Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Rückblick auf 40 Jahre taz Berlin (III): Die tiefroten Jahre
> Ein Aufbruch mitten in der Untergangsstimmung: In den Nullerjahren ist
> die Stadt wirtschaftlich am Boden, die Subkultur hingegen obenauf.
Bild: Der Palast der Republik durfte zwei Jahre lang bespielt werden, dann war …
Die taz Berlin wird 40 Jahre alt. Dies ist der dritte von vier Texten, in
denen wir auf die Entwicklung der Stadt und der Zeitung zurückblicken. Und
fragen: Was bleibt? Der Text über die 80er steht [1][hier], der über die
90er [2][hier].
Berlin taz | Das neue Jahrzehnt, ach was, das neue Jahrtausend begann
berlintypisch – mit einem Flop. Siebzig Kilometer hoch, so hatte es der
Künstler Gert Hof geplant, sollten um Mitternacht am 1. Januar 2000 rund um
die Siegessäule postierte Scheinwerfer Säulen aus weißem Licht senkrecht in
den Himmel über Berlin schicken, sichtbar bis Dresden, bis Hamburg.
Dumm nur, dass dieser Gigantomanismus so sehr an rund 60 Jahre zuvor
[3][von Albert Speer und anderen Nazis an gleicher Stelle geplante
Lightshows] erinnerte. Die Veranstalter ernteten einen veritablen Shitstorm
aus Kultur und Gesellschaft und natürlich auch von der taz. So wurde es
sogar dem Berliner Senat zu peinlich: Am Ende wurde die Zahl der
Scheinwerfer reduziert, sie leuchteten nicht mehr starr, sondern bewegt in
den Himmel. Und farbig war das Licht auch.
Wie es gewirkt hat? Das bekam kaum jemand zu sehen. Die Inszenierung
versank binnen Sekunden im Nebel des stadtweiten Feuerwerks und war selbst
aus wenigen Hundert Metern Entfernung nur noch als Lichtbrei zu erkennen.
Der Fingerzeig ins neue Millennium endete als Abgesang auf ein überholtes
Berlin. Die Regierung war an die Spree gezogen (nun ja, zumindest in
Teilen), der Potsdamer Platz fertig bebaut (also fast), und am
Alexanderplatz schossen Hochhäuser in den Himmel (immerhin auf dem Papier).
Und dann?
## Der Hype war erstmal vorbei
Nichts dann. Pause war angesagt, der große Hauptstadthype vorbei. Die taz,
die als erste Zeitung mit überregionalen Berlin-Seiten aufgetrumpft hatte,
war erneut Trendsetter und stellte sie als erste auch wieder ein. Berlin
musste sich erst mal wieder finden. Die taz Berlin auch. Sie widmete sich
den inneren Werten der Stadt, vor allem der kleinen Kultur auf den neuen
taz-Plan-Seiten. Und den Menschen, mit sehr großen, sehr persönlichen
Montagsinterviews, die so hießen, weil sie immer an jenem Wochentag
erschienen.
So richtig begann das neue Jahrzehnt erst an einem Sonntagnachmittag im
Juni 2001. Da sagte ein bis dahin selbst in der Stadt nur wenig bekannter
SPD-Politiker [4][einen Satz, der ihn auf einen Schlag berühmt machte].
„Ich bin schwul. Und das ist auch gut so.“ Klaus Wowereit gelang damit ein
Befreiungsschlag gleich auf mehrfacher Ebene.
Als Wowereit ein Jahr zuvor von zwei homosexuellen RedakteurInnen der taz
[5][in einem Interview gefragt worden war], ob für seine Partei ein
schwuler Spitzenkandidat denkbar sei, antwortete er nur, das sei „für die
SPD sicherlich positiv beantwortbar“. Erst mit seinem Coming-out 2001
setzte er ein Zeichen für die gesamte Community. Bereits beim
lesbisch-schwulen Stadtfest am Wochenende darauf wurde Wowereits Bekenntnis
zum viel getragenen T-Shirt-Spruch.
Gleichzeitig wurde er zum Regierenden Bürgermeister der Stadt gewählt. Mit
den Stimmen der Grünen – und denen der PDS, der Vorgängerin der heutigen
Linkspartei, der Nachfolgerin der SED. Die PDS war zwölf Jahre nach dem
Mauerfall selbst für viele in der SPD noch ein rotes Tuch, jedenfalls
schlimmer als ein homosexueller Spitzenkandidat. Doch um sich aus der
miefigen Großen Koalition mit der CDU zu befreien, koalierte Wowereit sogar
zehn Jahre lang mit der heutigen Linkspartei.
