# taz.de -- Attentat in Hanau: „Wir mussten da alleine durch!“ | |
> Angehörige der Mordopfer erzählen vor dem Hanau-Unteruchungsausschuss, | |
> wie es ihnen nach der Tat erging. Kaum Hilfe vom Staat. | |
Bild: Die Angehörigen der Opfer von Hanau bei ihrer Mahnwache vor dem hessisch… | |
WIESBADEN taz | „Der Täter war psychisch krank und hatte eine Waffe, er hat | |
es im Internet angekündigt, er hat telefoniert – warum hat niemand darauf | |
geachtet?“ Auch 22 Monate nach dem rassistisch motivierten Mord an ihrem | |
Cousin Kaloyan Velkow hat Vaska Zlateva, „mehr Fragen als Antworten“. | |
Zlateva ist die erste Zeugin aus dem Kreis der Angehörigen der Hanauer | |
Mordopfer, die [1][der Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags] | |
anhören wird: Wäre es zu verhindern gewesen, dass ein Neonazi und | |
Waffennarr [2][am 19. Februar 2020] in einer Shisha-Bar und eine halbe | |
Stunde später in einem Kiosk in Hanau neun junge Menschen erschießen | |
konnte? Er zielte auf sie wegen ihres Aussehens, weil er sie für Ausländer | |
hielt. | |
[3][Welche Fehler] wurden vor der unfassbaren Tat gemacht und von wem und | |
welche unmittelbar danach? [4][Die Angehörigen fühlen sich nach wie vor | |
allein gelassen] mit ihrem Verlust und klagen deshalb an, auch an diesem | |
Tag mit einer Mahnwache vor dem Landtagsgebäude. | |
Eineinhalb Stunden gewährt am Freitag als erste Vaska Zlateva den | |
Abgeordneten einen Einblick in die Abgründe, die sich für sie und ihre | |
Familie nach dem Mord an ihrem Cousin aufgetan haben. „Er nannte mich | |
Schwester, ich war seine Familie und er meine,“ sagt die 36-jährige | |
alleinerziehende Mutter zweier Kinder. „Ich fühle mich schuldig, weil ich | |
ihn nach Deutschland eingeladen habe“, sagt sie. Sie habe gedacht, | |
Deutschland sei ein guter Staat. | |
## „Wie in einem Horrorfilm“ | |
Auch 22 Monate danach ist die Nacht vom 19. Februar präsent. Um 20.46 Uhr | |
habe sie zum letzten Mal mit ihm telefoniert. Ihr Cousin, der tagsüber LKW | |
fuhr, half auch an diesem Abend als Kellner in der Bar aus, der in dieser | |
Nacht zum Tatort wurde. „Leg dich hin Schwester, du musst morgen früh | |
aufstehen!“, seien seine letzten Worte gewesen. | |
Um Mitternacht ruft ein Kollege an, mit dem sie am Flughafen | |
zusammenarbeitet. In Hanau seien acht Menschen erschossen worden, „es ist | |
schrecklich!“, habe der Kollege gesagt und ihr geraten, nicht vor die Tür | |
zu gehen. Doch sie ruft ein Taxi und eilt vom gemeinsamen Wohnort Erlensee | |
zum Hanauer Heumarkt. Vor der Bar, in der ihr Cousin jobbt, | |
Einsatzfahrzeuge, Polizei, Absperrungen, „wie in einem Horrorfilm“, sagt | |
die Zeugin. | |
Einen der vielen Beamten habe sie gefragt, ob auch ein Bulgare unter den | |
Opfern sei. Der habe nur von einem Türken gewusst. Um Mitternacht | |
versammelt die Polizei schließlich in einer Halle in Lamboy die Menschen, | |
die fürchten müssen, dass ihre Angehörigen unter den Opfern sind. | |
Erst am frühen Morgen, gegen sechs Uhr gibt es die schreckliche Gewissheit. | |
Ein Polizeibeamter liest die Namen der Opfer vor. „Der meines Cousin kam an | |
dritter oder vierter Stelle“, erinnert sich die Zeugin. „Es gab Kaffee und | |
Wasser!“ Ob mit ihr in dieser Nacht irgendwer von den Behörden persönlich | |
geredet oder Hilfe angeboten habe, wollen die Abgeordneten wissen. „Nein“ | |
ist die Antwort. | |
## Besuch vom Botschafter | |
Zu Hause in Erlensee sagt sie der Tante, die in dieser Nacht ihren Sohn | |
verloren hat, Kaloyan sei verletzt und liege im Krankenhaus. Eine | |
Polizeibeamtin hilft ihr Stunden später, der Mutter die Todesnachricht zu | |
überbringen. Sechs Tage lang sei die Familie mit ihrer Not allein | |
geblieben. „Wir mussten da alleine durch“. Dann seien der bulgarische | |
Botschafter, der Hanauer OB und Vertreter des Ausländerbeirats gekommen, um | |
ihr Beileid auszusprechen. | |
Zwischen Kaloyan Velkows Tod und seiner Obduktion lagen mehr als 40 | |
Stunden, das wissen die Abgeordneten aus den Akten. Doch niemand hat | |
offenbar seine Angehörigen um ihre Einwilligung gebeten. „Man wusste, dass | |
die Menschen ermordet worden waren, was soll eine Obduktion?“ fragt Vaska | |
Zlateva. | |
Erst durch einen Abgeordneten erfährt sie bei ihrer Zeugenbefragung, dass | |
ihrem Cousin entnommene Organe nicht in dem Sarg waren, der eine Woche nach | |
seinem Tod überführt wurde. „Er wurde als erster erschossen und als letzter | |
begraben; wie einen Korb hat man ihn hin und her getragen, über | |
Griechenland nach Bulgarien, in welchem Land leben wir?“, fragt seine | |
Cousine. | |
## Neuer Opferfond in Hessen | |
In den Wochen nach der Tat hat sie ihren Job verloren, weil sie nicht | |
arbeiten konnte. Eine CDU-Stadträtin habe ihr später geholfen, einen neuen | |
zu finden, in dem sie allerdings weniger verdiene. Die Überführung und die | |
Flüge nach Bulgarien seien bezahlt worden, sonst habe sie keine | |
Unterstützung bekommen, weder vom Bund, noch von der Stadt oder dem Land, | |
versichert sie. | |
Gegen Ende der Befragung fragt der FDP-Abgeordnete Jörg-Uwe Hahn etwas | |
fassungslos, ob ihr denn niemand von den Offiziellen geraten habe, einen | |
Rechtsanwalt einzuschalten, der ihre Interessen vertreten könnte. Hahn ist | |
Jurist und war in Hessen Justizminister. „Das ist eine gute Idee“, sagt | |
Zlateva, aber das habe ihr niemand vorgeschlagen. | |
Der Vorsitzende Marius Weiss, SPD, verbindet schließlich den Dank für ihren | |
eindrucksvollen Beitrag zur Arbeit des Untersuchungsausschusses mit der | |
Empfehlung, sich an den Opferfond zu wenden, den der hessische Landtag | |
inzwischen eingerichtet hat. Seit dieser Woche können Opfer von Gewalttaten | |
in Hessen Unterstützung beantragen, auch die Angehörigen der Mordnacht von | |
Hanau, 22 Monate nach der Tat. | |
3 Dec 2021 | |
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## AUTOREN | |
Christoph Schmidt-Lunau | |
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