# taz.de -- Reporterin Carolin Emcke: „Ich leide an unbeantworteten Fragen“ | |
> Die Auslandsreporterin Carolin Emcke spricht über Krieg, Freiheit, das | |
> Wegfahren, das Schreiben, Suchen und Nicht-zufrieden-Sein. | |
Bild: „Mein Wegwollen hat nichts damit zu tun, dass ich wegwill von etwas, ic… | |
sonntaz: Das Café, in dem wir hier sitzen, heißt Westberlin und will auch | |
Weltcafé sein. Weltcafé, ist das so ein Ort, nach dem Sie, als | |
Auslandsreporterin, als Kriegsreporterin, als Reisende suchen? | |
Carolin Emcke: Wenn ich in Berlin bin, suche ich nicht nach der Welt. Dann | |
will ich angekommen sein. Es sei denn, Sie meinen mit Weltcafé die | |
Sehnsucht nach etwas Welthaltigem. | |
Welthaltig – ein schönes Wort, nur was bedeutet es? | |
Dass man nicht nur um sich selbst kreist. Und dass man offen ist für das, | |
was man nicht versteht. Das missfällt mir am Journalismus, dass Texte oft | |
nicht welthaltig sind. Es wird etwas geschrieben über Menschen, ihren | |
Alltag – aber oft spiegelt es nur das Denken derer, die es aufschreiben. Es | |
weist nicht darüber hinaus. Das Zweite, was mit Weltcafé ausgedrückt wird, | |
ist diese Sehnsucht nach dem Reisen, nach dem Aufbruch, danach, sich ins | |
Offene hineinzubegeben. | |
Sind Sie eine Suchende, wenn Sie ins Offene hineinreisen? | |
Das ist eine dieser Fragen, die man, wenn man ehrlich ist, selbst nicht | |
beantworten kann. Wenn Sie mit Suchen etwas meinen, was mit Rastlosigkeit | |
zu tun hat, dann bin ich es überhaupt nicht. Wenn sie mit Suchen aber etwas | |
meinen, was mit Begreifenwollen zu tun hat oder mit einem | |
Nicht-zufrieden-Sein, mit dem, wie wir uns sprachlich und politisch | |
Phänomene aneignen, dann bin ich suchend. | |
Die Rastlosigkeit ist also intellektuell und nicht emotional? | |
Ich bin sehr gern auf Reisen. Und wenn ich auf Reisen bin, bin ich gern da, | |
wo ich gerade bin. Ich muss von dort nicht weglaufen, um mir was Neues zu | |
suchen, sondern ich muss verstehen. | |
Eine Nomadin? | |
Nein, Nomadentum hieße, dass man niemals sesshaft wird. Ich bin jetzt seit | |
dreizehn Jahren im Ausland unterwegs, es ist mir dadurch nicht die | |
Vorstellung von einem stabilen Zuhause verloren gegangen. Es ist eher so, | |
dass ich mir andere Gegenden zusätzlich angeeignet habe. Es gibt Orte, an | |
die ich immer wieder fahre. Israel, der Nordirak. Es gibt also Länder, die | |
sind mir vertraut. Mein Wegwollen hat also nichts damit zu tun, dass ich | |
wegwill von etwas, ich will zu etwas anderem hin. Und dann auch wieder | |
zurück. Das ist ein großer Unterschied zu Nomaden. Zumal die, die heute oft | |
so genannt werden, das entweder gar nicht sind, weil sie längst sesshaft | |
sind, oder weil sie das nie freiwillig waren. Es gibt ein Nomadentum aus | |
Not. | |
Anders als Nomaden begeben Sie sich also, wenn Sie reisen, aus einer | |
Position der Sicherheit in eine der Unsicherheit? | |
Das ist eine intellektuelle Wendung, mit der ich was anfangen kann. Ein | |
Zuhause taugt ja nichts, wenn man es nie infrage stellt. Eine Vertrautheit, | |
eine Gegend, eine Landschaft wird einem erst spürbar, wenn man weggegangen | |
ist und wieder zurückkommt. Es gibt mehrere Sachen, die mir enorm gut | |
gefallen daran, in Gegenden unterwegs zu sein, aus denen ich nicht komme. | |
Welche? | |
Das eine ist die Erfahrung, dass du dort niemand bist. Die kennen nicht | |
meine Familie. Die kennen nicht die Straße, wo ich aufgewachsen bin. Die | |
kennen die Schule nicht, zu der ich ging. Die kennen die Sprache nicht, die | |
ich spreche. Einerseits fällt damit Ballast ab, andererseits auch ein | |
