# taz.de -- Ein Jahr nach Hanau: Der Kampf für Ferhat | |
> Vor einem Jahr starb Ferhat Unvar mit acht anderen Menschen bei einem | |
> rassistischen Attentat. Seine Mutter kämpft um Aufklärung. | |
Bild: „Ich kann vor meinem Schmerz nicht wegrennen“, sagt Serpil Temiz Unvar | |
Es sind nur ein paar Dutzend Meter, die Serpil Temiz gehen müsste. Von | |
ihrer Wohnung über die Straße, an der Kita und Grundschule vorbei, dann | |
wäre sie schon auf dem Kurt-Schumacher-Platz, zwei Minuten zu Fuß. Dort, wo | |
Lebensmittelgeschäfte sind, ein Imbiss, ein Friseur. Und die Arena-Bar, mit | |
dem angeschlossenen Kiosk. | |
Aber Serpil Temiz ist diesen Weg seit einem Jahr kaum mehr gegangen, seit | |
dem 19. Februar 2020. Sie kann es nicht. Denn in dem Kiosk wurde damals | |
[1][Ferhat Unvar] erschossen, ein 23-jähriger Heizungsinstallateur. Ihr | |
Sohn. | |
„Ich gehe nicht dorthin, nur wenn ich wirklich muss“, sagt Serpil Temiz. | |
„Ich kann es nicht aushalten.“ | |
Und es gibt noch einen anderen Weg, den Serpil Temiz nicht mehr geht. Er | |
wäre noch kürzer. Er würde, nur eine Straße weiter, in den Norden des | |
Stadtteils Kesselstadt führen, zu einer kleinen Wohnung in einem schlichten | |
Reihenhaus, wo die Rollläden nun oft heruntergelassen sind. | |
## Der Schmerz bleibt | |
Hier wohnte der Mann, der aus rassistischen Motiven Ferhat Unvar und acht | |
weitere Menschen erschoss. Der danach auch seine Mutter ermordete und sich | |
selbst: [2][Tobias R.], ein 43-jähriger Arbeitsloser, der einem | |
Verfolgungswahn anhing und rassistisch war. Und hier wohnt weiter dessen | |
Vater, ein 73-jähriger Rentner, der offenbar ganz ähnlich denkt. Sie meide | |
auch diese Straße, sagt Temiz. Sie wolle das Haus nicht sehen und auch | |
nicht den Vater. | |
Serpil Temiz’ zweitältester Sohn, Mirkan, wollte, dass sie wegziehen nach | |
der Tat, raus aus Kesselstadt, dem West-Stadtteil Hanaus. „Aber ich kann | |
nicht weg“, sagt Temiz. „Ferhat ist in Kesselstadt geboren, er ist in | |
Kesselstadt gestorben, ich kann Ferhat nicht verlassen. Ich kann vor meinem | |
Schmerz nicht wegrennen.“ | |
Und dieser Tage ist der Schmerz wieder voll da. Weil sich der Tod von | |
Ferhat Unvar und den anderen acht zum ersten Mal jährt. Weil nun alle | |
Erinnerungen wieder aufreißen. | |
Es war 21.55 Uhr am 19. Februar 2020, als Tobias R. nahe dem Hanauer | |
Heumarkt die Bar La Votre mit einer Česká-Pistole betrat, dort um sich | |
schoss und den Barkeeper Kaloyan Velkov tötete, danach den Passanten Fatih | |
Saraçoğlu und in der benachbarten Shisha-Bar Midnight den Besitzer Sedat | |
Gürbüz. Dann stieg R. wieder in seinen schwarzen BMW und fuhr nach | |
Kesselstadt, gefolgt von Vili Viorel Păun. Der 22-Jährige hatte zuvor | |
versucht, R. mit seinem Mercedes zu blockieren, wurde beschossen – und fuhr | |
dennoch hinterher. Am Kurt-Schumacher-Platz stieg Tobias R. aus, ging | |
direkt auf den Wagen von Păun zu und erschoss den Jungen, dann ermordete er | |
im Arena-Kiosk den Verkäufer Gökhan Gültekin und die Kundin Mercedes | |
