# taz.de -- Diepgen und Wowereit übers Regieren: „Bier steht für Berlin“ | |
> Eberhard Diepgen (CDU) und Klaus Wowereit (SPD) regierten insgesamt 28 | |
> Jahre die Stadt. Beide sind grundverschieden. Was haben sie sich zu | |
> sagen? | |
Bild: Eberhard Diepgen und Klaus Wowereit entspannt auf der Dachterasse der taz… | |
taz: Herr Wowereit, Herr Diepgen, sind Sie sind eigentlich nach wie vor | |
untereinander beim Sie? | |
Klaus Wowereit: Das war schon zu Amtszeiten so. Warum sollten wir das jetzt | |
ändern? | |
Und wenn Sie zusammentreffen, worüber reden Sie dann? | |
Eberhard Diepgen: Worüber haben wir zuletzt gelästert? | |
Wowereit: Wir waren bei Springer. Worum ging es da? Abgesehen davon – am | |
schönsten war es mal bei einem Geburtstag von Brigitta Mira. Sie hat in | |
einer Kneipe gefeiert. Ich komm rein, noch als Regierender Bürgermeister, | |
da sagt Brigitte Mira: „Ach wie schön, Herrn Diepgen, dass Sie auch da | |
sind.“ (lacht) | |
Diepgen: Ich werde auf der Straße oft angesprochen und empfinde dabei eine | |
hinreichende Mischung zwischen begrenzter Lästigkeit und befriedigter | |
Eitelkeit. Je länger meine Amtszeit vergangen ist, desto besser erscheint | |
sie... | |
Sie haben beide an der Freien Universität Jura studiert, sind klassische | |
Berufspolitiker geworden und jeweils über ein Milliardendesaster | |
gestolpert. Verbindet das? | |
Wowereit: Was ist denn ein klassischer Berufspolitiker? | |
Diepgen: Ich war Rechtsanwalt. Und ich habe immer darauf geachtet, dass ich | |
ein berufliches Bein habe. Ich halte nichts von denjenigen, die ihr Studium | |
nicht abschließen, dann in die Politik gehen, große Karriere machen wollen | |
oder sogar machen, ohne wirkliche Erfahrungen im Umgang mit dem Leben zu | |
haben. | |
Sie waren der Regierende Bürgermeister, der mit 15 Jahren am längsten im | |
Amt war. | |
Diepgen: Richtig. Im Nachhinein ist mein Leben mehr von den politischen | |
Ämtern geprägt gewesen. Aber das war so nicht unbedingt geplant. | |
Wowereit: Auch bei mir war es das nicht. Nach meinem Studium war ich in der | |
Verwaltung, bin dann aber mit 30 Jahren Stadtrat in Tempelhof geworden. | |
Wichtig ist die Unabhängigkeit – also nicht für ein Amt zu kandidieren, | |
weil du sonst in die Sozialhilfe gehst. | |
Was haben Sie noch gemeinsam? | |
Wowereit: Erst mal trennt uns vieles, schon allein vom Naturell her. | |
Andererseits haben wir natürlich auch dieselben Erfahrungen gemacht in | |
diesem Amt. | |
Diepgen: Wir sind vom Typ und von der Herangehensweise sehr | |
unterschiedlich. Jeder hat seine Stärken und Schwächen. Aber viele | |
Erfahrungen sind die gleichen, auch mit der eigenen Partei und der | |
Öffentlichkeit. | |
Herr Diepgen, wie würden Sie Herrn Wowereit beschreiben? | |
Diepgen: Herr Wowereit war in der Kür sehr gut. Er hat ganz andere Menschen | |
angesprochen als ich. Für die Attraktivität Berlins war seine Ausstrahlung | |
wichtig. Bei der Pflicht sah ich entscheidende Lücken. Ich war dagegen in | |
der Pflicht besser als in der Kür. | |
Wowereit: Bei der Pflicht stimme ich nicht zu. Das Bild des Regierenden | |
Partymeisters war sehr verzerrt. Alle, die mit mir zusammengearbeitet | |
