# taz.de -- Friedenspreis für Carolin Emcke: „Wir alle sind zuständig“ | |
> Carolin Emcke ruft die Zivilgesellschaft zum Widerstand gegen Fanatismus | |
> und Hass auf. Dabei hofft sie auch auf Minderheiten. | |
Bild: Applaus für Carolin Emcke in der Paulskirche | |
FRANKFURT taz | Das Halbrund, in dem die Zuschauer um das Rednerpult | |
sitzen, hat etwas von einem Plenarsaal. Sieht man von der mächtigen Orgel | |
ab, schreit die Architektur der Frankfurter Paulskirche geradezu danach, | |
für demokratische Zusammenkünfte genutzt zu werden. Zwischen den hohen | |
Fenstern hängen die Banner der Länder und des Bunds. Carolin Emcke, die am | |
Sonntag zum Abschluss der Buchmesse mit dem Friedenspreis des Deutschen | |
Buchhandels ausgezeichnet wird, könnte auch eine Parlamentarierin sein, die | |
direkt aus der Mitte der Sitzreihen heraus nach vorn gegangen ist, um zu | |
reden. | |
Aber Emcke spricht nicht zu Politikern, auch wenn neben Bundespräsident | |
Joachim Gauck etwa Justizminister Heiko Maas (SPD) oder Claudia Roth von | |
den Grünen im Publikum sitzen. Die Preisträgerin adressiert, und das macht | |
sie hier viel deutlicher als je in ihren Publikationen, die | |
Zivilgesellschaft. | |
Die nötige Antwort auf den gegenwärtigen Rechtspopulismus und andere | |
Fanatismen, sagt sie hier unter großem Applaus, lasse sich nicht einfach | |
nur an „die Politik“ delegieren. „Für Terror und Gewalt sind | |
Staatsanwaltschaften und die Ermittlungsbehörden zuständig, aber für all | |
die alltäglichen Formen der Missachtung und der Demütigung, dafür sind wir | |
alle zuständig.“ | |
Emckes Tonfall ist unaufgeregt, fast lässig. Und sie nimmt sich Zeit für | |
Scherze. Etwa den, dass sie, auch wenn sie als Borussia-Dortmund-Anhängerin | |
keine Freundin von Schalke sei, den Fans des Vereins deshalb nicht das | |
Recht auf Versammlungsfreiheit streitig mache. | |
## Laudatio auf die „große Erzählerin“ Emcke | |
Den weiteren politischen Horizont steckt Laudatorin Seyla Benhabib ab, die | |
der Preisträgerin seit ihrer gemeinsamen Zeit bei Jürgen Habermas an der | |
Frankfurter Universität auch freundschaftlich verbunden ist. Nicht bevor | |
sie Emcke als „wirklich große Erzählerin“ gewürdigt hat, die in ihren | |
früheren journalistischen Berichten aus Kriegs- und Krisengebieten „eine | |
einmalige Mischung aus Reportage, philosophischer Reflexion und | |
literarischer Komposition geschaffen“ habe. | |
Doch dann markiert die in Istanbul geborene Professorin aus den USA, was | |
auf dem Spiel steht: „In ganz Europa rufen rechtsextreme und | |
fremdenfeindliche Parteien zum Angriff auf internationales Recht und | |
Menschenrechtskonventionen. Reaktionärer Nativismus und Nationalismus | |
drohen die zerbrechlichen Institutionen internationaler Kooperation | |
jenseits des Nationalstaats – wie die Europäische Union – zu zerstören.“ | |
Mit der offen lesbischen Carolin Emcke ehrt der Stiftungsrat nach dem | |
Deutsch-Iraner Navid Kermani zum zweiten Mal eine Stimme, die sich einer | |
der wieder häufiger angefeindeten Gruppen zurechnet. Und es gibt keine | |
jüngeren Friedenspreisträger. Beide wurden 1967 geboren, sind in den 80ern | |
sozialisiert. In ihre prägenden Jahre fielen Mauerfall, die Ära Kohl und | |
auch die Neonazi-Übergriffe der 90er Jahre. | |
## Emcke spricht auch als Lesbe | |
Mit ihrem persönlichen Horizont steigt Emcke in ihre Rede ein. „Ich bin | |
homosexuell, und wenn ich hier heute spreche, dann kann ich das nur, indem | |
ich auch aus der Perspektive jener Erfahrung heraus spreche: also nicht | |
nur, aber eben auch als jemand, für die es relevant ist, schwul, lesbisch, | |
bisexuell, inter*, trans* oder queer zu sein.“ | |
Emcke traut verfolgten Gruppen einen besonders beherzten Einsatz für | |
Demokratie und Toleranz zu: „Alle, die die Brüche der Gewalt und des Kriegs | |
miterlebt haben, alle, denen die Furcht vor Terror und Repression unter die | |
Haut gezogen ist, wissen doch um den Wert stabiler rechtsstaatlicher | |
Institutionen und einer offenen Demokratie. Vielleicht sogar etwas mehr als | |
diejenigen, die noch nie darum bangen mussten, sie zu verlieren.“ | |
Es spricht daraus ein gedämpftes Vertrauen in die Widerstandskraft der | |
offenen Gesellschaft. Man wünscht sich, eine der Rednerinnen hätte deutlich | |
gesagt, dass in Deutschland auf die Jahre nach der Vereinigung eine stetige | |
Demokratisierung und Liberalisierung folgte, zu der unter anderem die | |
Anerkennung Deutschlands als Einwanderungsland gehört. Auch vor diesem | |
Horizont findet ja das jüngere Erstarken von Nationalismus und Rassismus | |
statt. Die Übergriffe der frühen 90er trafen auf eine weit weniger robuste | |
demokratische Gesellschaft. | |
## Und der Einfluss auf Politik und Justiz? | |
Einer möglichen wohlfeilen Selbstvergewisserung der liberalen Kräfte in | |
diesem Land, des gemütlichen Einrichtens im Erreichten, setzt Emcke eine | |
Politik des fortwährenden Kampfs für Liberalisierung entgegen. Hier, zum | |
Schluss hin, ist ihre Rede am stärksten. „Freiheit ist nichts, das man | |
besitzt, sondern etwas, das man tut. Säkularisierung ist kein fertiges | |
Ding, sondern ein unabgeschlossenes Projekt“, sagt sie. „Demokratie ist | |
keine statische Gewissheit, sondern eine dynamische Übung im Umgang mit | |
Ungewissheiten und Kritik.“ | |
Vermisst hat man nur, dass der Zivilgesellschaft neben dem Eintreten für | |
Vielfalt und ein ziviles Miteinander aller möglichen Lebensentwürfe, | |
Glaubensrichtungen und ethnischen Zugehörigkeiten noch mit auf den Weg | |
gegeben wird, dass sie Einfluss auf Politik und Strafverfolgungsorgane | |
nehmen kann – und muss. Die Rezepte, die Emcke der Zivilgesellschaft in der | |
Paulskirche ausgeschrieben hat, könnten nämlich vielleicht nicht reichen. | |
23 Oct 2016 | |
## AUTOREN | |
Christiane Müller-Lobeck | |
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