# taz.de -- Wenn die Kultur nicht mehr zählt: Anklage gegen eine Kulturnation | |
> Die Deutschen lieben Künstler:innen, die keine Probleme machen. Die | |
> widerborstigen eher nicht, vor allem in Coronazeiten. | |
Bild: Kinos sind keine Imbissbuden, die man von heute auf morgen schließen kann | |
Deutschland rühmt sich stets, eine Kulturnation zu sein. In diesem Land | |
sind solch großartige Künstler wie Goethe, Lessing, Mendelssohn, Bach und | |
Mozart, gut, er war Österreicher, aber damals gab es Österreich auch noch | |
nicht, dann wäre da auch noch Christoph Waltz, gut, er ist ebenfalls | |
Österreicher, aber es gibt auch noch Wolfgang Petersen – huch, der wollte | |
dann aber lieber in Amerika leben. | |
[1][Egal, es gibt und gab viele bedeutende Künstler in diesem Land.] | |
Komisch nur, dass dieses Land die toten Künstler lieber mag als die | |
lebendigen. Wahrscheinlich, weil sie keinen Schaden mehr anrichten können. | |
Warum muss erst ein Filmregisseur aus Hollywood kommen, um zu erkennen, | |
dass es hier Talente wie Christoph Waltz gibt? Warum hielt es Klaus Kinski | |
hier nicht aus, nun ja, das kann vielerlei Gründe haben. Aber warum erkennt | |
hier keiner das Talent von Diane Kruger? Warum hielten es Romy Schneider, | |
Marlene Dietrich, Heike Makatsch hier nicht aus? Ganz zu schweigen von all | |
den Verfolgten im „Dritten Reich“. Was ist an diesem Land, das es | |
verhindert, dass Stars entstehen und bleiben wollen? | |
Vielleicht braucht dieses Land einen Neustart. In Berlin ist alles anders, | |
heißt es. [2][Berlin ist nicht Deutschland], heißt es, doch auch in Berlin | |
ist einiges deutsch. Auch hier wird um drei Uhr nachts, bei keinem Verkehr, | |
an einer roten Ampel gewartet. Auch hier werden Nachbarn angeschwärzt, die | |
den Müll nicht sachgemäß trennen. Auch hier ist es vielerorts schon sehr | |
gemütlich geworden und Kreuzberger Nächte sind mittlerweile eher recht | |
kurz. | |
Warum weiß dieses Land trotzdem immer alles besser? Woher kommt diese | |
unerklärliche Arroganz? Und warum wollen selbst Deutsche selten deutsche | |
Filme sehen? | |
## Mehr Frage als Anklage | |
Ich habe keine Antwort darauf, ich weiß nur, dass es so ist. Ich merke | |
auch, dass dieser Text mehr eine große Frage als eine große Anklage wird, | |
aber vielleicht ist da ja ein kluger Leser, der es mir erklären kann. | |
Kommen wir also schon zum nächsten Punkt. | |
Warum wünschen sich alle Kunst- und Kulturveranstalter einen neuen | |
Christoph Schlingensief, einen neuen Bertolt Brecht, einen neuen Frank | |
Wedekind, einen neuen Georg Büchner, einen neuen Kurt Weill? Zu ihren | |
Lebzeiten wurden sie nicht gefördert, ihnen wurden alle möglichen Steine in | |
den Weg gelegt, sie waren unbequem, haben das System hinterfragt und an | |
seinen Grundfesten gerüttelt. Aber jetzt, retrospektiv, waren sie so | |
spannend und unangepasst; nur, wer hat sie damals unterstützt? Brecht ist | |
raus aus Deutschland, Schlingensief bekam Krebs, starb früh, und Wedekind | |
kam in den Knast. Kurt Weill floh über Paris nach Amerika, Georg Büchner | |
floh nach Straßburg. | |
Die gemütlichen Künstler, die, die keine Probleme machen, die haben es | |