Kierpacz – und Ferhat Unvar. Und schließlich in der benachbarten Bar noch | |
Hamza Kurtović und Said Nesar Hashemi. Nur gut fünf Minuten dauerte all | |
dies, dann waren neun Menschen tot. Und Tobias R. fuhr wieder nach Hause. | |
Neun Menschen, ermordet aus Wahn und rassistischem Hass. Die Stadt wird am | |
Freitag eine Gedenkfeier zum Jahrestag abhalten, pandemiebedingt nur mit 50 | |
Gästen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird kommen, Hessens | |
Ministerpräsident Volker Bouffier, Oberbürgermeister Claus Kaminsky. Und | |
auch Serpil Temiz wird da sein. | |
Auch dies wird ein schwerer Weg. Denn die 45-Jährige begleiten in diesen | |
Tagen nicht nur Trauer und Schmerz, sondern auch Fragen, die sie nicht | |
loslassen. Die größte: Wäre das Attentat zu verhindern gewesen? Könnte | |
Ferhat noch leben? | |
Ferhat, der älteste Sohn von Serpil Temiz. Ein smarter, lebendiger Junge, | |
der viel las, Gedichte schrieb, an Sachen rumschraubte, immer scherzte. Der | |
sich um seine drei jüngeren Geschwister kümmerte. Wie ein Vater sei er für | |
diese gewesen, sagt Temiz. Und Ferhat sei ein Junge gewesen, der alles | |
hinterfragte, auch in der Schule. Er sei dort angeeckt und nicht gleich | |
behandelt worden, sagt Temiz. Sei „der Ausländer“ gewesen, der es nicht | |
packe. Aber Ferhat packte seinen Abschluss und hatte eine Lehre als | |
Heizungsinstallateur abgeschlossen. Er wollte arbeiten, nebenbei noch | |
studieren. Zwei Wochen später wurde er erschossen. | |
„Der Schmerz geht nie weg“, sagt Serpil Temiz. „Er wird nicht weniger. Ich | |
habe 23 Jahre mit meinem Sohn verbracht. Wie soll ich ihn da vergessen?“ | |
Bis heute verfolgen sie die Bilder im Kopf, wie sie in der Nacht des 19. | |
Februar in Hanau nach Ferhat suchte, vor der Arena-Bar, in Krankenhäusern, | |
ohne Erfolg. Bis am Morgen ein Beamter die Namen der Toten verlas. „Jeden | |
Abend denke ich an diese Nacht.“ | |
Ferhats Zimmer hat die Mutter bis heute unberührt gelassen. Jeden Tag fährt | |
sie zu seinem Grab auf dem Hanauer Hauptfriedhof, erzählt ihm, was sie | |
erlebt. Ferhat habe sich immer gegen Diskriminierungen gewehrt, habe nie | |
aufgegeben. Also werde auch sie es nicht tun, sagt Temiz. Sie redet nun | |
immer schneller. „Ich mache weiter, ich mache seinen Kampf weiter, bis zur | |
letzten Sekunde meines Lebens werde ich etwas gegen Rassismus tun, | |
verstehen Sie?“ Dann weint sie. | |
Serpil Temiz ist mit ihrem Schmerz nicht allein. Auch die anderen | |
Angehörigen und Verletzten sind bis heute traumatisiert, machen Therapien, | |
etliche können nicht arbeiten. Auch Temiz, die früher frei für eine | |
kurdische Zeitung schrieb, schafft dies nicht mehr. Die Alleinerziehende | |
muss sich jetzt um ihre drei Kinder kümmern, die noch bei ihr wohnen. Und | |
um sich. | |
Inzwischen aber haben sich die Betroffenen zusammengetan. In einem früheren | |
Geschäftsraum treffen sich viele von ihnen, gleich um die Ecke vom La | |
Votre, dem ersten Tatort. Die „Initiative 19. Februar“, eine Gruppe | |
