# taz.de -- 40 Jahre taz Berlin: Signale aus der Zukunft | |
> Wie wird Berlin in 20 Jahren aussehen? Wir haben fünf Menschen gefragt, | |
> die Musik machen, Romane schreiben, Regie führen und die Stadt | |
> beobachten. | |
Bild: Vielleicht sieht es 2040 auf den Dächern Berlins so aus wie 1926 – nur… | |
## Alle werden auf ihre Kosten gekommen sein | |
In zwanzig Jahren wird Berlin endlich richtig fertig sein, und es wird sich | |
rentiert haben. Doppelt und dreifach ausbezahlt für alle, die schnell genug | |
und schlau genug und visionär genug waren, und auch für die, die nur | |
gewartet und sich drangehängt und die Hand aufgehalten haben. | |
Alle werden auf ihre Kosten gekommen sein, und Berlin wird daliegen und nur | |
noch aus dem letzten Loch pfeifen. Aus diesem einen kleinen Leck in, sagen | |
wir mal, Springpfuhl. Dort, im vermüllten Gestrüpp unter der | |
Fernwärmeleitung, pfeift es noch ganz leise, und der kleine Kiffer, der | |
seine Tags übt auf den rosa lackierten Röhren, hat es den Rest des Tages im | |
Ohr. Und gibt es weiter an seine Omi, die in zwanzig Jahren | |
selbstverständlich ich bin. | |
Ich bin dann diejenige, die Berlin vor vierzig Jahren für mich war, eine | |
alte Frau, die – anders als man’s in Stuttgart machte – mit Hut und | |
Handtasche losgeht, um sich am Imbiss einen Schlag Kartoffelsalat zu holen, | |
schön mit Mayonnaise. Und ihn im Gehen verschlingt. Berlin wird mir deshalb | |
im weiteren Verlauf des Tages auch ein wenig sauer aufstoßen, aber | |
eigentlich mag ich das ja gern: dieses Brennen im Hals, das einen an das, | |
was war, erinnert. | |
Anke Stelling, Schriftstellerin, wurde 1971 in Ulm geboren und zog zwanzig | |
Jahre später nach Berlin | |
## Radfahrer, die wie Studenten aussehen | |
Berlin ist runtergerockt, sagt Christel Weiler am Telefon. Ich bin also | |
nicht der Einzige mit dem Gefühl, dass hier irgendwas nicht mehr stimmt. | |
Ich will sichergehen und frage Ali, den ich kürzlich in der Wiener Straße | |
kennengelernt habe. Berlin ist kaputt AMK, sagt er, und knattert mit dem | |
Elektroschocker, den er für 10 Euro in Polen gekauft hat, Radfahrern | |
hinterher. Radfahrer, die wie Studenten aussehen, sind die schlimmsten, | |
sagt er, die sind nur aggro. Später erfahre ich vom Dorfpunk, dass Ali | |
wegen versuchten Mordes fünf Jahre im Knast gesessen hat. Ali verteidigt | |
sich, er habe sich nur gegen Faschos gewehrt. | |
Da rasen schon die nächsten Radfahrer im Höllentempo an uns vorbei. Ali | |
brüllt, es knattert, einer erwidert: „Fuck you!“ Ein Mittelfinger kommt | |
hinterher. Stress! Ich gehe in den Kiosk und kauf mir 'ne Dose Fanta | |
Exotic. Das Zuckerwasser knallt. Zahlen muss ich nicht, den Verkäufer Ibo | |
kenne ich seit 40 Jahren. Wie lange warst du in Istanbul, fragt er. Acht | |
Monate, antworte ich. | |
Hast du Berlin vermisst? Nein. Aber ich habe dich vermisst, sagt er und | |
gibt mir verschmitzt einen Luftkuss. Draußen stehen der Dorfpunk und der | |
Rettungssanitäter Alex und rauchen. Wir sind heute am Kottbusser Damm | |
stecken geblieben und hätten fast den Patienten verloren, Scheißfahrradweg, | |
schnauzt er. Fahrradwege sind wichtig, sage ich. Ja, bestätigt er, um uns | |
vor den Fahrradfahrern zu schützen. | |
Ich verabschiede mich und fahre nach Selchow, um Kids von einer | |
Halloweenparty abzuholen. Auf dem Weg komme ich am BER vorbei. Zufällig ist | |
heute Eröffnung, neun Jahre zu spät. Hexen, Vampire und Zombies steigen in | |
meinen Wagen, es stinkt nach Kinderpunch. Wir schauen uns beim Vorbeifahren | |
den BER an. Die Hexe fragt, ob wir schon in Berlin sind. Das dauert, sage | |
ich. Aus den Boxen dröhnt „Halloween“ von den Misfits. Wir kommen auf die | |
Autobahn 113 BLN-ZENTRUM. Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin! | |
Horror-Punk! Die nächsten zwanzig Jahre sollen ruhig kommen. | |
Tamer Yiğit ist Theater- und Filmemacher, Musiker und Schauspieler. Er | |
stammt aus Tempelhof | |
## Es gab noch so viele andere schöne Orte in der Welt | |
2040. Der neueste touristische Geheimtipp ist das kleine Dessau. (Bauhaus! | |
