# taz.de -- Hoffnung als politisches Prinzip: Euphorie muss systemrelevant sein | |
> Beim Anprangern von Missständen bleibt Freude oft auf der Strecke. Doch | |
> die Bilder nach der USA-Wahl zeigen, wie wichtig sie auch politisch ist. | |
Bild: Freude und Begeisterung in Atlanta über den Sieg Joe Bidens | |
Wann waren Sie das letzte Mal euphorisch? Ich meine so richtig, mit einem | |
Gefühl, als würde vor Glück gleich der Brustkorb zerspringen, als könnte | |
man durch die halbe Stadt rennen, irgendwelche Stufen hinauf, und als | |
müsste man dann von da oben alle angestaute Luft herausschreien. Wann noch | |
mal? | |
An irgendeinem Tag in der letzten Woche, nachdem das Konzept Zeit zu einem | |
zähen Klumpen Hubba Bubba zusammengeschmolzen war, da war plötzlich | |
Euphorie. So richtig, im Internet. Ich habe mich dabei beobachtet, wie ich | |
ins Netz starrte und eine Frau sah, die mit müden Augen Videos anguckte von | |
Menschen in den USA. Sie tanzten auf den Straßen. Fielen sich in die Arme. | |
Schrien vor Glück. Nahmen Telefonhörer ab und weinten. | |
Ich brauchte kurz, um diese Bilder zu begreifen, weil sie so sehr mit der | |
Sehgewohnheit der letzten Jahre brachen. Auf den Straßen tanzen, statt zu | |
demonstrieren. Vor Glück schreien statt vor Wut. Die Bilder zeigten | |
Menschen, die feiern, und zwar richtig. Sie feiern die Niederlage eines der | |
mächtigsten Arschlöcher der Welt, [1][sie feiern sich selbst und die | |
Hoffnung]. Ausgelassenheit, Erleichterung und Glück in einem Jahr, in dem | |
wir diese Gefühle sonst mit Abstand und durch Plexiglasscheiben betrachten | |
wie Exponate in einem Museum. | |
Als ich die Euphorie der anderen sah, wollte ich auch euphorisch sein. Das | |
Problem ist aber, dass wir Euphorie nicht gut können – wir, die die Welt | |
besser machen wollen. Wir sind so geübt im Anprangern von Missständen und | |
im Durchblicken komplexer Zusammenhänge, dass wir kaum Sätze bilden ohne | |
„andererseits“. | |
## Realismus ist nicht genug | |
Das ist wichtig, weil wir die Komplexität verstehen müssen, um Schlechtes | |
besser zu machen. Andererseits (!) steht das ewige Aber oft im Weg. Wir | |
brauchen nämlich die Euphorie wie eine Pause. Wir brauchen Momente | |
uneingeschränkter Freude, in denen wir die Bedenken kurz auf später | |
verschieben. | |
Viele Weltbessermacher:innen sind „Ja, aber“-Profis. Es gibt was zu feiern, | |
aber noch immens viel zu tun. Es ist nötig, diese Gleichzeitigkeit mal kurz | |
aufzulösen. Tatsächlich kostet die ständige Suche nach dem Haken eine Menge | |
Kraft. Wenn wir uns Zeit nehmen für sogenanntes Selfcare, warum nicht auch, | |
[2][wie die Journalistin Vanessa Vu] mal schrieb, für Community Care? | |
Zur Gemeinschaftspflege gehört das Feiern von Hoffnung, das ist | |
systemrelevant. Im [3][nüchternen Deutschland wird Hoffnung] oft | |
kleingemacht. Der Vorwurf heißt Naivität und Realitätsferne. Aber wo ist | |
die bessere Welt, wenn nicht zumindest etwas fern vom Ist-Zustand? | |
Realismus war nie genug, um die Welt besser zu machen. Hoffnung hat nicht | |
zuletzt diejenigen, die das System am meisten ächtet, immer weitermachen | |
lassen. Deshalb brauchen wir auch als Gemeinschaft Momente der Euphorie, in | |
denen man die bessere Welt fühlen kann und sich erinnert, dass viel mehr | |
drin ist als nur Durchhalten. | |
11 Nov 2020 | |
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## AUTOREN | |
Lin Hierse | |
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