Unterstützer:innen, hat hier einen Begegnungsraum eingerichtet. An einem | |
Mittwochabend Ende Januar sitzt dort Serpil Temiz in schwarzer Jacke mit | |
anderen um einen Laptop, sie besprechen ihre neue Bildungsinitiative, | |
zwischendrin geht Temiz raus zum Rauchen. | |
In einer anderen Ecke plaudern Çetin Gültekin, der Bruder von Gökhan | |
Gültekin, und Filip Goman, der Vater von Mercedes Kierpacz. Vorne steht die | |
Familie Kurtović zusammen. Es wird auch gescherzt, ein Samowar rauscht, | |
Kerzen stehen auf den Tischen, die Atmosphäre ist entspannt. Wären da nicht | |
die Fotos und Zeichnungen der neun Getöteten an den Wänden. | |
Serpil Temiz kommt oft hierher. „Nur die anderen Familien verstehen den | |
Schmerz.“ Dieser Tage gibt es in dem Treff aber vor allem ein Thema: Lief | |
die Polizeiarbeit wirklich so gut wie behauptet? Warum besaß der | |
Attentäter, trotz seiner psychischen Probleme, einen Waffenschein? Warum | |
wurde er in der Tatnacht nicht gestoppt? Wie gefährlich ist sein Vater? | |
Und: Wo bleibt die von der Politik versprochene Zäsur nach Hanau, wo der | |
entschlossene Kampf gegen Rassismus? | |
Bis vor Kurzem galt der Attentäter als unauffälliger Einzelgänger. Aber er | |
fiel schon im Januar 2002 erstmals auf. Damals studierte Tobias R. in | |
Bayern BWL und meldete der Polizei das erste Mal, er werde von einem | |
Geheimdienst überwacht. Im Sommer 2004 folgte eine zweite Anzeige. In den | |
Folgejahren wurde gegen Tobias R. wegen eines Betäubungsmittelverstoßes, | |
fahrlässiger Brandstiftung und Erschleichung von Sozialhilfe ermittelt. | |
Und noch im November 2019 schrieb er an die Bundesanwaltschaft und | |
Staatsanwaltschaft Hanau einen Brief, in dem er erneut beklagte, dass ein | |
Geheimdienst sich in seine Gedanken einklinke – und Deutschland nichts | |
gegen „diese ständige Ausländerkriminalität“ tue. | |
Gleich nach seiner ersten Meldung 2002 landete Tobias R. für einige Stunden | |
in einem psychiatrischen Krankenhaus, danach blieb er offenbar unbehandelt. | |
In den nächsten Jahren wurden alle Ermittlungen gegen ihn eingestellt. 2013 | |
erhielt Tobias R. bei der Waffenbehörde Main-Kinzig seine erste | |
Waffenbesitzkarte, zwei weitere folgten. Eine wirkliche | |
Zuverlässigkeitsprüfung gab es nicht. Tobias R. kaufte sich eine | |
Sig-Sauer-Pistole, später noch eine Walther. Die Česká von der Tatnacht | |
hatte er in einem Waffengeschäft ausgeliehen. Er schoss damit in | |
Schützenvereinen und 2019 auch zwei mal bei Schießtrainings in der | |
Slowakei. | |
Und Tobias R. bereitete seine Tat wohl von langer Hand vor. Ermittler | |
fanden in seiner Wohnung eine Skizze, in der er offenbar den Heumarkt und | |
vier Punkte einzeichnete, zwei davon passen zu den später angegriffenen | |
Bars La Votre und Midnight. „Drin anfangen“, steht hier notiert. Dazu ist | |
der Hinweis „min. 10“ notiert, was Ermittler als Zielmarke für die | |
geplanten Morde deuten. Demnach hatte Tobias R. noch mindestens zwei | |
