# taz.de -- Kritik an Carolin Emcke: Sound des humanitären Journalismus | |
> Carolin Emckes Kritiker machen es sich zu leicht. Aber ein Unbehagen an | |
> ihrer – gesellschaftlich notwendigen – Verortung der Not bleibt. | |
Bild: Carolin Emcke bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchha… | |
Wenn man sieht, wie sich Carolin Emckes Kritiker über die Autorin und ihre, | |
so Maxim Biller in der Zeit, „liberal-terroristischen | |
Das-Wort-zum-Wochenende-Kolumnen in der SZ“, äußern, kommt man ins Stutzen. | |
So stellte Adam Soboczynski in seinem Verriss von Emckes neuem Buch „Gegen | |
den Hass“ sein feines soziologisches Gespür unter Beweis: „Und wer sich die | |
Dumpf- und Dummheit einiger mental verwahrloster ostdeutscher Milieus näher | |
beschaut, kommt vielleicht doch eher auf den Gedanken, dass die über acht | |
Jahrzehnte betriebene Entbürgerlichung durch Nazis, Kommunisten und | |
Trash-TV mehr Unheil angerichtet hat als die nach akademischen Maßstäben | |
unfeinen Vorstellungen von Körper, Geschlecht und Sprachgebrauch.“ Ein | |
neuer Durkheim, nach eigenen Angaben ganz den „sozialen hard facts“ | |
verschrieben, wandelt unter uns. | |
Ganz abgesehen davon, dass ein kurzer Blick in die Datenbank genügt hätte, | |
um zu zeigen, dass sich unter den mehr als 100 in der SZ, im Spiegel und | |
der Zeit erschienenen Artikel Emckes, auf die ich Zugriff hatte, eine | |
Mehrheit nicht mit „abgeleiteten Oberflächenproblemen“ befassen, sondern | |
mit der vielleicht härtesten Gesellschaftstatsache überhaupt: Armut und | |
materielle Entbehrung. Weltweit, nicht nur in Deutschland. Sie schreibt | |
über die 16-Stunden-Schichten, die Zeitarbeiter bei Walmart schieben | |
müssen, genauso wie über Europas Abgehängte. | |
Dass sich Soboczynski bei der Lektüre von Emckes aktuellem Buch in die | |
„schöne alte Zeit von Proseminaren der achtziger und neunziger Jahre | |
versetzt“ sieht, rührt eher daher, dass das geistige Mobiliar im | |
Oberstübchen des Zeit-Feuilletonisten seitdem nicht mehr verrückt wurde. | |
Ist gemütlicher so und erleichtert außerdem die Orientierung. (Der Affekt | |
gegen das französische Denken, der in Hamburg nach wie vor prächtig | |
gedeiht, wäre eine eigene Erörterung wert.) | |
Nur läuft man dann eben Gefahr, Frontstellungen und Gegensätze zu | |
behaupten, die, was Emckes Denken und Schreiben angeht, überhaupt nicht | |
existieren. Liest man ihre Texte, wird jeder Versuch, identity politics | |
gegen die sozialen Fragen auszuspielen, hinfällig. Dass viele das einfach | |
nicht wahrnehmen wollen und sie geflissentlich in die Minderheitenschublade | |
– und in den Augen derjenigen handelt es sich nun mal um eine Schublade – | |
stecken wollen, lässt tief blicken. | |
## Emckes sarkastische Wut | |
Und doch bleibt mir da so manches fremd. Ich muss gestehen, dass mich die | |
Essays, Reportagen und Bücher von Carolin Emcke nie sonderlich | |
interessierten. Vieles las ich nicht zu Ende, obwohl ich die meisten | |
Positionen teile. Wie Patrick Bahners, der mittlerweile zu ihren | |
wichtigsten Fürsprechern gehört, mischte sich auch Carolin Emcke wortstark | |
in die Debatte um Islam und Säkularisierung ein. „Eine Glaubensfreiheit, | |
die eigentlich Zwangsatheismus als einzige Form der Modernisierung | |
akzeptiert, ist keine“, so Emcke 2010 in der Zeit – ein Satz, der auch von | |
dem liberalen Katholiken Bahners stammen könnte. | |
Die Inbrunst, mit der sie sich bisweilen als Traumaspezialistin gebärdet, | |
hat durchaus etwas Territoriales: „Ihr“ Thema verteidigt sie. Als Ingo | |
Niermann und Alexander Wallasch, zugegebenermaßen zwei ausgewiesene | |
