| # taz.de -- Auszeichnung für Berliner Verlag: Mutig und wachsam | |
| > Der Verlag Secession hat den Großen Berliner Verlagspreis gewonnen. Hier | |
| > erscheinen edle Bücher, die sich einmischen. | |
| Bild: Manchmal seien die besten Funde zufällig: Verleger Christian Ruzicska | |
| Der weltberühmte Typograf und Informationsdesigner [1][Erik Spiekermann] | |
| steht in seiner Buchdruckwerkstatt p98a in einem Hinterhof der Potsdamer | |
| Straße in Berlin-Tiergarten an einer alten Druckmaschine und lässt sich von | |
| einem Mitarbeiter den Stand der Restaurierung erklären. Wer Dinge gern in | |
| die Hand nimmt, ist in dieser Werkstatt am richtigen Ort. Zahlreiche | |
| historische Druckmaschinen stehen da herum, umgeben von Druckerwerkzeug wie | |
| Schließzeug, Setzschiffen und unzähligen Schriften aus Holz und Blei. | |
| Es ist ein guter Ort, Bekanntschaft mit dem [2][Berliner Verlag Secession] | |
| zu schließen, denn Spiekermann hat viele der Bücher in dessen Programm | |
| gestaltet. Es ist auch deshalb ein guter Ort, weil sich die Bücher dieses | |
| Verlags, der erst kürzlich den mit 35.000 Euro dotierten [3][Großen | |
| Verlagspreis] der Berliner Senatsverwaltungen für Kultur und Europa sowie | |
| Wirtschaft, Energie und Betriebe gewonnen hat, so gut anfassen lassen. | |
| Ein paar Minuten später sitzen Erik Spiekermann und der Verleger Christian | |
| Ruzicska in einem Büro der Buchdruckwerkstatt und sollen von den Büchern | |
| sprechen, die sie gemeinsam machen. Der Berliner Winterhimmel hinterm | |
| Fenster ist ein graues Blechdach. Doch wenn Spiekermann und Ruzicska | |
| anfangen, könnte draußen ebenso gut ein lauer Sommerabend oder ein | |
| stürmischer Herbstmorgen sein. | |
| „Am Buch selbst hat sich im letzten Jahrhundert nicht mehr viel verändert“, | |
| sagt Spiekermann und grinst. Bücher, sagt er, wurden nicht einfach | |
| erfunden, sondern den Menschen auf den Leib geschneidert. „Ich bin davon | |
| überzeugt, dass auf dieser Welt schon alle Geschichten erzählt wurden“, | |
| fügt Ruzicska an und streicht sich eine Haarsträhne hinters Ohr. | |
| ## Es ist die Stimme, die interessant ist | |
| Schon im zweiten Satz, den die beiden sagen, um den Verlag Secession zu | |
| erklären, sind sie auf Betriebstemperatur. „Bei diesen Büchern darf es | |
| trotzdem knirschen, wenn die Erzählung es zulässt“, freut sich Spiekermann | |
| – und berichtet von den spröden Pausen, die man zum Beispiel zwischen | |
| Kapiteln setzen kann, und vom farbigen Vorsatzbogen, der immer den | |
| Buchdeckel und Papierblock verbindet, der aber bei Secession links und | |
| rechts in eine Extraklappe mündet. | |
| „Die Geschichten können noch so oft erzählt worden sein“, fällt Ruzicska | |
| mit lautem Lachen und wilden Handbewegungen ein. „Wenn die Stimme neu ist, | |
| will ich ihr folgen.“ Kurz denkt er nach, dann Stakkato: „Wie ist der | |
| Rhythmus, wie klingt der Text, wo sind Irritationen.“ Und dann holt er weit | |
| aus, ziemlich weit sogar. | |
| Als Christian Ruzicska im Jahr 2009 den Secession Verlag gründete, war er | |
| schon kein unbeschriebenes Blatt in der Verlagsszene mehr. Zusammen mit | |
| Michael Zöllner hatte er 1998 den Tropen Verlag gegründet, damals war er | |
| gerade mal Ende 20. Der Verlag galt als einer der aufregendsten | |
| Kleinverlage, unter anderen machte er [4][Jonathan Lethem] in Deutschland | |
| bekannt, einen der interessantesten US-amerikanischen Autoren seiner | |
| Generation. Schon auf den Covern der Bücher von Tropen war zu erkennen, | |
| dass hier leicht größenwahnsinnige junge Leute angetreten waren, mindestens | |
| das Establishment aus den Angeln zu heben: Tags statt Buchstaben, die | |
| ISBN-Nummern direkt neben den Autorennamen. | |
