| # taz.de -- Sozialarbeiter über Hanau und Corona: „Eine Wunde im Stadtteil“ | |
| > Die Pandemie hat die Aufarbeitung des Anschlags verhindert, sagt Günter | |
| > Kugler. Er betreut Jugendliche in Hanau-Kesselstadt, viele von ihnen | |
| > kannten die Opfer. | |
| Bild: Günter Kugler und Kollegin Antje Heigel im Jugendzentrum kurz nach dem H… | |
| taz: Herr Kugler, Sie arbeiten als Sozialarbeiter in einem Jugendzentrum, | |
| nicht weit von einem der Tatorte entfernt. Am Tag des Anschlags haben Sie | |
| eines der Opfer, [1][Ferhat Unvar], verabschiedet. Auch viele Jugendliche, | |
| die Sie betreuen, kannten die Opfer. Wie haben Sie danach weitergemacht? | |
| Günter Kugler: Viele Menschen im Stadtteil kannten die Opfer, denn sie | |
| waren nicht von außerhalb, sondern haben hier gewohnt. Fünf der Opfer | |
| kannten wir gut, manche waren hier schon als Kinder im Jugendzentrum. Die | |
| ersten vier Wochen nach dem Anschlag war die Einrichtung hier so voll wie | |
| nie. Wir haben zusammen gekocht, uns in den Arm genommen, geredet, uns | |
| gegenseitig getröstet. | |
| Aber dann kam die Pandemie – welche Folgen hatte das in dem Fall? | |
| Corona hat die Aufarbeitung leider weitestgehend verhindert. Ich schätze, | |
| wir haben hier in Kesselstadt eine dreistellige Zahl von traumatisierten | |
| Menschen. Wegen Corona gibt es ja nicht viel, was hilft. Das eine ist | |
| psychotherapeutische Unterstützung und das andere wäre gemeinsames Trösten, | |
| Trauern oder Unternehmungen, aber das geht nur sehr beschränkt. Dazu kommt, | |
| dass viele keine Erfahrung oder Berührungsängste mit Einzelpsychotherapie | |
| haben. Direkt nach dem Anschlag haben wir versucht, Kleingruppen | |
| zusammenzustellen, die therapeutisch begleitet werden. Wir waren bei den | |
| Erstgesprächen dabei, um das vertrauter und niedrigschwellig zu | |
| organisieren. Aber mit dem ersten Lockdown wurden viele Therapien | |
| abgebrochen – und wir sehen hier im Stadtteil eine Verhärtung von | |
| Krankheitsverläufen. | |
| Was genau beobachten Sie? | |
| Es gibt Menschen, die essen nicht mehr, andere entwickeln Ticks. Viele | |
| können nicht mehr schlafen, weil immer wieder Bilder aus der Tatnacht | |
| auftauchen. Manche sagen, sie halten es nicht mehr im Stadtteil aus, weil | |
| sie vom Balkon aus auf den Tatort schauen. Die Angehörigen und Freunde der | |
| Opfer leben hier teils nur zwischen 50 und 200 Meter entfernt vom Haus des | |
| Täters oder vom Tatort. Sie müssen am Tatort vorbeilaufen, um einkaufen zu | |
| gehen, das retraumatisiert natürlich. Viele erzählen, dass es ihnen so | |
| vorkommt, als sei der Anschlag erst vor ein paar Tagen passiert. Aber es | |
| ist [2][fast ein Jahr vergangen]. | |
| Welche Art von Sozialarbeit bieten Sie derzeit an? | |
| Das ganze Jahr über haben wir Einzelgespräche angeboten oder in | |
| Kleingruppen gearbeitet – je nach Bestimmungslage. Es gibt auch jetzt im | |
| Lockdown Schülerhilfe, Berufsassistenz und Sozialberatung. Viel läuft | |
| online, aber wir können auch unter Auflagen vor Ort Gespräche führen. Was | |
| jetzt nicht geht, ist der offene Treff oder Sportangebote. Normalerweise | |
| haben wir 120 Jugendliche, die zweimal wöchentlich fest trainieren. Wir | |
| erreichen gerade nicht so viele wie vor der Pandemie. | |
| Gibt es denn Gruppen, die online in Kontakt sind? | |
| Wir haben mehrere Whatsapp-Chats, Whatsapp dürfen wir eigentlich wegen | |
| Datenschutz nicht verwenden, aber darüber kommunizieren einfach die meisten | |
| Jugendlichen. Dort können wir über Online-Sportangebote oder | |
| Berufsassistenz informieren, aber eigentlich wird da über viel mehr Themen | |