Flachzangen vor dem Herrn, 2010 ihren popliterarisch angehauchten Roman | |
über den Afghanistaneinsatz der Bundeswehr veröffentlichten, schäumte Emcke | |
vor Wut und schrieb sarkastisch: „Sie waren fleißig, die Autoren, sie haben | |
ordentlich Krieg und Trauma recherchiert, vielleicht bei Google.“ Der Satz | |
fällt ziemlich unvorteilhaft auf die Autorin zurück. | |
Schon möglich, dass die selbstverständliche Systematik sich mir nicht | |
erschließt, mit der Carolin Emcke immer wieder Krisen- und | |
Katastrophengebiete bereist, um die Einzigartigkeit menschlichen Leids zu | |
schildern und ihm eine Stimme zu geben: das erdbebenverwüstete Haiti, | |
Israel/Palästina, Blutfehden in Albanien, Roma in Bulgarien, mexikanische | |
Gastarbeiter in den USA, Obdachlose in L. A.. So entsteht eine Kartografie | |
des Elends, eine – und daran gibt es für mich keinen Zweifel – | |
gesellschaftlich notwendige Verortung der Not. Und doch habe ich keinen | |
wirklichen Zugang zu diesem Ken-Loach-Journalismus für das Zeitalter | |
globaler Instabilität. | |
„Niemand weint. Niemand klagt. Sie sitzen da, stumm, unbeweglich, auf den | |
Trümmern ihrer Häuser […]. / Diesen Krieg hat niemand gewonnen, diesen | |
Krieg haben die Zivilisten verloren. / Manchmal erzählt die Stille eine | |
Geschichte. / Es gibt Lügen, die sind keine richtigen Lügen. Es gibt Lügen, | |
die es braucht, Lügen, die aus Hoffnung erfunden werden oder aus Not, | |
Lügen, die man nicht anderen, sondern sich selbst erzählt. / Es gibt Ideen, | |
die so allgegenwärtig sind, dass sie wie Wahrheiten klingen. Es gibt | |
Geschichten, die werden schon so lange erzählt, dass sie zeitlos | |
erscheinen, als seien sie von Anbeginn in der Welt gewesen, wie ein | |
Naturgesetz.“ | |
## Abgegriffene Formulierungen | |
Das sind willkürlich zusammengestellte Sätze aus mehr als zehn Jahren | |
publizistischer Tätigkeit. Vielleicht gründet mein Unbehagen auch in der | |
Sprache von Carolin Emcke. Wird man der Singularität des Leids durch derart | |
abgegriffene Formulierungen gerecht? Die Frage selbst hat natürlich etwas | |
Frivoles, wichtig ist, dass darüber berichtet wird, aber auch das Wie | |
spielt eine nicht zu unterschätzende Rolle. | |
Man kennt diese Sprache, es ist der emphatisch-einfühlsame Sound des | |
humanitären Journalismus, der über Jahrzehnte eingeübt worden ist. Er ruft | |
bei mir Indifferenz, gelegentlich sogar Abwehrhaltungen hervor. Dass Emcke | |
viel mit Theorie arbeitet, stört mich überhaupt nicht – im Gegenteil. Aber | |
ich fühle mich bedrängt von der Art und Weise, wie sie Emotionen beobachtet | |
und im Gegenzug versucht, diese im Leser zu evozieren. | |
Es ist ihr allerdings hoch anzurechnen, dass sie sich dieser Frage – „warum | |
wir die Ästhetisierung des Leids beklagen anstatt das Leid selbst“ – und | |
den mit ihr verbundenen Schwierigkeiten auch in ihren eigenen Arbeiten | |
stellt, sehr eindrücklich zum Beispiel in „Die Grenzen des Mitgefühls“, d… | |
2008 in der Zeit erschien. Ihre Texte erreichen oft einen Grad an | |
Selbstreflexivität, der Soboczynski gänzlich fehlt, wenn sich der | |
Zeit-Journalist mit seinem feisten Common Sense in die Volksmassen | |
hineininsinuiert. | |
Doch Emckes Artikel – Unterzeile: „Die palästinensischen Kinder in einem | |
Flüchtlingslager ließen mich unberührt. Dass sie einen kleinen Hund | |
quälten, brachte mich zur Wut.“ – läuft auf die Verarbeitung klassischer | |
middle-class guilt hinaus: „Warum schien mir selbstverständlich, was ihnen | |
gar nicht selbstverständlich war: Mitleid? Wer war eigentlich verwerflicher | |