haben, wussten, dass ich ähnlich wie Diepgen Aktenstudium betrieben habe. | |
Diepgen: Ich würde meinen Champagner immer nur aus dem Glas trinken... | |
... damit spielen Sie auf ein berühmt gewordenes Foto mit Klaus Wowereit | |
an. | |
Diepgen: Spätestens seit der 750-Jahr-Feier habe ich gelernt, mich nie mit | |
einem Wein- oder Sektglas fotografieren zu lassen. Wenn, dann nur mit einem | |
Bierglas. | |
Warum? | |
Diepgen: Bier steht für Berlin und Bodenhaftung, Sekt für Feiern und | |
Schickimicki. | |
Wowereit: Mit dem Champagner sind Sie schon auf Fake News reingefallen. Ich | |
habe nie aus diesem Schuh Champagner getrunken, aber das Bild hält sich. Es | |
ist auch nicht das einzige dieser Art. Übrigens glaube ich, dass wir zu 90 | |
Prozent auf denselben Partys waren. Nur dass man Diepgen dabei nicht | |
angesehen hat, dass es ihm Spaß macht (beide lachen). | |
Haben Sie sich zu Amtszeiten bemüht, das Bild von sich zu kontrollieren: | |
also mehr Aktenfresser und weniger Partymeister? | |
Wowereit: Das Bild hat mir ja nicht geschadet. Ich bin wiedergewählt | |
worden. Aber den roten Schuh, den hätte ich danach immer fallen lassen. | |
Ihnen, Herr Diepgen, haben die Berater vor einer Wahl die Kampagne „Diepgen | |
rennt“ als Gegengift zum „blassen Eberhard“ übergeholfen. Haben Sie das | |
gern gemacht? | |
Diepgen: Ich bin immer gejoggt, aus gesundheitlichen Gründen. Aber die | |
Kampagne hatte noch einen anderen Hintergrund. Bei der Vorbereitung der | |
Wahlen im Jahr 1999 hatte mir damals Peter Radunski … | |
… Ihr Kultursenator … | |
Diepgen: … gesagt: „Das Problem bei den nächsten Wahlen bist du!“ Ich sei | |
schon zu lange im Amt; Kritiker würden behaupten, ich sei verbraucht. Also | |
musste ich mit einem Bild der Bewegung und Leistungsfähigkeit verbunden | |
werden. Damals lief im Kino der Film „Lola rennt“. So entstand „Diepgen | |
rennt“. Und es hat funktioniert. Übrigens haben wir früher auf den „blass… | |
Eberhard“ immer gekontert: blasser Spargel ist Qualitätsspargel (lacht). | |
Wowereit: Diepgen war sehr detailbeflissen, hatte aber große | |
Anlaufschwierigkeiten, Entscheidungen zu treffen. Das erinnert mich ein | |
bisschen an Angela Merkel. Aber er kannte diese Stadt wie kaum ein anderer, | |
deshalb ist da ein hoher Respekt. Ich neige eher zum Barocken und er zum | |
Calvinistischen. | |
Diepgen: Damit kann ich leben. Anlaufschwierigkeiten – wenn es sie gab – | |
waren meist dem Thema geschuldet. | |
Herr Diepgen, 1999 haben Sie haben die Wahl wiedergewonnen, wurden dann | |
aber 2001 von Klaus Wowereit aus dem Amt gejagt. Auslöser war der Berliner | |
Bankenskandal. Hat das Wunden hinterlassen? | |
Diepgen: Mir war immer klar, dass Klaus Wowereit als | |
SPD-Fraktionsvorsitzender jede Gelegenheit packen würde, um den Senat | |
abzulösen und die SPD nach vielen Jahren wieder zur Nummer 1 zu machen. Ist | |
da was hängen geblieben? Ich sage jetzt nicht, dass ich damals glücklich | |
darüber gewesen war. Es hat mich geärgert, dass mir Verantwortung | |
zugeschrieben wurde, die ich gar nicht hatte. Aber es war Wowereits Job. | |
Das sagt sich heute so leicht... | |