leicht, aber die, die die Finger in die Wunde legen, die braucht man nicht, | |
die will man nicht. Die können gern verschwinden. [3][Die Deutschen wollen | |
eine Kultur, bei der man schon vorher weiß], was passieren wird, eine | |
gezähmte Kultur, doch diese Kultur kann uns nur Dinge sagen, die wir vorher | |
schon wussten. Sollte es uns nicht darum gehen, Neues zu erleben? Neues zu | |
wagen? Wenn wir stets nur das Vertraute aufwärmen, wird uns das nicht | |
gelingen. | |
Gut sind die Deutschen auch darin, sogenannte Kunst über die anderen | |
Nationen zu machen, ihnen ihr „falsches“ Benehmen vor Augen zu führen. Aber | |
bemerkenswerterweise kommen bemerkenswerte Filme über Nazideutschland nicht | |
aus Deutschland. Dieses Kapitel wird allzu gern umschifft und das, obwohl | |
die Deutschen so gut darin sind, Nazis zu verkörpern. | |
## Kinos sind keine Imbissbuden | |
Wie viele Kinos werden die Pandemie nicht überleben? Wie viele | |
Filmproduktionen werden nicht über die Runden kommen? Wie viele | |
Schauspieler werden ihren Beruf wechseln? Wie viele Maskenbildner werden | |
bald einen anderen Job haben? Wie viele freie Theater werden schließen | |
müssen? | |
Kinos sind keine Imbissbuden, die man von heute auf morgen schließen kann. | |
Verleiher brauchen Planungssicherheit, um sinnvoll arbeiten zu können. | |
Filme müssen beworben werden und das braucht nun mal Zeit. Wenn wir unsere | |
Kulturstätten nicht schützen, dann werden wir sie verlieren. Die Gefahr | |
droht, dass Menschen vergessen, was für ein einzigartiges Erlebnis es ist, | |
einen Film oder ein Theaterstück gemeinsam mit einem Publikum zu schauen. | |
Jeder Abend ist unterschiedlich, weil das Publikum Teil des Erlebnisses | |
ist; so etwas gibt es alleine vor dem Laptop nicht. Oder entdecken wir bald | |
das digitale Kino? Das digitale Theater? Das zusätzlich neben dem | |
Herkömmlichen existiert. | |
Doch dafür muss sich etwas bewegen; dafür braucht es Mut und Offenheit. | |
Dafür braucht es neue Wege, Experimente, die scheitern dürfen, vielleicht | |
sogar müssen. Da reicht es nicht, Inhalte wahllos in den digitalen Raum zu | |
werfen. Da braucht es Konzepte und Ideen, die ein Gruppenerlebnis, so wie | |
wir es kennen und schätzen, digital nachbilden. | |
Wie kann es sein, dass Filmemachen in Deutschland bedeutet, gut darin zu | |
sein, Formulare auszufüllen? Wie kann es sein, dass man schon im Vorfeld | |
wissen muss, was in einem Dokumentarfilm passieren wird? Wie kann es sein, | |
dass in Pandemiezeiten Kulturveranstaltungen mit Freizeitparks | |
gleichgesetzt werden? | |
Ist Kunst eine Kürveranstaltung, auf die man problemlos verzichten kann? | |
Nur warum finden wir dann Zeichnungen in Höhlen von vor über 10.000 Jahren? | |
Warum spielen wir Theaterstücke der alten Griechen, die 2.500 Jahre alt | |
sind? Warum gibt es Musikinstrumente seit Tausenden von Jahren? Nur zum | |
Spaß? Nur als Kür? Nur aus Langeweile? | |
Ich sage nein! Die Menschen brauchen die Kultur, so wie sie das tägliche | |
Brot brauchen. Es ist unsere geistige Nahrung. | |
20 Jan 2021 | |
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## AUTOREN | |
Malte Wirtz | |
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