in dieser Szene: sie, die kein Mitleid spürten, oder ich, die den Schmerz, | |
den sie dem Hund zufügten, in sie hineinprügeln wollte? Bis heute schäme | |
ich mich für diese Szene.“ | |
Und eine Moral gibt’s obendrein: „Vielleicht hätte in der Erklärung für | |
Mitleid, Barmherzigkeit und Hilfsbereitschaft das Eigene niemals auftauchen | |
dürfen. Vielleicht hätten Mitleid und Solidarität, alle diese Begriffe, die | |
sich auf das Leid eines anderen beziehen, immer schon entkoppelt sein | |
müssen von mir selbst.“ | |
## Abgründiger Schlingensief | |
Ein Gegenmodell zur Perspektive Carolin Emckes bot Christoph Schlingensief, | |
der in seiner für MTV produzierten Sendung „U3000“ einst Familie Abel zu | |
Gast hatte, die eine sogenannte Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaft bildet. | |
Schlingensief gewährte ihnen nur 60 Sekunden, um über ihre Notlage zu | |
sprechen, und bot ihnen im Rahmen eines Gewinnspiels die Möglichkeit, | |
Fünf-Euro-Scheine einzuheimsen. | |
Blanker Zynismus, der die Armut beim marktwirtschaftlichen Wort nimmt? | |
Schlingensief ging es dabei wohl noch um etwas anderes: um das Wechselspiel | |
zwischen Hilflosigkeit und Schmerz, das vor Institutionen, Mitmenschen und | |
in den Medien zur Darstellung gebracht werden muss, um in der eigenen | |
Bedürftigkeit anerkannt zu werden. | |
Angesichts von Schlingensiefs Redeschwall bricht die Mutter der Familie | |
schließlich in Tränen aus. Der Moderator versucht sich zu erklären: Man | |
müsse mittlerweile aufpassen, „dass man sie nicht dabei erwischt, wie sie | |
lachen. Sie müssen immer nur weinen, sie müssen immer nur traurig sein, sie | |
müssen immer runtergehen.“ To be seen by those up high, they have to go | |
low. | |
Wohl war den Zuschauern und den anwesenden Gästen, darunter die singenden | |
Schwestern Maria und Margot Hellwig, nicht bei diesem Spektakel. Der | |
Vergleich zwischen dem Künstler und der Publizistin mag angesichts der | |
drängenden Realität von Krieg, Hunger und Massensterben grotesk anmuten. | |
Doch auch und gerade Journalisten stehen mit einem Bein in der Wirklichkeit | |
und mit dem anderen in der Abbildung dieser Wirklichkeit. | |
Schlingensiefs Abgründigkeit geht Emcke, für die wir Menschen vor allem | |
„sprachliche Wesen sind“, die sich „nur im Gespräch mit anderen“ verst… | |
auch dort völlig ab, wo sie Hoffnung keimen sieht. Dadurch haben ihre Texte | |
mitunter eine eigentümlich geringe Fallhöhe. | |
## Paradoxie des Redens und Schreibens | |
Der Vergleich ist weniger an den Haaren herbeigezogen, als es den Anschein | |
haben mag. 2009 diskutierten Emcke, für die das Theater vor allem eine | |
Ausweitung der „Vorstellungsräume“ und „Zonen der Empathie“ verheißt,… | |
Schlingensief, der es ablehnt, Schauspieler als „Leidensbeauftragte“ zu | |
betrachten, über ihre unterschiedlichen Arbeitsweisen. | |
Das Deutschlandradio fasste die Veranstaltung auf dem Theatertreffen | |
folgendermaßen zusammen: „Schlingensief findet in der Messe, der | |
Installation, dem Fluxus und mit dem Rückgriff auf Joseph Beuys Wege für | |
die emotionale Beteiligung des Publikums am eigentlich Unsagbaren. Also mit | |
aus Religion und der bildenden Kunst entlehnten Ritualen. Auf die Mittel | |
der Repräsentation nach klassischem Vorbild hat er immer schon verzichtet. | |
Droht da nicht auch eine neue Sprachlosigkeit, fragt sich Carolin Emcke.“ | |
Dem ließe sich eine Paradoxie des Redens und Schreibens gegenüberstellen: | |
Wer versucht, das Leiden auf einen Begriff zu bringen, nimmt es nie ganz | |
wahr. | |
26 Oct 2016 | |
## AUTOREN | |
Danilo Scholz | |
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