die Politik. [3][Der hessische | |
| Landtag diskutierte die Vorgänge], zuletzt der Innenausschuss am | |
| vergangenen Donnerstag. | |
| Für Serpil Temiz stellt sich aber noch eine andere Frage, eine zu ihrer | |
| Nachbarschaft: Welche Rolle spielte der Vater des Attentäters, Hans-Gerd | |
| R.? Auch dieser sei seit Langem als Querulant bekannt, schon vor Jahren | |
| ermittelte die Polizei gegen ihn wegen Beleidigung und falscher | |
| Verdächtigung. Und offenbar teilt er den Wahn seines Sohnes. Schon 2004 | |
| stellte auch Hans-Gerd R. eine Anzeige, dass seine Familie bespitzelt | |
| werde. Ein Psychiater attestiert dem Vater in einem Gutachten, dass dieser | |
| sich dieser „generell mit dem Sohn solidarisiert“ und „auch inhaltlich | |
| einige von dessen Wahnthemen übernimmt“. Es liege ein geteilter Wahn nahe, | |
| eine „Folie à deux“. | |
| Auch in der Tatnacht, nachdem sein Sohn spätestens gegen 20.30 Uhr vom | |
| Attentat zurückgekehrt war, wollen zwei Zeugen Hans-Gerd R. noch vor dessen | |
| Haus auf der Straße gesehen haben, das Auto seines Sohnes inspizierend. | |
| Später wird laut Ermittlungsakten auf seinem PC mehrmals die Internetseite | |
| des Sohnes aufgerufen. Den Ermittlern sagte der Rentner indes, er habe ab | |
| 20 Uhr geschlafen. Gab es Gespräche des Vaters mit seinem Sohn nach der | |
| Tat? Wusste er im Vorfeld etwas von den Morden? | |
| Laut Aktenlage erschoss Tobias R. wohl erst gegen 1 Uhr seine bettlägerige | |
| Mutter, später im Keller sich selbst. Seinen Vater ließ er am Leben. Die | |
| Polizei hatte da schon seit etwa 23 Uhr das Haus umstellt. Ein Betreten | |
| wagte sie zunächst nicht, fürchtete Sprengfallen. Erst um 3.03 Uhr stürmte | |
| sie doch die Wohnung – und brachte Hans-Gerd R. aufgrund seines verwirrten | |
| Zustands ins Krankenhaus. | |
| Die Bundesanwaltschaft führt Hans-Gerd R. als Zeugen. Es gebe keine | |
| Anhaltspunkte, dass er in den Anschlag involviert gewesen sei, sagte ein | |
| Vertreter im hessischen Innenausschuss. Keine Schmauchspuren, auch keine | |
| Hinweise auf ein Mitschreiben am Tatpamphlet. | |
| Viele Opferfamilien aber glauben nicht, dass der Vater in der kleinen | |
| Wohnung und bei so ähnlichen Einstellungen nichts von den Anschlagsplänen | |
| mitbekam. Haben sie recht, hätte das auch juristische Folgen. Infrage käme | |
| dann etwa der Vorwurf der psychischen Beihilfe. Und dann könnte es doch | |
| noch einen Prozess zu dem Anschlag geben. Bisher fällt dieser aus, weil der | |
| Attentäter tot ist. Nur ein Abschlussbericht der Bundesanwaltschaft ist | |
| geplant. | |
| Für Serpil Temiz bedeutet der Vater des Attentäters aber auch: Angst. Denn | |
| der 73-Jährige gibt keine Ruhe. Schon bald nach der Tat verschickte er | |
| mehrere Beschwerden und Strafanzeigen an die Bundesanwaltschaft und weitere | |
| Behörden. Die Durchsuchung seines Hauses in der Tatnacht zeigte er als | |
| Freiheitsberaubung und Verletzung der Menschenwürde an. Sein Sohn werde | |
| grundlos öffentlich verunglimpft, er habe das Attentat gar nicht verübt, | |
| sondern eine „Geheimorganisation“. | |
| Und Hans-Gerd R. holt noch weiter aus. Der Politik wirft er in seinen | |
| Schreiben „Hetze und Volksaufwiegelung“ vor, [4][Bürgermeister Kaminsky] | |
| Volksverhetzung, weil dieser sagte, „die Opfer waren keine Fremden“. Es | |
| gebe eine „Benachteiligung meiner Rasse, mithin des deutschen Volkes“. Der | |
| Rentner verweist auf die Sarrazin-Bücher. Der Preis, um Deutschland zu | |
| retten, sei hoch: „Eine Wiederherstellung wird mehrere Menschenleben | |
| erfordern.“ Alle Gedenkstätten an die Opfer des Hanau-Attentats müssten | |
| entfernt werden. Die Internetseite seines Sohnes müsse wieder | |
| freigeschaltet werden. Und auch die Tatwaffen wolle er zurück. | |
| Serpil Temiz und die anderen Opferfamilien erfuhren von den Schreiben des | |
| Vaters zunächst nichts. Stattdessen erhielten einige eine Ansprache der | |
| Polizei, auch zu Temiz kamen zwei Beamte: Man solle den Vater in Ruhe | |
| lassen, sonst werde dies Konsequenzen haben. „Wer schützt hier eigentlich | |
| wen?“, fragt Temiz. Sie habe keine Angst um sich, aber um ihre Kinder und | |
| die anderen Jugendlichen in Kesselstadt. „Dieser Mann ist gefährlich, und | |
| keiner macht was. Was hilft mir ein Therapeut, solange diese Gefahr da | |
| ist?“ | |
| Im Dezember versammelte sich Temiz mit anderen zu einer Kundgebung in der | |
| Nähe des Hauses von Hans-Gerd R., sie hielt ein Schild mit der Aufschrift | |
| „Wann werden die Behörden endlich aktiv?“. Piter Minnemann, einer der | |