Diepgen: Veränderungen lagen in der Luft, auch Veränderungen im Verhältnis | |
zur PDS. Nach vielen Grundsatzentscheidungen hatte die Berliner Politik die | |
Mühen der Ebene erreicht; das wirkte nicht mehr kraftvoll. Und es wird Sie | |
überraschen, dass ich das sage: Aber für die Koalition mit der PDS gab es | |
viele Argumente. Sie erschien verlässlicher als die Grünen. Ich hätte diese | |
Koalition an Wowereits Stelle auch in Erwägung gezogen. | |
Sie erkennen also Wowereits Argument an, dass die rot-rote Koalition auch | |
eine Versöhnung der beiden Stadthälften war? | |
Diepgen: Ja. Ich würde mehr von Miteinander reden. Aber das waren andere | |
Linke als heute. Inzwischen gibt es eine Reideologisierung. Nicht die | |
pragmatischen Gebrüder Wolf. Den Marsch in die Vergangenheit gibt es bei | |
Linken und auch bei den Berliner Grünen. | |
Wowereit: Ich glaube, dass die Koalitionen mit der damaligen PDS nicht die | |
schlechteste Zeit für Berlin waren. Aber sie waren natürlich höchst | |
umstritten. Auch in meiner Partei. Das war ein Tabubruch. | |
Ein Tabubruch war auch Ihr Wahlkampfspruch 2001: „Ich bin schwul, und das | |
ist auch gut so.“ Herr Diepgen, was haben Sie damals gedacht, als Sie das | |
gehört haben? | |
Diepgen: Ich war erstaunt, dass er das sagt. | |
War das Kalkül, Herr Wowereit? | |
Wowereit: Es kam aus dem Bauch. Aber es gab auch eine Vorgeschichte: Ich | |
habe es schon vor dem Parteitag im Landesvorstand erklärt. Dass ich es auf | |
dem Parteitag sage, davon haben mir alle abgeraten. Es wussten zwar viele | |
Journalisten, aber es war kein öffentliches Thema. Mir war aber klar, dass | |
es das im Wahlkampf werden würde. Die Wortwahl war spontan. | |
Diepgen: In der öffentlichen Wahrnehmung war der Satz damit verbunden, dass | |
Berlin sich öffnet, attraktiver wird, internationaler. [1][Für die | |
Anziehungskraft Berlins war der Satz wichtig.] Er war ein Teil des Erfolgs | |
von Klaus Wowereit. | |
Wie ist das heute: Bilden die Parteien die Vielfalt in der Stadt ab oder | |
bleiben sie hinter der Realität zurück? | |
Diepgen: Die Politik ist eher vorneweg, verglichen mit der Mehrheit der | |
Menschen in der Stadt. | |
Das gilt aber nicht, was den Frauenanteil in Ihrer Partei angeht. | |
Diepgen: Da bin ich vielleicht ein Mensch des vergangenen Jahrtausends. Ich | |
halte die [2][Diskussionen über Quoten] für falsch und rechtlich | |
fragwürdig. Das Verfassungsgericht hat ja gesagt, man müsse sich nicht mehr | |
entscheiden, ob man Männlein oder Weiblein ist. Ist da eine Frauenquote | |
zeitgemäß? | |
Sie sind doch noch konservativer, als wir dachten. | |
Diepgen: Das ist nicht konservativ, sondern fortschrittlicher, als Sie | |
denken. Konservative Politik macht Veränderungen erst möglich, klärt dabei | |
aber erst ab, welche Folgen das hat. | |
Haben Sie auch konservative Anteile, Herr Wowereit? Sie galten in der SPD | |
ja immer als Linker … | |
Wowereit: Interessant, nicht wahr? Natürlich habe ich konservative Anteile. | |
Aber mein Gesellschaftsbild unterscheidet sich doch sehr von dem der | |
Konservativen. Wobei sich in den etablierten Parteien da viel getan hat in | |
den letzten Jahrzehnten, etwa mit der Ehe für alle. | |