weitere Örtlichkeiten im Visier – und noch mehr Tote geplant. | |
Sechs Tage vor dem Attentat stellte Tobias R. eine Webseite auf seinen | |
Namen online. Darauf stand ein 24-seitiges „Skript“ und ein Video von ihm, | |
aufgenommen in seinem Zimmer, ein karg eingerichteter Raum, mit Regalen | |
voller Aktenordner. Der 43-Jährige redet darin erneut über Geheimdienste, | |
nun aber legt er seinen rassistischen Hass offen: die Existenz von | |
Migranten sei „an sich ein grundsätzlicher Fehler“. Ganze Völker müssten | |
„vernichtet werden“. Er führe einen „Krieg“ – „gegen die Geheimorg… | |
und gegen die Degeneration unseres Volkes“. Es ist eine offene | |
Tatankündigung. Die offenbar niemand bemerkt. | |
„Warum wurde dieser Mann nie überprüft, obwohl er solche Sachen den | |
Behörden schreibt?“, fragt Serpil Temiz. „Warum durfte er seine Waffen | |
behalten? Weil er Deutscher ist? Das ist nicht zu akzeptieren. Keine | |
Behörde hat ihre Arbeit gemacht. Auch darum wurden unsere neun Kinder | |
getötet.“ | |
Und die Fragen von Serpil Temiz gehen weiter. Bis heute weiß sie nicht, wie | |
genau ihr Sohn starb. Der Attentäter hatte um kurz vor 22 Uhr im Kiosk auf | |
Ferhat geschossen, in dessen Sterbeurkunde wird aber als Todeszeitpunkt | |
3.10 Uhr notiert. „Was ist mit meinem Kind in diesen Stunden passiert? | |
Warum kann mir das keiner sagen? Lag er da und keiner hat sich um ihn | |
gekümmert? Können Sie sich meine Gefühle dazu vorstellen?“ Wieder weint | |
Temiz. | |
Zuletzt wurde zudem bekannt, dass die Notrufzentrale der Hanauer Polizei | |
unterbesetzt war, mit nur zwei Arbeitsplätzen, eine Rufumleitung gab es | |
nicht. Kurz nach Beginn des Attentats waren mit den ersten Notrufen die | |
Leitungen bereits besetzt. Auch Vili Viorel Păun wählte auf seiner | |
Verfolgungsfahrt hinter Tobias R. her drei Mal den Notruf – und kam kein | |
Mal durch. Dann wurde er erschossen. Hätte sein Tod verhindert werden | |
können, wenn er die Polizei erreicht und diese ihn zu Vorsicht und Abstand | |
gemahnt hätte? Wären vielleicht auch die Morde in Kesselstadt vermeidbar | |
gewesen? Der an Ferhat Unvar? Serpil Temiz glaubt das. | |
Und warum war in der Arena-Bar der Notausgang verschlossen? Hätten die | |
Gäste sonst daraus fliehen können, auch Hamza Kurtović und Said Hashemi? | |
Laut Stammgästen war die Tür seit Jahren verschlossen, auch die Polizei | |
habe davon gewusst. Inzwischen stellten Hinterbliebene eine Strafanzeige | |
wegen fahrlässiger Tötung, die Staatsanwaltschaft Hanau ermittelt. | |
Das Polizeipräsidium Südosthessen bestätigt, dass der Notausgang bei einer | |
Kontrolle Ende 2017 verschlossen gewesen sei, was man der Stadt meldete. | |
Dort heißt es, man habe es kontrolliert, bei späteren Kontrollen sei die | |
Tür offen gewesen. Berichte, wonach die Polizei selbst anordnete, die Tür | |
zu verschließen, um Fluchten bei Drogenrazzien zu verhindern, dementiert | |
das Präsidium: Solch eine Weisung würde „niemals“ ergehen. Und auch zum | |
unterbesetzten Notruf verteidigt sich die Polizei: Eine Verzögerung habe es | |