| ## Der Verlag hat sich verändert | |
| Doch dann verkaufte Michael Zöllner Tropen überraschend an Klett-Cotta, | |
| Ruzicska musste sich neu orientieren. Irgendwann fiel ihm ein Manuskript | |
| eines Studienfreundes in die Hände, des Autors [5][Steven Uhly], das ihn, | |
| wie er bis heute sagt, „einfach ergriff“. Zusammen mit Susanne Schenzle, | |
| einer Vertriebsleiterin beim wenig später gekenterten Ammann Verlag, | |
| gründete er in der Schweiz Secession. Uhly blieb dem Verlag wie die meisten | |
| Autoren, die einmal dort verlegt werden, treu. | |
| Aber Secession hat sich verändert. Inzwischen ist der Verlag in Berlin | |
| ansässig. Susanne Schenzle hat Secession verlassen, Joachim von Zepelin, | |
| der ihr 2009 folgte, vor Kurzem ebenso. Und trotzdem geht es dem Verlag | |
| gut. „Ich lebe bescheiden, aber ich lebe von meiner Arbeit“, sagt Ruzicska. | |
| Durch Corona gab es zu wenige Veranstaltungen, zu wenige direkte | |
| Begegnungen, das schon. Ruzicska freut sich dennoch ungebrochen auf das | |
| kommende Frühjahrsprogramm. | |
| Aber was ist das eigentlich für ein Verlag? Auf den ersten Blick wirken die | |
| Bücher, die hier verlegt werden, fast bieder. Sie alle erscheinen in einem | |
| ähnlichen Format, wirken erst mal hauptsächlich edel. Hinzu kommt der | |
| altmodische Name, der an die Wiener Secession erinnert, den Jugendstil | |
| also. Und eine Buchreihe, die sich „Handliche Bibliothek der Romantik“ | |
| nennt und den Zugang dieser Epoche zu Themen wie „Gespenster“ oder „Tiere… | |
| untersucht, gibt es auch noch. Ist Secession ein Verlag für | |
| Oberstudienräte? | |
| „Man muss nicht gebildet sein, um ein guter Leser sein zu können“, findet | |
| Christian Ruzicska, verweist auch auf die moderaten Preise seiner Bücher, | |
| die meist zwischen 18 und 25 Euro liegen, und lacht wieder. | |
| ## Keine Lust auf Touchscreens | |
| Der Verleger berichtet begeistert, dass er oft Bücher an junge Leute | |
| verschenke, die den Stand von Secession bei Buchmessen besuchen und sagen, | |
| sie hätten keine Lust mehr auf E-Books. | |
| Ruzicska ist ein Mann, der sichtbar in den achtziger Jahren ohne digitale | |
| Endgeräte sozialisiert wurde, der sich aber auch für jene interessiert, die | |
| heute jung sind. „Ich habe das Gefühl, sie leiden an Vereinsamung und | |
| Erfahrungsarmut. Viele, die ich gesprochen habe, wissen nicht wirklich, | |
| wohin mit sich.“ | |
| Wie für viele von Ruzicskas Kolleg*innen derzeit, darunter die Berliner | |
| Verleger von [6][Guggolz], [7][Matthes & Seitz] und der Verlag Das | |
| Kulturelle Gedächtnis, ist für ihn das Objekt Buch kein bürgerliches | |
| Statussymbol mehr, sondern eine Ansage in einer Zeit, wo sich | |
| Informationsbeschaffung fast nur noch auf Touchscreens abspielt. Das gilt | |
| besonders, wenn im Verlag junge Autor*innen erscheinen, deren Texte | |
| wehtun, die eine Herausforderung sind, manchmal sogar eine Zumutung – und | |
| denen man trotzdem nicht auf Twitter folgen soll, sondern ohne | |
| Unterbrechung durchs aktuelle Wetter oder andere Topmeldungen, ein ganzes, | |
| dickes Buch lang. | |
| „Welche Erzählung braucht eine Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt? | |
| Wo gehen wir hin?“ Das sind die Fragen, die Ruzicska interessieren. | |
| ## Dystopische Bücher | |
| Es sind auch die Fragen, die in jedem Programm von Secession mitschwingen. | |
| Auch im letzten, in dem vom Herbst 2021, dem 23. des Verlags. Da tauchen | |
| gleich drei dystopische Bücher bei Secession auf, Romane, die sich | |
| einmischen, künstlerisch mutig, politisch wachsam. Der deutsche Autor Björn | |
| Kern legt seinen bislang experimentellsten Roman vor, eine Art Gothic Novel | |