| kommuniziert. | |
| Sprechen die Jugendlichen seit dem Anschlag mehr über Rassismus? | |
| Die Jugendlichen hier fühlen sich mehrheitlich von Rassismus sehr | |
| betroffen. Das war schon vor dem Anschlag so. Die Wahrnehmung „Wir werden | |
| hier diskriminiert, wir bekommen nicht das, was andere bekommen“, die ist | |
| bei vielen Jugendlichen gesetzt. Allein was sie mitkriegen an Racial | |
| Profiling im Stadtteil – es wird nirgends so viel kontrolliert wie hier. | |
| Aber das, womit viele früher individuell umgegangen sind, wird jetzt mehr | |
| diskutiert und in diesen Zusammenhang gestellt. | |
| Also die Jugendlichen benennen Racial Profiling konkret? | |
| Sie sagen in etwa „Wir als Schwarzköpfe werden immer mehr kontrolliert.“ Es | |
| ist eine kollektive Erfahrung, die sie eint. Die Situation hat sich | |
| natürlich durch die Coronakontrollen zusätzlich verschärft. Viele | |
| Jugendliche bekommen jetzt Bußgeldbescheide, manche sind schon bei 600 Euro | |
| mittlerweile – Geld, das sie überhaupt nicht haben. | |
| Bußgelder, weil die Jugendlichen sich treffen, obwohl es unter Corona nicht | |
| erlaubt ist? | |
| Genau. Es wird hier viel kontrolliert. Dazu kommt, dass der Vater [3][des | |
| Täters] hier noch wohnt, er hat die gleichen weltanschaulichen | |
| Überzeugungen wie sein Sohn. Deswegen gibt es auch massive Konflikte. Das | |
| Verhältnis zur Polizei war vor Corona schon nicht gut und hat sich jetzt | |
| nicht verbessert… | |
| In Kesselstadt stehen viele Hochhäuser, wohnen die Jugendlichen dort eher | |
| in beengten Wohnverhältnissen? | |
| Viele Jugendliche leben räumlich beengt, ohne Balkon, teils zu fünft auf 70 | |
| Quadratmetern. Die Möglichkeit rauszugehen, ist da natürlich viel wichtiger | |
| als in einem großen Haus mit Garten. | |
| Wie blicken Sie auf diese Entwicklungen ? | |
| Besorgt. Denn die Polizeikontrollen sind ja nur ein weiteres Moment in | |
| einer sich vertiefenden sozialen Spaltung. Es geht hier nicht nur um | |
| Rassismus, sondern auch um soziale Fragen, denn die meisten Jugendlichen | |
| kommen aus Familien, die wenig Geld haben. Armut ist ja mehrheitlich | |
| migrantisch, in Kesselstadt sowieso. Viele soziale Probleme verschärfen | |
| sich unter Corona: Nur wenige Familien, die wir kennen, haben überhaupt | |
| einen funktionsfähigen Drucker oder genügend Laptops zu Hause. Das heißt, | |
| die Kinder fallen beim Homeschooling einfach hinten runter. | |
| Was müsste jetzt passieren? | |
| Bildungschancen und Berufsperspektiven zu schaffen, das sind | |
| gesamtgesellschaftliche Aufgaben. Aber in diesem Stadtteil muss viel | |
| passieren, auch städtebaulich, da sind sich alle einig. Der Tatort, der | |
| Kurt-Schumacher-Platz, ist wie eine offene Wunde im Stadtteil. Ich wünsche | |
| mir, dass die Jugendlichen in diesem Umgestaltungsprozess wirklich | |
| miteinbezogen werden, damit sie sich wirkmächtig fühlen. | |
| Und wie soll die Jugendarbeit konkret weitergehen nach dem Anschlag? | |
| Wir haben momentan einen speziellen Chat: Die Jugendlichen wünschen sich im | |
| Jugendzentrum einen Ort des Gedenkens. Eine Ecke mit Fotos und Blumen, und | |
| im Eingangsbereich soll es eine Messingtafel geben mit den Namen der | |
| Ermordeten. Das wird intensiv besprochen und geplant. Räumlich getrennt | |
| soll noch ein Ort der Begegnung entstehen, mit Sitzgelegenheiten und mit | |
| einem Brunnen in Form eines Globus. Die Jugendlichen hätten gern ein | |
| Graffiti mit der Aufschrift „Herzlich willkommen“ in 100 Sprachen. | |
| 16 Feb 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jasmin Kalarickal | |
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