nicht gegeben, man sei bereits wenige Minuten nach Bekanntwerden der | |
Schüsse an den Tatorten gewesen. | |
Aber die Fragen beschäftigen nun auch wieder die Politik. [3][Der hessische | |
Landtag diskutierte die Vorgänge], zuletzt der Innenausschuss am | |
vergangenen Donnerstag. | |
Für Serpil Temiz stellt sich aber noch eine andere Frage, eine zu ihrer | |
Nachbarschaft: Welche Rolle spielte der Vater des Attentäters, Hans-Gerd | |
R.? Auch dieser sei seit Langem als Querulant bekannt, schon vor Jahren | |
ermittelte die Polizei gegen ihn wegen Beleidigung und falscher | |
Verdächtigung. Und offenbar teilt er den Wahn seines Sohnes. Schon 2004 | |
stellte auch Hans-Gerd R. eine Anzeige, dass seine Familie bespitzelt | |
werde. Ein Psychiater attestiert dem Vater in einem Gutachten, dass dieser | |
sich dieser „generell mit dem Sohn solidarisiert“ und „auch inhaltlich | |
einige von dessen Wahnthemen übernimmt“. Es liege ein geteilter Wahn nahe, | |
eine „Folie à deux“. | |
Auch in der Tatnacht, nachdem sein Sohn spätestens gegen 20.30 Uhr vom | |
Attentat zurückgekehrt war, wollen zwei Zeugen Hans-Gerd R. noch vor dessen | |
Haus auf der Straße gesehen haben, das Auto seines Sohnes inspizierend. | |
Später wird laut Ermittlungsakten auf seinem PC mehrmals die Internetseite | |
des Sohnes aufgerufen. Den Ermittlern sagte der Rentner indes, er habe ab | |
20 Uhr geschlafen. Gab es Gespräche des Vaters mit seinem Sohn nach der | |
Tat? Wusste er im Vorfeld etwas von den Morden? | |
Laut Aktenlage erschoss Tobias R. wohl erst gegen 1 Uhr seine bettlägerige | |
Mutter, später im Keller sich selbst. Seinen Vater ließ er am Leben. Die | |
Polizei hatte da schon seit etwa 23 Uhr das Haus umstellt. Ein Betreten | |
wagte sie zunächst nicht, fürchtete Sprengfallen. Erst um 3.03 Uhr stürmte | |
sie doch die Wohnung – und brachte Hans-Gerd R. aufgrund seines verwirrten | |
Zustands ins Krankenhaus. | |
Die Bundesanwaltschaft führt Hans-Gerd R. als Zeugen. Es gebe keine | |
Anhaltspunkte, dass er in den Anschlag involviert gewesen sei, sagte ein | |
Vertreter im hessischen Innenausschuss. Keine Schmauchspuren, auch keine | |
Hinweise auf ein Mitschreiben am Tatpamphlet. | |
Viele Opferfamilien aber glauben nicht, dass der Vater in der kleinen | |
Wohnung und bei so ähnlichen Einstellungen nichts von den Anschlagsplänen | |
mitbekam. Haben sie recht, hätte das auch juristische Folgen. Infrage käme | |
dann etwa der Vorwurf der psychischen Beihilfe. Und dann könnte es doch | |
noch einen Prozess zu dem Anschlag geben. Bisher fällt dieser aus, weil der | |
Attentäter tot ist. Nur ein Abschlussbericht der Bundesanwaltschaft ist | |
geplant. | |
Für Serpil Temiz bedeutet der Vater des Attentäters aber auch: Angst. Denn | |
der 73-Jährige gibt keine Ruhe. Schon bald nach der Tat verschickte er | |
mehrere Beschwerden und Strafanzeigen an die Bundesanwaltschaft und weitere | |
Behörden. Die Durchsuchung seines Hauses in der Tatnacht zeigte er als | |