| Überlebenden des Attentats, trat ans Mikrofon. „Wir leben in Angst“, sagte | |
| der 19-Jährige. „Und was wird gemacht? Nichts.“ | |
| Statt die Opfer und Jugendlichen zu schützen, erhalte der Vater | |
| Polizeischutz. Hans-Gerd R. trat da mit seinem Schäferhund vor sein Haus, | |
| wurde von der Polizei auf Abstand gehalten. Für die Opfer war auch das ein | |
| Affront. Serpil Temiz sagt, sie habe sich damals abgewendet, sie habe dem | |
| Mann nicht in die Augen schauen wollen. Und der Vater verschickte danach | |
| eine erneute Anzeige, in der er die Demonstranten als „wilde Fremde“ | |
| bezeichnete. | |
| Auch Bürgermeister Kaminsky forderte die Sicherheitsbehörden auf, „schnell | |
| zu agieren“. Die Äußerungen des Vaters seien „unerträglich“. Die Poliz… | |
| will sich dazu nicht äußern: Der Mann sei keine Person des öffentlichen | |
| Lebens, sagt ein Sprecher. Die Staatsanwaltschaft Hanau bestätigt aber, | |
| dass sie am 2. Februar gegen Hans-Gerd R. Anzeige wegen Beleidigung erhob – | |
| wegen dessen Anzeige nach der Kundgebung. „Solche rassistischen | |
| Beleidigungen sind nicht tolerabel und werden von der Staatsanwaltschaft | |
| Hanau mit aller Konsequenz verfolgt.“ Den Familien ist das aber zu wenig. | |
| Der Umgang mit Hans-Gerd R. ist nicht einzige Punkt, bei dem sich die | |
| Hinterbliebenen allein gelassen fühlen. Auch um ihre Opferhilfen gibt es | |
| Streit. Direkt nach der Tat bekamen die Familien Soforthilfen vom Bund, die | |
| Eltern 30.000 Euro, Geschwister 15.000 Euro. Doch für viele Angehörige – | |
| gerade die, die nicht arbeiten können – wird das Geld langfristig nicht | |
| reichen. Und das Land Hessen zahlte den Familien bisher: nichts. | |
| Opferberatungsstellen forderten deshalb bereits vor Monaten auch von Hessen | |
| einen Fonds für die Hanau-Opfer. Zuletzt beschloss der Landtag tatsächlich | |
| einen Opferfonds von zwei Millionen Euro. Der allerdings soll nun generell | |
| für Opfer von Straftaten bereitstehen. Die Hanau-Betroffenen reagierten | |
| irritiert: Solle man nun mit anderen um die Hilfsgelder streiten? | |
| ## „Taten statt Worte“ | |
| Serpil Temiz und die anderen haben sich vernetzt, organisieren | |
| Kundgebungen, sprechen in der Öffentlichkeit, reichen Anzeigen ein, wo sie | |
| Ermittlungsfehler sehen. Sie treffen sich regelmäßig mit Kaminsky, sprachen | |
| beim Bundespräsidenten in Berlin vor, fordern offensiv „Taten statt Worte“ | |
| ein. Und am Sonntag, noch vor dem offiziellen Gedenken, wollen einige von | |
| ihnen mit der „Initiative 19. Februar“ in einer Videokundgebung „die Kette | |
| des Versagens“ beim Attentat offenlegen und eine wirkliche politische Zäsur | |
| einfordern. | |
| Serpil Temiz übergab schon auf der ersten Gedenkfeier in Hanau, kurz nach | |
| der Tat, Angela Merkel einen Brief. Das Attentat müsse die Kanzlerin dazu | |
| bringen, „endlich die Gesellschaft gegen Rassismus zu erwecken“, stand dort | |
| drin. Es brauche eine „lückenlose Aufklärung“ des Attentats, lebenslange | |
| Unterstützung der Familien und eine Stiftung „gegen Hass und Rassismus“. | |
| Acht Monate später schritt Temiz selbst zur Tat: Sie gründete am 14. | |
| November, dem Geburtstag von Ferhat, eine antirassistische | |
| Bildungsinitiative, benannt nach ihrem Sohn. Die Benachteiligungen in der | |
| Schule, die Ferhat erlebt habe, das solle sich nicht wiederholen, kein Kind | |
| und keine Mutter solle das noch mal erleben, sagt Temiz. „Das macht | |
| Familien kaputt. | |
| Warum müssen wir immer um Akzeptanz bitten? Alle sollen die gleichen Rechte | |
| haben.“ Temiz will nun mit einem guten Dutzend Jugendlichen | |
| antirassistische Workshops an Schulen geben, darunter frühere Freunde von | |
| Ferhat. Sie will Lehrer:innen sensibilisieren und Mütter vernetzen. Die | |
| erste Veranstaltung findet am Montag in einer Hanauer Berufsschule statt, | |
| auch Bürgermeister Kaminsky wird dabei sein. | |
| Es ist auch dies eine Bilanz ein Jahr nach dem Anschlag. Dass der | |
| Attentäter schreckliches Leid in neun Familien angerichtet hat. Aber dass | |
| diese Familien mehr sind als Opfer, sie haben der Tat einen Aufbruch | |
| entgegengesetzt. Der Attentäter und sein Vater, auch deren Hass, das gehört | |
| zum Gestrigen. Serpil Temiz und die anderen aber arbeiten an der Zukunft. | |
| An einer neuen Generation, jenseits des Hasses. Wenn das gelinge, sagt | |
| Serpil Temiz, dann seien Ferhat und die anderen nicht umsonst gestorben. | |
| 12 Feb 2021 | |
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