Dumm nur, dass dank dem auch von der Großen Koalition in den 1990ern
gepflegten Hauptstadtwahn die Stadt pleite war. Weil der prognostizierte
Immobilienboom ausblieb, geriet auch die landeseigene Bankgesellschaft in
die Bredouille. Rot-Rot musste Milliarden zuschießen und fortan „sparen bis
es quietscht“. Das war Klaus Wowereits zweiter bleibender Satz.
Und er wurde drastisch umgesetzt: Die Ausgaben für den öffentlichen Dienst
und die Verwaltung wurden massiv reduziert, unter den Folgen leidet die
Stadt noch 2020; der soziale Wohnungsbau wurde gestoppt, die landeseigene
Wohnungsbaugesellschaft GSW verscherbelt und noch vieles mehr. Und das
ausgerechnet von einer sozialdemokratisch-sozialistisch geführten
Regierung! Harte Zeiten für die Stadt. Von Aufschwung keine Spur, außer bei
der Arbeitslosenquote, die im Jahr 2005 auf 19 Prozent stieg.
## „Arm, aber sexy“
Klaus Wowereit hatte aber sogar einen dritten Spruch parat, der dann in die
Geschichte einging. [6][Berlin sei „arm, aber sexy“], sagte er 2003. Das
polarisierte – und traf doch den Nerv der Zeit. Nicht aller, aber doch
vieler Berliner. Die CDU versuchte, Wowereit immer wieder als „Regierenden
Partymeister“ abzuqualifizieren. Dabei hat sie – wahrscheinlich bis heute �…
nicht begriffen, dass dieses Etikett kein Malus für „Wowi“ war. Im
Gegenteil.
Der Regierende setzte mit seiner sprichwörtlichen Lockerheit den richtigen
Ton, er stand für einen linken Hedonismus, der – wenn auch in extrem
unterschiedlicher Ausprägung – vom Roten Rathaus bis weit hinein in die
bunte Subkultur der Stadt reichte. Und Letzterer blieb tatsächlich Luft zum
Atmen. So viel, dass sie Berlin ein bis heute geltendes Image aufdrücken
konnte.
Das Ding der Stunde hieß fortan: Zwischennutzung. Überall dort, wo
Investoren im ausgebremsten Berlin nichts blieb, als auf eine ferne Zukunft
zu spekulieren, konnten kleine Initiativen sich ganz legal einnisten. Erst
mal nur vorübergehend, aber gerade deshalb blieb der Charme des Unfertigen.
Direkt gegenüber der Museumsinsel standen im Jahr 2002 plötzlich
[7][Strandkörbe am Ufer der Spree]. Die dazugehörige Bar sollte eigentlich
nur ein benachbartes Off-Theater querfinanzieren. Sie wurde zur Mutter
aller städtischen Strandbars, nicht nur in Berlin, sondern im ganzen Land.
Ein paar Kilometer spreeaufwärts folgte wenig später [8][die Bar 25], deren
surreale Bretterbudenkultur selbst für die Berliner Clubkultur so sehr
Maßstäbe setzen sollte, dass über sie Bücher geschrieben und [9][Filme
gedreht] wurden. Und dann ist da natürlich das Berghain, dieser Technoclub
in einem verlassenen Heizkraftwerk, das „eine totalitäre Zutraulichkeit
ausstrahlt“, [10][wie die taz kurz nach der Eröffnung im Jahr 2004
schrieb].
Selbst der Palast der Republik beziehungsweise die Stahlskelettruine, die
seit einer Asbestentkernung von dem Prestigebau der DDR übrig geblieben
war, durfte zwei Sommer lang von Kulturinitiativen bespielt werden. Die
einen bauten einen Berg hinein oder setzten die Ruine zum Bootfahren unter
Wasser, die Choreografin Sasha Waltz tanzte vorbei, und am Ende gab es
einen viel gelobten White Cube für moderne Kunst.
Berlin war plötzlich wieder was: ein Freiraum, wie man ihn andernorts kaum
finden konnte. Als sich Berlin im Jahr 2006 bei der
Fußball-Weltmeisterschaft auch global als Hotspot präsentieren konnte, in
dem die Jugend selbst mit schwarz-rot-goldenem Make-up nicht ihre
Lockerheit verliert, und dann die ersten Billigflieger begannen, die Jugend
der Welt herzukarren, wurde Berlin zur Partyhauptstadt des Planeten.
