| # taz.de -- Serpil Temiz-Unvar über ihre Initiative: „Ferhat hat immer gekä… | |
| > Sie verlor bei dem Hanau-Attentat ihren Sohn Ferhat. Serpil Temiz-Unvar | |
| > gründete darauf eine Bildungsinitiative, die nun feste Räume bezieht. | |
| Bild: Serpil Temiz-Unvar hat ihre Bildungsinitiative nach ihrem Sohn Ferhat ben… | |
| taz: Frau Temiz-Unvar, am Sonntag würde Ihr Sohn Ferhat 25 Jahre alt – | |
| [1][wäre er nicht am 19. Februar 2020 bei dem Anschlag von Hanau erschossen | |
| worden]. Nun begehen Sie an diesem Wochenende das einjährige Jubiläum Ihrer | |
| Bildungsinitiative, die Sie nach Ihrem Sohn benannt haben. Mit welchen | |
| Gefühlen gehen Sie in diesen Tag? | |
| Serpil Temiz-Unvar: Mit sehr, sehr gemischten Gefühlen. Natürlich wird es | |
| mich sehr traurig und emotional machen, dass ich nicht den Geburtstag von | |
| Ferhat feiern kann. Der Schmerz ist immer noch tief, er wird eigentlich | |
| immer tiefer – auch wenn ich das nicht nach außen zeige. [2][Ich vermisse | |
| ihn jede Minute, jede Sekunde, er ist immer in meinem Kopf]. Wenn jemand | |
| Kekse isst, denke ich an ihn, weil er Kekse mochte. Wenn ich jemanden mit | |
| Kappe und Bart sehe, denke ich an ihn. Immer denke ich an ihn. Auf der | |
| anderen Seite freue ich mich, dass wir schon so viel mit der | |
| Bildungsinitiative erreicht haben und wir nun auch eine eigene Räumlichkeit | |
| einweihen können. | |
| Am Samstagabend erhält Ihre Initiative auch noch den Aachener Friedenspreis | |
| … | |
| … ja, das auch noch an diesem Wochenende! Ich weiß noch nicht, ob ich für | |
| das alles die Kraft habe, aber ich mache das jetzt einfach, eins nach dem | |
| anderen. | |
| Der Preis ehrt Menschen und Gruppen, die „von unten“ Frieden stiften. Das | |
| passt wirklich gut auf Ihre Initiative. | |
| Wir freuen uns darüber sehr, wirklich. Das zeigt, dass unsere Arbeit | |
| gesehen und ernst genommen wird. | |
| Wie kamen Sie auf die Idee mit der Bildungsinitiative? | |
| Ich hatte schon direkt nach dem Attentat gesagt: Diese Kinder sollen nicht | |
| umsonst gestorben sein. Der Tod von Ferhat bedeutete unendlichen Schmerz. | |
| Er hat immer gekämpft, gegen so viele Widerstände, vor allem in der Schule. | |
| Und er hat vieles geschafft, hat seinen Abschluss gemacht und seine | |
| Ausbildung. Er hatte noch so große Ziele, so viel Hoffnung. Und dann wird | |
| er vor seiner Tür erschossen, alles ist umsonst. Das kann ich nicht | |
| akzeptieren. | |
| Sie wollten die Erinnerung an Ferhat hochhalten? | |
| Ferhat war oft nachdenklich. Einmal schrieb er: „Tot sind wir erst, wenn | |
| man uns vergisst.“ Das soll nicht passieren. Nach seinem Tod hatte ich | |
| immer wieder die Bilder seines Kampfs vor Augen. Wir haben früher zu Hause | |
| oft gestritten, weil er Probleme in der Schule hatte. Für mich hatten die | |
| Lehrer immer recht, so bin ich erzogen worden. Also habe ich ihm gesagt: Du | |
| musst mehr machen, egal wie schwer es ist. Und Ferhat hat gekämpft. Aber er | |
| blieb der Ausländer, der es nicht kann. Er wurde nicht gleichbehandelt. | |
| Heute bereue ich unseren Streit. Wenn ich daran denke, werde ich sehr, sehr | |
| traurig. Und ich weiß, Ferhat und ich, wir sind nicht allein damit. Sehr | |
| vielen Müttern und Kindern geht es so. Ihnen will ich jetzt Hilfe und Kraft | |
| geben. Deshalb die Initiative. | |
| Sie sagen dem Rassismus in Schulen den Kampf an? Eine ziemlich große | |
| Aufgabe. | |
| Ich finde, jeder sollte etwas dafür machen, eine Kleinigkeit oder etwas | |
| Großes, egal. Wir fangen jetzt damit an, mit Freunden von Ferhat und mir. | |
| Alles beginnt mit der Bildung, die Jugendlichen sind die neue Generation. | |
| Heute sind sie Kinder und morgen können sie in den Behörden arbeiten. | |
| Eigentlich braucht es Initiativen wie unsere in vielen Städten. Wenn viele | |
| mitmachen, wenn wir alle zusammenhalten, nicht nur Migranten, können wir | |
| Druck machen, und vielleicht schaffen wir etwas Gutes. Ich habe da wirklich | |
| Hoffnung. | |
| Sie hatten nach dem Anschlag zunächst die Bundeskanzlerin angeschrieben und | |
| sie um die Gründung einer staatlich geförderten Stiftung gebeten, die | |
| Aufklärungsarbeit gegen Rassismus leistet. | |
| Ich hatte ihr zweimal geschrieben, aber ich wurde nur an den | |
| Opferbeauftragten der Bundesregierung verwiesen. Das war eine Enttäuschung. | |