Schutzraum. Ich mag es, dass es in einer mir unbekannten Umgebung, in der | |
ich eine Unbekannte bin, wirklich von mir abhängt, was für eine Art von | |
Begegnung möglich ist. | |
Von den anderen nicht? | |
Natürlich hängt es auch von den anderen ab, aber deren Leben ändert sich | |
nicht wie meins, vermute ich. Was wir mit Zuhause oder mit Identität | |
verbinden, sind letztlich Überzeugungen, Rituale, Wahrnehmungen, die man | |
mit anderen teilt. Und es ist etwas Grandioses, dahin zu gehen, wo viele | |
unserer Vorstellungen nichts oder wenig gelten. Denn so muss ich die | |
eigenen Gewohnheiten und Überzeugungen immer wieder neu prüfen. Das heißt | |
nicht, dass ich sie ablege oder schlecht finde, aber es heißt, dass neue | |
Ideen hinzukommen, weil sie einem gefallen oder weil man sich daran | |
gewöhnt. | |
Sie reisen also wie ins Leere? | |
Natürlich bin ich auch für die Leute, auf die ich treffe, kodiert. | |
Natürlich sehen die da eine weiße, alleinreisende Frau mit kurzen Haaren, | |
die hat eine Hose an und Boots. Insofern bin ich nicht leer oder neutral. | |
Ich werde kodiert, nur anders als hier. Aber was daraus entsteht, das muss | |
ich herstellen, ohne Schutz. Das mag ich sehr. | |
Wenn ich irgendwo bin, suche ich etwas, was mich mit dem Ort verbindet. | |
Meistens suche ich Brot. Oder das, was den Stellenwert von Brot hat. Suchen | |
Sie auch etwas, was Sie in Verbindung bringt? | |
Musik. Ich versuche mir Gegenden, in die ich fahre, vorher anzueignen, | |
indem ich mir die Musik anhöre, die dort gehört wird. Was Sie sagen, ist | |
schön: nach was zu suchen, was einen verbindet. Eine der großen Schwächen | |
der gegenwärtigen politischen Diskussion ist, dass immer über Identität und | |
Differenz, über das Eigene und das Andere nachgedacht wird. Ich finde es | |
politisch und philosophisch spannender, wenn man nach Ähnlichkeiten sucht. | |
Wenn Sie Brot suchen, werden Sie nicht dasselbe finden wie zu Hause, aber | |
Sie suchen nach etwas, das ähnlich ist. Nicht im Geschmack, sondern in der | |
sozialen oder psychischen Funktion. Sie suchen nach etwas, das Ihnen | |
vertraut ist. | |
Sie kommen gerade aus dem Gazastreifen zurück. Haben die Leute Brot? | |
Fladenbrot, Sesambrot, Brot mit Feigen, mit Datteln. | |
Und wie geht es den Leuten? | |
Denen, mit denen ich gesprochen habe, geht es viel schlechter, als es die | |
hiesige Presse abgebildet hat. Außerdem geht es ihnen schlechter als im | |
letzten Krieg 2008/09. Ich habe zum Teil die gleichen Menschen interviewt | |
wie damals. Obgleich dieser Krieg viel kürzer war, hatte ich den Eindruck, | |
dass sie sehr viel mehr unter Schock standen. Mein Gefühl war, dass dieser | |
jetzige Krieg das Trauma des letzten reaktiviert. Wie eine Doppelung des | |
Schmerzes. Ich war erstaunt, wie schnell sich die internationalen | |
Beobachter auch wieder zurückzogen. Als ob mit dem Ende des Bombardements | |
der Krieg vorbei sei. Aber Krieg ist nicht vorbei, wenn er vorbei ist. | |
Sondern? | |
Die Überlebenden denken weiter wie im Krieg. Sie sind auf der Suche nach | |
Orten, wo sie sich halbwegs sicher fühlen. Die meisten, die ich gesprochen | |
habe, waren während dieses einwöchigen Bombardements ununterbrochen auf der | |
Flucht. Sie haben immer neue Orte gesucht, wo sie hofften, sicher zu sein, | |
um dann erneut zu fliehen. Ich glaube, richtig realisieren, was ihnen | |
widerfahren ist, werden sie erst später. Es ist, wie wenn man kalte Füße in | |
heißes Wasser stellt. Das fühlt sich erst mal nicht gut an, sondern tut | |
richtig weh. | |
Sie haben über eine Familie aus dem Gazastreifen geschrieben. Die Mutter | |
