# taz.de -- 25 Jahre Verbrecher-Verlag: Literatur lieben und Mut machen | |
> Vor 25 Jahren entstand der Verbrecher-Verlag, auch weil der | |
> Literaturbetrieb vor sich hin dröhnte. Längst zeigt sich: Das ist eine | |
> Erfolgsgeschichte. | |
Bild: Schäfchen im Trockenen: Verleger*innen Kristine Listau und Jörg Sunderm… | |
Kristine Listau und Jörg Sundermeier, die Chefs des Verbrecher-Verlags, | |
verbindet eine altmodische, fast schon aus der Welt gefallene Eigenschaft: | |
Sie reden vollkommen unabgeklärt über Literatur. Alles, was mit gedruckten | |
Buchstaben zusammenhängt, interessiert sie immer und überall wirklich | |
brennend. | |
So war es auch, als ich sie jüngst für diesen Artikel zum 25. Geburtstag | |
ihres Verlags am Küchentisch im Flur vor ihren Verlagsräumen im | |
„Mehringhof“ in Berlin an der Gneisenaustraße befragte. Wir besprachen | |
das schmeichelhafte Feuilletonecho der letzten Jahre. | |
Die Verlagspreise (zweimal der deutsche, neulich der Berliner). Die für | |
einen Verlag dieser Größe staunenswerten Verkaufszahlen, zum Beispiel ihrer | |
Autorinnen [1][Anke Stelling] (zuletzt 35.000 allein im Hardcover mit | |
„Schäfchen im Trockenen“) oder [2][Manja Präkels] (15.000 im Hardcover mit | |
„Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“). Die erfolgreichen | |
Ideenfindungssalons der „Verbrecherversammlungen“. Das auf einem Bierdeckel | |
nach einer nächtlichen Diskussion gefundene Verlagslogo. | |
Sie freuen sich über all diese im Betrieb erzielten Erfolge, sie sind auch | |
zu Recht nicht wenig stolz darauf, klar. Aber ihre ungeteilte | |
Aufmerksamkeit bekommt man erst, wenn man den Ball des Gesprächs ein paar | |
Mal mit dem nötigen Nachdruck und Drehimpuls in solche Gegenden des | |
literarischen Felds gespielt hat, über die sich Literatur-Nerds eben auch | |
am späteren Abend in der Kneipe auszutauschen lieben: über den chinesischen | |
Science-Fiction-Autor Cixin Liu. | |
Über die kunstvoll erarbeitete Schnoddrigkeit in den Erinnerungsbüchern von | |
Peter O. Chotjewitz, die hintergründige Einfachheit der Sprache von Annette | |
Weber, vergessene New Yorker Exilautoren. Und über die unabgearbeitete, | |
noch kaum in den gegenwärtigen Blick genommene „Unschuld“ (Listau) der | |
zwanziger Jahre, was Literaturstrategie, formale Kühnheit und sexual | |
politics betrifft. | |
## Gegenkanonische Nerdiness | |
Ohne es selber gleich zu merken, setzten wir, während der Nachmittag | |
fortschritt, die abendlichen Gespräche fort, die wir vor Jahren im Tifliser | |
Bistro „Tartine“ im Vorderhaus des dicht bewaldeten stalinistischen | |
Hinterhofs begonnen hatten, wo ihr Autor Giwi Margwelaschwili (der neulich | |
natürlich auch Thema war) bis zu seinem Tod im Frühling dieses Jahres zwei | |
kleine Zimmer bewohnte und wo wir ihn damals gemeinsam besucht hatten. | |
Die Wurzeln des Verlags, das spürt man in dieser Art von Gesprächen mit | |
Listau und Sundermeier, sind heute noch solide verankert in einer | |
gegenkanonischen künstlerischen nerdiness, die um die Mitte der neunziger | |
Jahre des letzten Jahrhunderts neben den „Verbrechern“ auch Mark Degens | |
Sukultur-Verlag inspiriert hat, die literarischen Anfänge Dietmar Daths, | |
den Karriere-Take-off des Steidl-Verlags, die klassische Phase von Spex, | |
die literarisch-musikalische Fanzine-Bewegung oder solche Projekte wie den | |
Münchner „,speak'-Akten All“-Reader der Gruppe um Andreas Otteneder. | |
Es brach um 1995 herum etwas auf unter der Oberfläche des damals noch | |
unverdrossen vor sich hin dröhnenden offiziellen Literaturbetriebs. | |
Sundermeier und sein damaliger (inzwischen ausgestiegener) Kompagnon Werner | |
Labisch wollten Manuskripte veröffentlichen, die sie selber faszinierten | |
und von denen sie wussten, dass sie bei Hanser, Rowohlt, S. Fischer oder | |
Suhrkamp vermutlich (noch) nicht herauskommen würden. | |
## Dietmar Daths erster Roman | |
Die umfangreichen Tagebücher des zu Unrecht vergessenen Expressionisten und | |
Sexualrevolutionärs Otto Mainzer zum Beispiel. Oder den ersten Roman | |
Dietmar Daths, er heißt „Cordula killt Dich oder wir sind doch nicht die | |
Nemesis von jedem Pfeifenheini. Roman der Auferstehung“. Dieses Manuskript | |
wurde zu ihrem ersten Buch. | |
Die Finanzgrundlage des damaligen „Fake-Verlags“ (Sundermeier) war nicht | |
üppiger als die Ersparnisse, die seine beiden Gründer in ihrer | |
Zivildienstzeit beiseite gelegt hatten. Es war (und ist) das | |
bildungssoziologische Wunder wirklicher und Tatsache gewordener | |
Präponderanz von literarischem Enthusiasmus über die Macht finanziellen, | |
kulturellen und sozialen Kapitals. | |
## Urknall der Neunziger | |
Unter diesem Aspekt gewinnt das Erfolgsplateau, auf dem sich Listau, | |
Sundermeier und ihre Kolleginnen und Kollegen im „Mehringhof“ ein | |
Vierteljahrhundert nach dem Urknall der neunziger Jahre befinden, etwas | |
Exemplarisches und Mutmachendes für eine Branche, die derzeit Mut und | |
Erfolgsexempel dringend brauchen kann. Und mein Geburtstagsgeschenk an | |
diesen mirakulösen Verlag besteht in der Erinnerung an den spätabendlichen | |
Moment, als wir 2015 in der nach Kohlenrauch riechenden herbstlichen | |
Dunkelheit der Tifliser „Abashidze-Straße“ auf dem Treppenabsatz des | |
„Tartine“ saßen. | |
Wir stießen auf Giwi Margwelaschwili an (der im Hinterhof gerade vermutlich | |
noch an seinen philosophischen oder literarischen Manuskripten feilte) und | |
ich hatte hier zwei Menschen getroffen, die aus genau dem Grund wirklich | |
etwas von Literatur verstehen, weil sie ihnen so viel bedeutet. | |
31 Oct 2020 | |
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## AUTOREN | |
Stephan Wackwitz | |
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Berenberg und den Verbrecher Verlag. |