Freiheitsberaubung und Verletzung der Menschenwürde an. Sein Sohn werde | |
grundlos öffentlich verunglimpft, er habe das Attentat gar nicht verübt, | |
sondern eine „Geheimorganisation“. | |
Und Hans-Gerd R. holt noch weiter aus. Der Politik wirft er in seinen | |
Schreiben „Hetze und Volksaufwiegelung“ vor, [4][Bürgermeister Kaminsky] | |
Volksverhetzung, weil dieser sagte, „die Opfer waren keine Fremden“. Es | |
gebe eine „Benachteiligung meiner Rasse, mithin des deutschen Volkes“. Der | |
Rentner verweist auf die Sarrazin-Bücher. Der Preis, um Deutschland zu | |
retten, sei hoch: „Eine Wiederherstellung wird mehrere Menschenleben | |
erfordern.“ Alle Gedenkstätten an die Opfer des Hanau-Attentats müssten | |
entfernt werden. Die Internetseite seines Sohnes müsse wieder | |
freigeschaltet werden. Und auch die Tatwaffen wolle er zurück. | |
Serpil Temiz und die anderen Opferfamilien erfuhren von den Schreiben des | |
Vaters zunächst nichts. Stattdessen erhielten einige eine Ansprache der | |
Polizei, auch zu Temiz kamen zwei Beamte: Man solle den Vater in Ruhe | |
lassen, sonst werde dies Konsequenzen haben. „Wer schützt hier eigentlich | |
wen?“, fragt Temiz. Sie habe keine Angst um sich, aber um ihre Kinder und | |
die anderen Jugendlichen in Kesselstadt. „Dieser Mann ist gefährlich, und | |
keiner macht was. Was hilft mir ein Therapeut, solange diese Gefahr da | |
ist?“ | |
Im Dezember versammelte sich Temiz mit anderen zu einer Kundgebung in der | |
Nähe des Hauses von Hans-Gerd R., sie hielt ein Schild mit der Aufschrift | |
„Wann werden die Behörden endlich aktiv?“. Piter Minnemann, einer der | |
Überlebenden des Attentats, trat ans Mikrofon. „Wir leben in Angst“, sagte | |
der 19-Jährige. „Und was wird gemacht? Nichts.“ | |
Statt die Opfer und Jugendlichen zu schützen, erhalte der Vater | |
Polizeischutz. Hans-Gerd R. trat da mit seinem Schäferhund vor sein Haus, | |
wurde von der Polizei auf Abstand gehalten. Für die Opfer war auch das ein | |
Affront. Serpil Temiz sagt, sie habe sich damals abgewendet, sie habe dem | |
Mann nicht in die Augen schauen wollen. Und der Vater verschickte danach | |
eine erneute Anzeige, in der er die Demonstranten als „wilde Fremde“ | |
bezeichnete. | |
Auch Bürgermeister Kaminsky forderte die Sicherheitsbehörden auf, „schnell | |
zu agieren“. Die Äußerungen des Vaters seien „unerträglich“. Die Poliz… | |
will sich dazu nicht äußern: Der Mann sei keine Person des öffentlichen | |
Lebens, sagt ein Sprecher. Die Staatsanwaltschaft Hanau bestätigt aber, | |
dass sie am 2. Februar gegen Hans-Gerd R. Anzeige wegen Beleidigung erhob – | |
wegen dessen Anzeige nach der Kundgebung. „Solche rassistischen | |
Beleidigungen sind nicht tolerabel und werden von der Staatsanwaltschaft | |
Hanau mit aller Konsequenz verfolgt.“ Den Familien ist das aber zu wenig. | |
Der Umgang mit Hans-Gerd R. ist nicht einzige Punkt, bei dem sich die | |
Hinterbliebenen allein gelassen fühlen. Auch um ihre Opferhilfen gibt es | |
Streit. Direkt nach der Tat bekamen die Familien Soforthilfen vom Bund, die | |