lebt im Westjordanland und kann nicht zurück. Der Sohn lebt in Gaza und | |
kann nicht raus. Die Mutter umarmte Sie und bat Sie, diese Umarmung an den | |
Sohn weiterzugeben. Aber der Sohn konnte nicht von einer fremden Frau | |
umarmt werden. Da haben Sie die Umarmung der Mutter an den Fotografen | |
weitergegeben, und der hat dann den Sohn umarmt. | |
Ja, irre. Es war so deutlich an dieser Szene, dass die Mutter nicht mehr | |
weiß, wie sich Gaza verändert hat. Sie ist von dort weggegangen, bevor | |
Hamas an die Macht kam. Sie wusste nicht, um wie viel religiöser die | |
Gesellschaft in Gaza inzwischen geworden ist. Die Mutter hatte mir schon | |
gesagt, ich solle ihrem Sohn sagen, dass meine Umarmung die Umarmung seiner | |
Mutter ist, klar, aber er erstarrte bei dem Gedanken, von einer fremden | |
Frau auf der Straße umarmt zu werden. Als wir auf die Idee kamen, die | |
Umarmung der Mutter auf mich von mir auf den Fotografen zu übertragen, und | |
der Fotograf den Sohn dann umarmte, war er glücklich. Wir hatten alle das | |
Gefühl, etwas weitergereicht zu haben. | |
Mit dieser Umarmung wurde die Grenze überwunden. Wie schaffen es die Leute | |
in Gaza noch, die Grenze, die sie umgibt, zu negieren? | |
Eine banale Antwort: Sie haben illegale Tunnel gebaut nach Ägypten. Über | |
einige werden Waffen geschleust, über andere Bedarfsgüter, Lebensmittel, | |
Medikamente, Ziegen, Hühner. Im ganz konkreten Sinne werden diese Grenzen | |
untergraben. Interessant ist allerdings auch – und das gilt nicht nur in | |
Bezug auf Gaza, sondern auch auf das Westjordanland –, dass die Menschen | |
dieses Gefühl, sich nicht frei bewegen zu können, die Regeln des eigenen | |
Zusammenlebens nicht wirklich allein bestimmen zu können, mittlerweile | |
internalisiert haben. Wenn ich Freunden im Westjordanland vorschlage, | |
irgendwohin zu fahren, sagen sie, das gehe nicht, das dürften sie nicht. | |
Wenn ich sage, lass es uns probieren, stellen sie fest, dass es doch geht, | |
mal legaler, mal illegaler. | |
Die Leute machen sich die auferlegte Beschränkung zu eigen? | |
Ja, und da ist es interessant zu beobachten, was in Gaza jetzt mithilfe der | |
sozialen Netzwerke im Internet passiert. Nicht, dass man sich damit morgen | |
zur Revolution verabredet, aber es beginnt überhaupt so ein Prozess, wo | |
Menschen eine eigene Sprache entwickeln, eine eigene, verloren geglaubte | |
Subjektivität entdecken. Auf Facebook sagen sie wieder „Ich“ und „Ich | |
will“. Das mag uns wenig erscheinen, ist aber existenziell dort. | |
Als Auslandsreporterin fahren Sie oft an Orte und begeben sich in | |
gefährliche Situation, wo schnell gelebt werden muss. | |
Ich würde sagen, es sind Orte, an denen es eine viel höhere Bedeutung hat, | |
was ich mit meinem Leben mache. Schnelllebig klingt, als sei es | |
gleichgültig oder das Leben wenig wert. Mein Blick ist nicht auf das Risiko | |
gerichtet, das wird auch oft überschätzt. Mein Fokus liegt auf Zivilisten. | |
Das Riskante ist nicht, dass man sich militärischer Gefahr, sondern dass | |
man sich moralischer Verstörung aussetzt. Und dass man eben auch diese | |
Unschuld des Nichtwissens verliert. Ich sehe das Leid von anderen und trage | |
das Wissen darum mit mir, ohne es ändern zu können. Ich kann mir nur | |
auferlegen, es so genau wie möglich zu bezeugen, zu beschreiben. | |
Verstörung sagten Sie, nicht Zerstörung? | |
Damit meine ich, dass es ein Maß an Zerstörung, Ungerechtigkeit und | |
sozialen, moralischen, politischen Verwerfungen gibt, die man nicht | |
verstehen will, nicht verstehen kann. Darüber wird viel zu wenig | |
gesprochen. | |
Worüber wird gesprochen? | |