| über die Suche eines Sohns nach seinem Vater in einer fiktiven, dem | |
| Untergang geweihten Landschaft Ostdeutschlands. „Ich bin von diesem | |
| Manuskript nicht mehr weggekommen“, berichtet Ruzicska. | |
| Der belgische Autor Antoine Wauters steuert eine Parabel über ein | |
| Zwillingspaar bei, das sich aus einem surreal anmutenden System von | |
| Ausbeutung, Korruption und Gewalt befreit. „Einfach top“, stellt Ruzicska | |
| fest. | |
| Und die kanadische Autorin Karoline Georges gibt einen Roman über eine | |
| junge Frau dazu, deren Jagd nach körperlicher Perfektion schließlich im | |
| Virtuellen landet. „Ein Spitzentitel für unsere Zeit“, so Ruzicska. | |
| Das Gespräch mit Ruzicska dauert inzwischen schon eine Stunde, Erik | |
| Spiekermann ist längst gegangen, um wieder ein bisschen zu arbeiten, | |
| draußen verschwindet der Blechdachhimmel, weil es dunkel wird. Längst ist | |
| sicher, dass Ruzicska ein Literaturverrückter ist, ein Getriebener, der | |
| sich gern in Rage redet, wenn er von seinen Büchern spricht. Der schlecht | |
| zusammenfassen kann. Und der vom Hundertsten ins Tausendste gerät, wenn er | |
| erklären möchte, warum ein Buch unbedingt in die Welt musste. | |
| ## Die besten Funde sind die zufälligen | |
| Wie kommt er auf die Bücher, die er verlegt? Natürlich, sagt er, gibt es | |
| ein verlässliches Netzwerk aus guten Kolleg*innen und Übersetzer*innen, | |
| die ihm viel zuflüstern. Manchmal aber, räumt er ein, sind die besten Funde | |
| die zufälligen. Das sei kompliziert zu beschreiben, sagt er. Und fängt dann | |
| mit einer weiteren seiner langen Erklärungen an. | |
| Denn richtig plastisch kann er es vor allem am Beispiel der Bücher des | |
| polnischen Autors Jakub Małecki erzählen, der in Deutschland bislang noch | |
| kaum bekannt ist, der aber in seinem Heimatland längst als wichtige Stimme | |
| gilt. Ruzicska hat Małecki bei einer Reise nach Krakau kennengelernt. | |
| Zuerst war da nur das Cover eines Buches auf Polnisch, das ihn irgendwie | |
| ansprach. „Ich kann kein Polnisch“, lacht er. | |
| Am nächsten Tag hatte Ruzicska die ersten zehn Seiten des Buches auf | |
| Englisch gelesen. | |
| Es folgte ein dreistündiges Gespräch mit dem Autor am übernächsten Tag. | |
| „Was da für eine Magie wirkte, verstehe ich bis heute nicht“, sagt Ruzicska | |
| und kratzt sich am Kinn. Letztes Jahr verlegte er „Rost“, den ersten Roman | |
| Małeckis, in Deutschland über eine polnische Kleinstadt, in der während des | |
| Zweiten Weltkriegs unsägliche Gräueltaten passierten. In diesem Jahr folgt | |
| Małeckis zweiter Roman, „Saturnin“. „Diesmal“, verrät Ruzicska mit | |
| leuchtenden Augen, „ist das Buch von der Großmutter des Autors inspiriert“, | |
| und beginnt, auch noch von diesem Buch zu erzählen. | |
| ## Wie es weitergehen wird | |
| Inzwischen ist es aber wirklich Abend geworden in Berlin, Zeit, das | |
| Gespräch in geregelte Bahnen zu lenken, ein paar letzte, Pflichtfragen zu | |
| stellen. Zum Beispiel die: Wird Secession nach dem Weggang des Kompagnons | |
| nun ein Einmannverlag bleiben? „Die Zukunft kennt viele Wege, wir müssen | |
| sie nur gehen“, sagt Ruzicska. | |
| Und wie es weitergehen wird mit Secession, wenn Corona vorbei ist? „Ach“, | |
| seufzt Ruzicska, und wird zum ersten Mal ein bisschen still an diesem | |
| Abend. „Die Bücher aus dem kommenden Frühjahr haben alle das Format, | |
| größere Schiffe zu werden, ich wünschen es ihnen. Und dann segeln wir | |
| weiter in die Zukunft hinein.“ | |
| Und dann wedelt er schnell wieder wild mit den Händen. „Ruhig werden aber | |
| werde ich auch dann natürlich nicht“, lacht er. | |
| 14 Jan 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Susanne Messmer | |
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