Herr Diepgen, Sie haben [3][2016 Ihrer Partei empfohlen], sich mehr hin zur | |
AfD zu öffnen, bis an den rechten Rand zu rücken. Sehen Sie das heute noch | |
genauso? | |
Diepgen: Das war vor vier Jahren. Die AfD hat sich seitdem verändert. Man | |
weiß noch nicht, welche Entwicklung sie nehmen wird. | |
Aber wir sehen doch gerade einen zunehmenden Rechtsextremismus, der sich | |
auch in der AfD und ihren Wahlerfolgen manifestiert. | |
Diepgen: Heute mehr als damals. Ich bin sehr vorsichtig bei jeder Form von | |
Extremismus, von links wie von rechts. | |
Den Satz haben wir jetzt erwartet! | |
Diepgen: Schön, wenn sich Vorurteile bestätigen. Ich bin in der Tat in | |
meiner politischen Arbeit durch gewaltsame Attacken von links geprägt | |
worden. Ich wurde lange von Polizisten begleitet, nicht weil von | |
Rechtsextremen Gefahren ausging, sondern von Linksextremen. Auch meine | |
Kinder wurden oft von Personenschützern zur Schule begleitet. Natürlich ist | |
eine besondere Sensibilität nach rechts notwendig, auch aufgrund der | |
deutschen Geschichte. Man muss aber über eine längere Zeit beobachten, wie | |
sich neue Parteien entwickeln. Ich erinnere an den Satz von der Holzlatte, | |
mit dem der Sozialdemokrat Holger Börner einst jede Zusammenarbeit mit den | |
Grünen ablehnte. Eine Zusammenarbeit mit der AfD kann für die Zukunft auch | |
nur sehr vorsichtig in Erwägung gezogen werden. Noch ist nicht sicher, wer | |
da im Machtkampf gewinnt. | |
Wowereit: Der Ausdruck „vorsichtig“ ist mir hier eindeutig zu wenig. | |
Diepgen: Welchen empfehlen Sie denn? | |
Wowereit: Eine klare Abgrenzung. Wir haben Tausende Beweise, dass eine | |
breite Funktionärsschicht dieser Partei rechtsextremistische Positionen | |
vertritt. Für eine demokratische Partei ist damit jede Annäherung | |
ausgeschlossen. | |
Diepgen: Ich kenne keinen Landesverband der AfD, mit dem eine | |
Zusammenarbeit zurzeit möglich erscheint, auch nicht auf Bundesebene. Auf | |
der kommunalen Ebene kann ich eine gemeinsame Abstimmung oder | |
Zusammenarbeit nicht ausschließen. Man kann nicht gegen eine vernünftige | |
Maßnahme stimmen, nur weil die AFD dafür ist. | |
Herr Diepgen kann ihrem Tabubruch von 2001 mit der PDS etwas abgewinnen. | |
Für einen Tabubruch der CDU mit der AfD hätten Sie, Herr Wowereit, aber | |
kein Verständnis? | |
Wowereit: Auf keinen Fall. Eine Zusammenarbeit oder auch nur eine Akzeptanz | |
der AfD ist nicht akzeptabel. Auch die CDU muss nach links schauen – sie | |
arbeitet ja auch mit den Grünen zusammen. In Berlin ist das allerdings ein | |
bisschen schwieriger. | |
Was schätzen Sie denn von ganzem Herzen an den Grünen? | |
Diepgen: (überlegt lange) Sie sind sehr verschieden. Es ist ja ein | |
Unterschied, ob ich es mit Herrn Kretschmann oder mit Canan Bayram... | |
... der in Friedrichshain-Kreuzberg direkt gewählten | |
Bundestagsabgeordneten... | |
Diepgen: ... und Berlins Justizsenator Dirk Behrendt zu tun habe. Ich kann | |
mir durchaus vorstellen, dass ich – wenn ich mit den Kandidaten der Union | |
nicht einverstanden wäre – in dem einem oder andern Wahlkreis auch mal grün | |
wählen würde. Aber gegenwärtig nicht in Berlin. | |