Über Opferzahlen, über Militär, über Tod, über all das, was sich schnell in | |
Fakten auflisten lässt. | |
Sie wollen aber benennen, was in Kriegs- und Krisengebieten mit den | |
Menschen passiert. | |
Das ist die Herausforderung. Die ganze Arbeit eines Autors besteht darin, | |
etwas so zu beschreiben, dass es sich andere, die es nicht erlebt haben, | |
vorstellen können. Ich will, dass die Texte, die ich schreibe, eine | |
Erfahrung übersetzen, damit sie vorstellbar wird. Aber es stimmt auch, dass | |
es eine Form des Nichtverstehens gibt: Man will bestimmte Arten von | |
Brutalität, Gewalt und Unrecht nicht verstehen, weil man nicht in einer | |
Welt leben möchte, in der sie geschehen. | |
Wirklichkeit und Abbildung sind also nicht deckungsgleich. | |
Das ist jetzt ein philosophisches, kein moralische Problem. Natürlich kann | |
ich nur einen kleinen Ausschnitt dessen aufschreiben, was ich erlebt habe. | |
Aber darunter leide ich nicht so. Ich leide eher an der unbeantworteten | |
Frage: Ist es präzis und schonungslos genug beschrieben? | |
Weil sich der Schrecken abnutzt? | |
Nicht bei mir. Aber ich frage mich, mildert mein Text die Wirklichkeit ab? | |
Oder ist er auch ein Stück weit eine Zumutung. Damit die, die so etwas in | |
sicheren Gegenden lesen dürfen, genötigt werden, sich in dieser Unschuld | |
des Nichtwissens nicht zu bequem einzurichten. | |
Man liest es, und dann? | |
Dieses „und dann“ müssen die, die es lesen, eben aushalten. | |
Und Ihr „und dann“? | |
Ich fahre immer wieder hin, weil da Menschen leben, deren existenzielle | |
Grunderfahrung die ist, dass sie als Person, als Individuen negiert werden. | |
Wenn ich ihre Geschichten aufschreibe, bemühe ich mich, ihnen wieder eine | |
Art von Sichtbarkeit, von Hörbarkeit zu geben. Und ich betrachte es sogar | |
als eine Art subversive Strategie, eine Form von Genauigkeit in der Sprache | |
zu finden. | |
Subversiv inwiefern? | |
Das, was Kriegen vorausgeht, sind Strategien des Denunzierens und | |
Unsichtbarmachens bestimmter Gruppierungen, der Exklusion von ganzen | |
Bevölkerungsgruppen. In dem Sinne sind meine Texte von dem Gedanken | |
geleitet, dass sie eine sprachliche Antwort auf das sind, was vorher eben | |
auch Sprachpolitiken oder Ideologien waren, die dann langsam eine soziale | |
Wirklichkeit gestalteten. | |
Und deshalb müssen Sie immer wieder dahin fahren? | |
Der Krieg hört ja nicht auf, wenn wir wegschauen. | |
Suchen Sie manchmal das Schlimme auf Ihren Reisen und erkennen dabei dann | |
aber das Schöne? | |
Beides muss man nicht suchen. Über die Erfahrung in solchen Ländern sind | |
die Demut gewachsen und die Dankbarkeit für das, was es hier bei uns gibt. | |
Die erste Tasse Tee am Morgen – das ist toll. Meine Wohnung – das ist toll. | |
Ein Rundfunksymphonieorchester – das ist wunderbar. Es ist nicht so, dass | |
die Fähigkeit, mich an Dingen zu erfreuen, nachgelassen hätte. | |
Wir haben über Sie als Suchende geredet. Sind Sie auch eine Findende? | |
Absolut. Ich sammle nicht nur Geschichten. Auch Dinge. | |
Es gibt einen schönen Text, in dem steht, dass Sie nach dem Tod Ihrer | |
Mutter vor allem eines wollten: ihre Kommode. | |
Ja, die habe ich auch. | |
Was ist das Besondere daran? | |
Diese eine oberste Schublade, in der so Krimskrams war, Kordeln und | |
Tesafilm und Geschenkpapier. Das Schönste war, dass sie unaufgeräumt war. | |
Und was ist jetzt drin? | |
Das verrate ich nicht. Es ist auch unwichtig. Wenn ich die Schublade heute | |
öffne, ist immer noch das drin, was damals drin war. | |
21 Dec 2012 | |
## AUTOREN | |
Waltraud Schwab | |
Waltraud Schwab | |
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