| Da gab es für mich nur noch zwei Wege: Entweder ich hasse die ganze Welt | |
| und die Menschen. Oder ich kämpfe für Ferhat und die anderen Jugendlichen. | |
| Und da habe ich mich für das Zweite entschieden. | |
| Was haben Sie mit Ihrer Initiative bisher erreicht? | |
| Es ist viel passiert. [3][Wir haben den ersten Gedenktag an den Anschlag | |
| mit vorbereitet]. Wir haben Bildungsmaterial und Videos erstellt. Einige | |
| unserer Jugendlichen haben sich als Demokratietrainer ausbilden lassen, | |
| sind mit Workshops bundesweit in Schulen gegangen. Und wir bekommen viel | |
| Unterstützung, von der Bildungsstätte Anne Frank, von der | |
| Rosa-Luxemburg-Stiftung oder der Stadt Hanau. Ein Gymnasium in Erlenbach | |
| hat 11.000 Euro Spenden für uns gesammelt – das war so toll! Nur mit dieser | |
| Unterstützung, nur zusammen, haben wir das geschafft. | |
| Vor der Bundestagswahl veröffentlichte Ihre Initiative Videos, in denen | |
| Freunde von Ferhat aufriefen, wählen zu gehen. Keine Selbstverständlichkeit | |
| nach dem Anschlag und der Enttäuschung vieler Betroffener über einige | |
| Reaktionen der Politik und Behörden. | |
| Man muss wählen gehen, natürlich. Viele Jugendliche haben setzen ja | |
| überhaupt keine Hoffnungen mehr in die Politik. Sie denken, die Politik | |
| gehört den erwachsenen Menschen. Aber es geht um ihre, um unsere Zukunft. | |
| Und über die können keine anderen Leuten entscheiden als wir selbst. | |
| Deshalb sagen wir: Baut euch eure Zukunft selbst, macht etwas! [4][Das | |
| fängt mit Wahlen an,] aber geht auch weiter. | |
| Zuletzt beklagten aber auch Sie immer noch offene Fragen zum Anschlag in | |
| Hanau: zum kaum erreichbaren Polizeinotruf in der Tatnacht, einem | |
| verschlossenen Notausgang an einem der Tatorte oder [5][der Rolle des | |
| Attentätervaters]. | |
| Die Fragen werden immer mehr, aber wir bekommen keine Antworten. Ich weiß | |
| auch bis heute nicht, wie Ferhat starb. Die Schüsse auf ihn fielen um 22 | |
| Uhr, in einem Video aus dem Kiosk sieht man, dass er noch ein paar Schritte | |
| läuft und dann hinter der Theke verschwindet. Als die Polizei kam, hat | |
| keiner nach ihm geguckt. Später wurde sein Todeszeitpunkt für 3.10 Uhr | |
| aufgeschrieben. Ich sage das zu mir jeden Tag: Wie lange hast du noch | |
| gelebt, Ferhat? Hast du Schmerzen gehabt? Warum hat dir keiner geholfen? | |
| Keiner gibt mir dazu Antworten, keiner. | |
| In Hessen läuft jetzt ein [6][Untersuchungsausschuss zu dem Anschlag]. | |
| Hoffen Sie hier auf Aufklärung? | |
| Ich weiß nicht, ob das Antworten bringt. Aber wir werden es verfolgen und | |
| ich werde auch als Zeugin aussagen. Und wir werden auch weiter die Akten | |
| durchgehen. Wir machen das – ob das die Polizei noch macht, weiß ich nicht. | |
| Alle sagen immer: Wir haben aus Hanau gelernt. Da frage ich: Was denn? Was | |
| habt ihr wirklich danach gemacht? Warum habt ihr nicht schon aus dem NSU | |
| gelernt? Ich habe das Gefühl, die reden nur, aber machen nichts. | |
| Die Initiative 19. Februar, die Sie und die anderen Anschlagsopfer | |
| unterstützt, beklagte gerade erst, dass Hessen seinen versprochenen | |
| Opferfonds zum Hanau-Anschlag bis heute nicht realisiert hat. Bringt Sie | |
| das in Probleme? | |
| Ich mache jetzt nicht die Hand auf und bitte um Geld. Das mache ich nicht. | |
| Aber es stimmt, dass wir vom hessischen Opferfonds noch kein Geld bekommen | |
| haben. Es geht aber nicht nur um uns Familien. Es geht auch um die | |
| Initiativen. Wenn der Staat sagt, wir wollen etwas gegen Rassismus machen, | |
| dann muss er auch Gruppen finanziell unterstützen, die dafür arbeiten. Das | |
| passiert viel zu wenig. Auch in unserer Bildungsinitiative arbeiten alle | |
| ehrenamtlich. Das wird nicht lange so gehen. | |
| Die Trauer, der Schmerz – und dann dieses Engagement. Woher nehmen Sie die | |
| Kraft dafür? | |
| Ich kämpfe für Ferhat, und für die anderen Jugendlichen. Für eine bessere | |
| Gesellschaft. Das gibt mir Kraft und das Gefühl, dass Ferhat nicht sinnlos | |
| gestorben ist. Für mich lebt Ferhat weiter mit diesen Jugendlichen. Seine | |
| Geschichte – die gehört zu jedem. | |
| 13 Nov 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Konrad Litschko | |
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