The Platten! The Wildwiesen! This rough charme, you know, raunen die | |
Touristen. Und erst der pompöse Theater-Nazibau! Besser als | |
Neuschwanstein.) | |
Berlin ist dem Massentourismus zu langweilig geworden, die Kunst- und | |
Kulturszene schon lange vorher in die Knie gegangen. Als überall nur noch | |
die üblichen Handelsketten residierten, Hostels und Hotels aber verwaisten, | |
ergriffen all jene panisch die Flucht, die auf Tourismus gesetzt hatten, | |
jenes verwöhnte Balg, das nach immer neuem Spielzeug gierte. Sie zogen die | |
Investoren mit sich – auch weil die Wut der Verdrängten nicht länger zu | |
ignorieren war. Es gab noch so viele andere schöne Orte in der Welt. Berlin | |
war irgendwie so... unberechenbar geworden. | |
Zurück blieben leer stehende Büros, verwaiste Shoppingtempel, ungenutzte | |
Ferien-Apartments. Familien hatten es satt, an den Stadtrand gedrängt zu | |
werden, und kaperten die leer stehenden Hotels und Mini-Apartments, die mit | |
ein bisschen Geschick zu annehmbaren Wohnungen umfunktioniert wurden. | |
Manche Mall hatte sich die Natur zurückerobert. Die Hochhäuser am Potsdamer | |
Platz waren jetzt voller Ateliers und Studios, die Straßenschluchten | |
belebten sich. Auch die Obdachlosen trauten sich und nahmen sich das Adlon. | |
Aufs Dach setzten die Aktivisten vom „Freien Fach“, wie schon in den 90ern | |
erdacht, einen Spaßpark. | |
Nur vorsichtig musste man sein. Nachher kam die ganze Bagage wieder zurück | |
und kreischte: „Oh, alles so aufregend authentisch hier!“ Und der ganze | |
Mist fing wieder von vorne an. | |
Ulrike Steglich wurde 1967 in Ostberlin geboren. Sie ist freie Journalistin | |
und Redakteurin | |
## | |
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Marlene Stark ist Resident DJ im Sameheads Club und Autorin. Ihr erstes | |
Album, „Hyäne“, erscheint am 26. November auf Lustpoderosa. | |
## | |
## Industrie, Krieg, Menschenrechte, Marxismus, Medizin | |
„Ihr verfluchten Racker, wollt ihr denn ewig leben?“ Berlin hatte immer | |
schon die Neigung, sich ständig zu verändern, und so kann der hier | |
Ankommende den Spruch von Friedrich dem Großen als Willkommensgruß lesen, | |
als geladene Knarre von Willkommensgruß allerdings. Wer kommt, bringt | |
besser Ideen mit und entwickelt sie weiter, statt rumzulaufen und auf | |
Almosen zu hoffen, bloß weil man jetzt „hier“ ist. Na und? In Berlin zu | |
„sein“, ist, abgesehen von der Tatsache, dass man hier nichts „sein“ mu… | |
nicht selbsterklärend. Aber man kann erwarten, dass man die Perspektive | |
verliert oder gar die gesamte Handlung der eigenen Geschichte. | |
Eine Unmenge von Machthabern und deren Stellvertreter herrschten in dieser | |
Region. Der Deutsche Orden, die Balten (also die alten Preußen), die Polen, | |
Litauer und so weiter bis zu den europäischen Dynastien, die das Land | |
herumreichten wie ein ungewolltes Stiefkind. In der jüngeren Geschichte | |
übte Marshall Jeffersons 707-Drummaschine ihre Macht aus. Die Eingeweihten | |
wissen, worum es geht. | |
Berlin war immer Schauplatz für soziale Unruhe und ein Inkubator für Ideen, | |
Disziplinen und Systeme: Die moderne Wissenschaft, Industrie, Krieg, | |
Menschenrechte, Marxismus, Medizin inklusive der Psychologie. Irgendwann | |
wurde Berlin sogar zur „Partywelthauptstadt“ ausgerufen, auch wenn es | |
derzeit damit vorbei ist. Gibt es einen anderen Ort auf der Welt, an dem | |
eine Diskothek offiziell zur Hochkultur gezählt wird? | |
Die Stadt verändert sich so schnell, dass man auch darauf nur mit „Na und?“ | |
antworten kann. Berlin ist eine Metropole, die dem Begriff „in flux“ eine | |
neue Bedeutung gibt. Wer etwas über ihre Zukunft wissen will, sollte besser | |
gestern schon angereist sein – oder er verpasst was... den Morgen. | |
You know I’m laughing, right? | |
Eric D. Clark ist Musiker. Er wuchs in Kalifornien auf | |
12 Nov 2020 | |
## AUTOREN | |
Anke Stelling | |
Tamer Yiğit | |
Marlene Stark | |
Eric D. Clark | |
Ulrike Steglich | |
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