Wowereit: Da bin ich konservativer! Natürlich gibt es eine Diversität auch | |
in meiner Partei von Leistungen und Kandidaturen, die man unterschiedlich | |
betrachten kann. Aber die Sozialdemokratie hat weiterhin meine Präferenz. | |
Könnten Sie sich vorstellen, eine rot-rot-grüne Koalition zu leiten? | |
Wowereit: Natürlich. Wobei Dreierkonstellationen nicht leicht zu führen | |
sind. | |
Diepgen: Unter Klaus Wowereit wäre das eine oder andere, was sich Michael | |
Müller gefallen lässt, nicht passiert! | |
Wowereit: Das könnte sein. Man muss schon mal ’ne klare Kante zeigen, auch | |
als Person. Und man sollte nicht immer nur faule Kompromisse machen. | |
Sie kennen die taz seit ihrem Bestehen. Wie hat sich ihr Bild von der | |
Zeitung gewandelt? | |
Diepgen: Ich bin hier zu Gast und darf nicht unhöflich sein... | |
Wir sind tolerant... | |
Diepgen: Ich finde, die taz ist gut gemacht und auch heute die Überschrift | |
(hebt die Zeitung hoch): Das ist spritzig, das ist gut, das gefällt mir. | |
Aber Information und Meinung sind nicht ausreichend genug getrennt. Die taz | |
wirbt ja auch damit, sie wolle die Welt verändern. | |
Herr Wowereit, aber Ihr Leib- und Magenblatt sind wir doch, oder? | |
Wowereit: Aus meiner Sicht ist die taz unverzichtbar im Meinungsspektrum, | |
das ist ja leider nicht mehr so vielfältig wie noch vor einigen Jahren. In | |
meiner Zeit habe ich in der taz nicht meine Klientel angesprochen, da gab | |
es andere. Aber die taz ist ja auch nicht mehr die Zeitung der 80er. Und | |
manche Redakteure von der taz sind heute die konservativsten Kommentatoren | |
bei Springer. Das ist fast unglaublich. | |
Diepgen: Es ist ja schön, wenn Leute was dazulernen. Aber zum Spektrum der | |
Menschen in dieser Stadt gehört die taz. Dem stimme ich zu. | |
Herr Wowereit, Ihnen hat die wiederholte Verschiebung der BER-Eröffnung das | |
Genick gebrochen. Hätten Sie gern über 2014 hinaus weitergemacht? | |
Wowereit: Also mein Kopf sitzt noch ganz fest drauf. Aber natürlich war die | |
Entwicklung des BER ein Punkt, die immer wieder zu Recht kritische Fragen | |
aufgeworfen hat und die auch nicht als Glanzstück übrig bleibt. Aber die | |
Verantwortung dafür ist ein bisschen einseitig bei mir abgeladen worden – | |
schließlich gehört der Flughafen auch zu Teilen dem Bund und dem Land | |
Brandenburg, nicht nur Berlin. | |
Dann sind Sie glücklich, dass der Flughafen jetzt aufgemacht hat? | |
Wowereit: Natürlich. | |
Diepgen: Ich war auch zur Eröffnung eingeladen. Aber der Flughafen hatte | |
meine private Anschrift gar nicht mehr. | |
Wowereit: Meine auch nicht, dabei war ich mal Aufsichtsrat. Die Einladung | |
kam über die Senatskanzlei. Das finde ich schon scharf. | |
Haben Sie zwischendurch bezweifelt, ob der Flughafen je aufmacht? | |
Wowereit: Nie. Ich weiß, dass viele das erhofft haben, aus den | |
unterschiedlichsten Gründen. Das ärgert mich. Denn neben dem vielen, was | |
schiefgelaufen ist: Diese Freude über das Scheitern fand ich immer | |
abstoßend. | |
Das waren die Medien? | |
Wowereit: Nicht nur. Die transportieren ja nur. Auch bei anderen, bei | |
Kabarettisten... | |
Das ist doch deren Job. | |