Eltern 30.000 Euro, Geschwister 15.000 Euro. Doch für viele Angehörige – | |
gerade die, die nicht arbeiten können – wird das Geld langfristig nicht | |
reichen. Und das Land Hessen zahlte den Familien bisher: nichts. | |
Opferberatungsstellen forderten deshalb bereits vor Monaten auch von Hessen | |
einen Fonds für die Hanau-Opfer. Zuletzt beschloss der Landtag tatsächlich | |
einen Opferfonds von zwei Millionen Euro. Der allerdings soll nun generell | |
für Opfer von Straftaten bereitstehen. Die Hanau-Betroffenen reagierten | |
irritiert: Solle man nun mit anderen um die Hilfsgelder streiten? | |
## „Taten statt Worte“ | |
Serpil Temiz und die anderen haben sich vernetzt, organisieren | |
Kundgebungen, sprechen in der Öffentlichkeit, reichen Anzeigen ein, wo sie | |
Ermittlungsfehler sehen. Sie treffen sich regelmäßig mit Kaminsky, sprachen | |
beim Bundespräsidenten in Berlin vor, fordern offensiv „Taten statt Worte“ | |
ein. Und am Sonntag, noch vor dem offiziellen Gedenken, wollen einige von | |
ihnen mit der „Initiative 19. Februar“ in einer Videokundgebung „die Kette | |
des Versagens“ beim Attentat offenlegen und eine wirkliche politische Zäsur | |
einfordern. | |
Serpil Temiz übergab schon auf der ersten Gedenkfeier in Hanau, kurz nach | |
der Tat, Angela Merkel einen Brief. Das Attentat müsse die Kanzlerin dazu | |
bringen, „endlich die Gesellschaft gegen Rassismus zu erwecken“, stand dort | |
drin. Es brauche eine „lückenlose Aufklärung“ des Attentats, lebenslange | |
Unterstützung der Familien und eine Stiftung „gegen Hass und Rassismus“. | |
Acht Monate später schritt Temiz selbst zur Tat: Sie gründete am 14. | |
November, dem Geburtstag von Ferhat, eine antirassistische | |
Bildungsinitiative, benannt nach ihrem Sohn. Die Benachteiligungen in der | |
Schule, die Ferhat erlebt habe, das solle sich nicht wiederholen, kein Kind | |
und keine Mutter solle das noch mal erleben, sagt Temiz. „Das macht | |
Familien kaputt. | |
Warum müssen wir immer um Akzeptanz bitten? Alle sollen die gleichen Rechte | |
haben.“ Temiz will nun mit einem guten Dutzend Jugendlichen | |
antirassistische Workshops an Schulen geben, darunter frühere Freunde von | |
Ferhat. Sie will Lehrer:innen sensibilisieren und Mütter vernetzen. Die | |
erste Veranstaltung findet am Montag in einer Hanauer Berufsschule statt, | |
auch Bürgermeister Kaminsky wird dabei sein. | |
Es ist auch dies eine Bilanz ein Jahr nach dem Anschlag. Dass der | |
Attentäter schreckliches Leid in neun Familien angerichtet hat. Aber dass | |
diese Familien mehr sind als Opfer, sie haben der Tat einen Aufbruch | |
entgegengesetzt. Der Attentäter und sein Vater, auch deren Hass, das gehört | |
zum Gestrigen. Serpil Temiz und die anderen aber arbeiten an der Zukunft. | |
An einer neuen Generation, jenseits des Hasses. Wenn das gelinge, sagt | |
Serpil Temiz, dann seien Ferhat und die anderen nicht umsonst gestorben. | |
12 Feb 2021 | |
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