[11][Easyjetset, nannte das der taz-Redakteur Tobias Rapp] und verschaffte
dem Phänomen das passende Label.
Es veränderte die Stadt weit über die After Hour in den Clubs hinaus. Denn
viele Menschen blieben, weil auch sie – dank billiger Mieten – hier Luft
zum Atmen fanden, sich ausprobieren, ihr Ding machen konnten. Kleine Dinge,
bei denen eben nicht der Profit im Vordergrund stand. „Arm, aber sexy“ at
its best. Und Berlin bekam die Internationalität, die die Stadt bis heute
prägt.
Und dann? Dann wurde der Palast doch abgerissen, um Platz für den
Schlossneubau zu schaffen. Die Strandbar Mitte wurde glattsaniert, sodass
sie heute aussieht wie ihre schlechten Plagiate in Düsseldorf. Die Bar 25
musste schließen, weil unter SPD-Finanzsenator Thilo Sarrazin (ja, das war
er mal) landeseigene Grundstücke nur als Verkaufswert gesehen wurden und
nicht als Instrument einer Gestaltung.
So war es eigentlich immer. Die rot-rote Koalition wusste dem kreativen
Underground der Stadt nicht zu danken, was er für Berlin in diesen Zeiten
geleistet hat. Im Gegenteil: Sie stellte sich ihm in den Weg, selbst als er
zu durch diese Koalition überhaupt erst eingeführten Instrumenten wie dem
Bürgerentscheid griff. Die Friedrichshain-Kreuzberger Szene mobilisierte
gegen die Pläne, das Spreeufer mit dem Projekt Mediaspree zuzubauen. Bei
der Abstimmung 2008 votierten dann zwar 87 Prozent für den freien Zugang
zum Flussufer und den Erhalt der dort blühenden Subkultur. Von der Politik
wurde dieses Votum jedoch nahezu komplett ignoriert.
Die Folgen kann man heute in der sogenannten Mercedes-Benz-City betrachten.
Der Name ist dabei Programm: Das unsagbar glatte Viertel ist ein Beton
gewordenes Monument für die Verfehlungen der Nullerjahre. Die Freaks
durften ein wenig spielen, aber als es dann richtig attraktiv wurde,
mussten sie gehen. Um die Armut der Stadt zu bekämpfen, hat Rot-Rot
letztlich die Sexyness Berlins verkauft.
Und welche Rolle spielte die linke taz in der linksregierten Stadt? Sie
versuchte, die rot-rote Koalition stets daran zu erinnern, trotz alle
Sparzwänge auch noch linke Politik zu machen. Von Bürgerbeteiligung nicht
nur zu reden, sondern sie ernst zu nehmen. Die zarten Pflanzen, die in den
Freiräumen wuchsen, zu hegen, statt sie auszureißen. Ob wir gehört wurden?
Nun ja. Die taz hätte immer ein paar mehr Leserinnen und Leser gebrauchen
können.
Vor allem die SPD tat sich schwer, die Veränderungen in der Stadt überhaupt
wahrzunehmen. Selbst am Ende der Nullerjahre faselte sie weiter davon, dass
es einen immensen Leerstand gebe und daher wohnungspolitisch nichts getan
werden müsste. Da hatten die internationalen Investoren längst die Stadt
als Beute begriffen. Sie steckten ihr Kapital in die kostengünstigen
Häuser. Eine erfolgreiche Spekulation, wie sich im nächsten Jahrzehnt
zeigen sollte. Und die rot-rote Koalition hatte ihnen dafür den Teppich
ausgerollt.
Klaus Wowereit tangierte das kaum. Ein Jahrzehnt nach seinem Antritt als
Regierender Bürgermeister schwebte er im Wahlkampf 2011 durch die Stadt,
als könne er alle Probleme per Handauflegen lösen. Er brauchte nur [12][den
Eindruck zu erwecken, als höre er gut zu]. Seine Partei platzierte
Großplakate, [13][auf denen nichts zu sehen war, außer Wowereit].
Schwarz-Weiß, aber sexy. Inhalte? Ach, egal.