Wowereit: Aber gibt Grenzen, ich frage mich, was die nun machen. Es gibt | |
viele Großprojekte in Deutschland, die lange brauchten, die Elbphilharmonie | |
oder Stuttgart 21. Aber eine derartige Häme gibt es nirgendwo sonst. Ich | |
finde, die Berliner müssen mehr Selbstbewusstsein zeigen: Wenn in Hamburg | |
die Attacke von außen kommt, dann schließen die die Reihen. Wenn Berlin das | |
passiert, dann hauen sie in Berlin erst recht aufeinander ein. | |
Die Häme gegen Berlin – die gibt es nicht nur beim Flughafen. Sondern auch | |
beim regelmäßigen S-Bahn-Chaos oder wenn es drei Wochen dauert, bis man das | |
Auto angemeldet bekommt. | |
Diepgen: Drei Wochen?! Wie haben Sie das so schnell geschafft? Meine | |
Tochter wartet mittlerweile drei Monate darauf. Eine Diskussion zur | |
Flughafenpolitik will ich hier nicht fortsetzen, das wäre ein weites Feld. | |
Was steckt denn hinter dieser Häme. Etwa dass sich die Provinz an der | |
Großstadt abarbeitet? | |
Diepgen: Da steckt noch mehr dahinter: Wenn Sie auf die – im kommenden Jahr | |
– 150-jährige Geschichte der Hauptstadt Berlin blicken, dann erkennen Sie: | |
Es gibt kulturelle Vorbehalte aus der Rheinbundrepublik gegen die | |
ostelbische Hauptstadt. Aber es wird langsam besser. | |
Wowereit: In allen Ländern wird die Hauptstadt nicht nur geliebt. Blöd ist | |
es aber, wenn man selbst die Vorlagen liefert, so wie bei der | |
Autoanmeldung. | |
Sie beide haben Ihr ganzes Leben in Berlin verbracht. Haben Sie nicht etwas | |
verpasst? | |
Wowereit: Ich hätte als Schüler oder Student mal länger ins Ausland gehen | |
sollen. Das stand aber damals in meiner Situation nicht auf der | |
Tagesordnung. Ansonsten wüsste ich nicht, wo ich sonst leben sollte. | |
Diepgen: Wenn ich länger in meinem Ferienhaus in der Lüneburger Heide bin, | |
entwickle ich immer wieder Sehnsucht zurück. Aber nach dem Amtsantritt von | |
Herrn Wowereit hätte ich diese Stadt für mindestens zwei Jahre verlassen | |
und in der Welt rumreisen müssen. | |
Wowereit: Immerhin waren Sie in Australien. | |
Diepgen: Aber nur einen Monat. | |
Wowereit: Als ich zurückgetreten bin, hat er mir das auch geraten: Gehen | |
Sie mal raus! | |
Und warum haben Sie das nicht gemacht? | |
Wowereit: Ich hatte keinen Anlass. | |
Was machen Sie eigentlich heute? | |
Wowereit: Nichts. | |
Diepgen: Ich habe eine Fülle ehrenamtlicher Tätigkeiten. | |
Wowereit: Ich genieße meine Freiheit, mache viel Sport. Was ich vermisse, | |
ist Kultur. Da fehlt viel. | |
Wegen der Pandemie? | |
Wowereit: Ich war bei ein paar Veranstaltungen, aber immer mit einem | |
komischen Gefühl. Das ist etwas, das mein Leben sehr stark beeinträchtigt. | |
Dieses Interview ist Teil der Sonderausgabe zu 40 Jahren taz Berlin. Sie | |
erscheint im Print am Samstag, 7. November. Darin außerdem: Vier Essays | |
über vier Dekaden Berlin und ein Text über das schwierige Verhältnis von | |
taz und Polizei. | |
7 Nov 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Rueckblick-auf-40-Jahre-taz-Berlin-III/!5723424 | |
[2] /Berlins-Integrationsbeauftragte/!5726432/ | |
[3] http://www.faz.net/aktuell/politik/wahl-in-berlin/reaktion-auf-cdu-ergebnis… | |
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