Wowereit blieb im Rathaus, die Linkspartei flog raus. Und wie immer, wenn
es eine linke Regierung nicht richtig hinbekommt, weil sie den Kontakt zur
Basis verliert, wird es danach nicht besser, sondern schlimmer. Selbst für
Klaus Wowereit. Der musste fortan mit der CDU regieren – bis er letztlich
über den pannengeplagten Flughafen BER stolperte, auch so eine typische
Berliner Größenwahngeschichte. Das erinnerte stark an den Anfang der
Nullerjahre.
10 Nov 2020
## LINKS
[1] /Rueckblick-auf-40-Jahre-taz-Berlin-I/!5723418
[2] /Rueckblick-auf-40-Jahre-taz-Berlin-II/!5723415
[3] /!1257806/
[4] /!1168291/
[5] /!1253431/
[6] /15-Jahre-Arm-aber-sexy-Spruch/!5546816
[7] /!730606/
[8] /!557266/
[9] https://youtu.be/plG4EH_oeBg
[10] /!658291/
[11] /!5167556/
[12] /Klaus-Wowereit-auf-Kieztour/!5137512/
[13] /SPD-stellt-neue-Plakate-vor/!5114270/
## AUTOREN
Gereon Asmuth
## TAGS
40 Jahre taz Berlin
Klaus Wowereit
Rot-Rot
Nullerjahre
Zwischennutzung
Nachwendezeit
Subkultur
taz Bewegung – die Kolumne
Klaus Wowereit
Alltagskultur
40 Jahre taz Berlin
Schwerpunkt Rot-Rot-Grün in Berlin
40 Jahre taz Berlin
40 Jahre taz Berlin
40 Jahre taz Berlin
## ARTIKEL ZUM THEMA
Diskussion über Berlin seit der Wende: Von Hybris und Holzmarkt
Wer hat Berlin verändert seit 1989? Auf dem Holzmarktgelände diskutieren
der Filmemacher Florian Opitz und Ex-Justizsenator Wolfgang Wieland.
Westberliner Frauenbands: Der Durst nach Neuem
Sie sorgten für Zoff und machten der Subkultur Ehre: Die Westberliner
Frauenbands Mania D, Malaria! und Matador. Höchste Zeit für eine Werkschau.
Jubiläum von taz nord: Zeitung selbst gemacht
Vor 40 Jahren erschien die erste taz hamburg, vor 35 Jahren die erste taz
bremen. Manches aus der Vergangenheit klingt erstaunlich aktuell.
Wowereits Outing vor 20 Jahren: Gut so – bis heute!
Aus Sorge, im Wahlkampf würde seine Homosexualität zum Thema, sagte
Wowereit seinen berühmten Satz. Es war ein Signal zum Aufbruch, auch für
Berlin.
Wenn die Kultur nicht mehr zählt: Anklage gegen eine Kulturnation
Die Deutschen lieben Künstler:innen, die keine Probleme machen. Die
widerborstigen eher nicht, vor allem in Coronazeiten.
40 Jahre taz Berlin: Signale aus der Zukunft
Wie wird Berlin in 20 Jahren aussehen? Wir haben fünf Menschen gefragt, die
Musik machen, Romane schreiben, Regie führen und die Stadt beobachten.
Rückblick auf 40 Jahre taz Berlin: Vom Kampf gegen Betongold
Berlin ist zum Eldorado für Investoren geworden, die Angst vor Verdrängung
grassiert. Mieteninitiativen treiben die Politik vor sich her.
Rückblick auf 40 Jahre taz Berlin (II): Die goldenen 90er
Der Fall der Mauer öffnete Kreativen einen Spielplatz der Möglichkeiten in
Ostberlin. Doch die Stadt und ihre Bewohner hatten ein Geldproblem.
Diepgen und Wowereit übers Regieren: „Bier steht für Berlin“
Eberhard Diepgen (CDU) und Klaus Wowereit (SPD) regierten insgesamt 28
Jahre die Stadt. Beide sind grundverschieden. Was haben sie sich zu sagen?
Rückblick auf 40 Jahre taz Berlin (I): Das schwarze Jahrzehnt
Die CDU an der Macht, Bauskandale, Gewalt zwischen Polizei und Linken:
Berlin drohte in den 80ern, in Ritualen zu erstarren. Dann kam der
Mauerfall.
Bestand und Wandel auf der Kastanienallee: Immer diese Klischees
Die Kastanienallee wird gern als Symbol für den Stadtwandel genommen. Da
ist was dran. Die hippe Meute, die die Straße berühmt machte, ist längst
weiter gezogen. Die einstigen Hausbesetzer aber sind immer noch da.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.