# taz.de -- Vibes der Vergangenheit: Der Wildwuchs als Ausstellungsstück | |
> Das Tacheles in Berlin-Mitte war mit seinem heruntergerockten Charme ein | |
> Spielplatz der Kunst. Die findet sich dort nun wieder. | |
Bild: Das Tacheles in Berlin-Mitte war einmal ein wilder Ort. Jetzt ist es ein … | |
Berlin taz | Ach, wie lange ist das bloß her, der letzte Besuch im | |
Tacheles, 20 Jahre oder mehr? Dieses ehemalige Kunstzentrum in der | |
Oranienburger Straße, an der Ecke zur Friedrichstraße, dem nördlichen, eher | |
unspektakulären Abschnitt in Berlin-Mitte. [1][Das Tacheles war einst eine | |
Institution]. Hier arbeiteten Künstler (damals genderte man noch nicht), | |
hier fanden Ausstellungen, Performances, Konzerte und Partys statt. | |
Während des Zweiten Weltkrieges sind Schäden entstanden, doch das Gebäude, | |
1909 als Friedrichstraßenpassage eröffnet, konnte weiter von Einzelhandel, | |
Handwerk und einem Kino genutzt werden. Saniert wurde nie. Ein Teilabriss | |
begann 1980, angeblich der Statik wegen – der noch heute stehende Teil | |
sollte im April 1990 weg. Doch dazu kam es nicht, Wende sei Dank. Kurz vor | |
der geplanten Sprengung wurde der noch stehengebliebene Rest des Gebäudes | |
am 13. Februar 1990 von der [2][Künstlerinitiative Tacheles besetzt]. Der | |
Abriss war bald vom Tisch, seit 1992 steht das Haus unter Denkmalschutz. | |
Das Tacheles war unverwechselbar. Zur Straße hin mit einem eindrucksvollen | |
Eingangsportal und allerhand Ornament halbwegs intakt, aber völlig | |
heruntergekommen, waren auf der Rückseite zerborstene Wände und Böden zu | |
sehen, die ins Freie ragten. Dahinter eine riesige Brache mit allerhand | |
Wildwuchs. Dort standen Metallskulpturen und irgendwann eine ausgemusterte | |
MIG, ein russisches Jagdflugzeug – das zu einem Wahrzeichen des | |
alternativen Kunstzentrums wurde. Lange her. | |
Das Tacheles gab es in dieser Form nur bis 2012. Dann wurde es nach viel | |
Hin und Her endgültig geräumt. Es gab Proteste und Schlagzeilen. Nutzte | |
aber alles nichts. Das Tacheles stand dann lange Jahre leer. | |
## Auferstanden aus Ruinen | |
Das ehemalige Kunsthaus wurde ab 2019 saniert, die historische Fassade | |
blieb erhalten. Die Brache drumherum ist verschwunden. Dort ist ein | |
Neubaukarree entstanden, das für Unmut sorgte, weil es sich zum Teil um | |
Luxusimmobilien handelt. Gentrifizierung eben. Auf dem Areal – nun heißt es | |
„Am Tacheles“ – wurden 11 neue Gebäude mit Büroflächen, 275 Wohnungen … | |
Einzelhandelsflächen gebaut. Der gepflasterte Innenhof wirkt kalt und | |
zugig, unter der Woche ist hier kaum was los. Hinterm Tacheles ist ein Rewe | |
eingezogen, aber auch die Königliche Porzellan-Manufaktur und Porsche mit | |
einem Showroom. | |
Kunst ist ebenfalls wieder vor Ort, die Fotografiska Berlin GmbH hat sich | |
hier eingemietet und zur Berlin Art Week 2023 eröffnet. Fotografiska ist | |
ein Kunstkonzept aus Stockholm, das Fotokunst präsentiert. Es gibt | |
Dependancen in New York, Tallinn und Shanghai und nun eben auch in der | |
deutschen Hauptstadt. Das Ganze ist eine Art Mischung aus Museum und | |
Galerie nebst Bar, Café, Bäckerei und Restaurant. | |
Die alten Gebäudeteile haben schönerweise ihren maroden Charme behalten. | |
Über die Neubauten ringsum, viel Glas und Beton, lässt sich streiten. Halb | |
(Neu-)Berlin sieht halt so aus. Langweilig und abweisend. Mit dem Tacheles | |
aber, das wie ein Stachel im Gebäudekarree nach Plänen des Architekturbüros | |
Herzog & de Meuron hinein- und herausragt, ist das hier dann doch etwas | |
Besonderes. Am besten alles einmal umrunden und dann hinein. | |
Wer die Fotos sehen will – es sind immer [3][drei verschiedene, oft | |
hochklassige Ausstellungen] auf den oberen drei Stockwerken – nimmt die | |
Treppe, die noch im originalen Zustand ist wie einst im alten Tacheles. Das | |
gleicht einer Zeitreise und macht einfach Spaß. Wer das Treppenhaus von | |
früher kennt, wird alte Graffitis, Sprüche, Aufkleber oder Plakate | |
wiedererkennen. Einzelne Prachtstücke sind extra ausgeleuchtet mit einem | |
Lichtspot. Mitunter ist nicht klar, ob ein Spruch an der Wand nun wirklich | |
authentisch von einst oder doch neu hinzugekommen ist. Macht ja aber | |
nichts. Kurz vorm 5. Stock steht in Rot an der Wand: „Das Haus gehört in | |
Kryostase!“ – also eingefroren. Das passt doch gut zum Zustand des | |
Tacheles. | |
## Junge Leute im alten Treppenhaus | |
Und mit etwas Glück sieht man auf einem Treppenabsatz jungen Leute dabei | |
zu, die vor dieser bunten Kulisse ein Filmchen für Tiktok oder Instagram | |
drehen. „Das ist so nice hier“, ist einem jungen Mann im Vorbeigehen zu | |
entlocken. Ältere Semester bewegen sich dagegen eher andächtig durchs | |
Treppenhaus, wie durch einen Zeittunnel. „Wir kennen das Tacheles von | |
früher“, sagt eine Frau, die sich mit ihrem Mann im Fotografiska | |
ausführlich umschaut. | |
Auch in den Fluren ist das alte Tacheles noch präsent, es sieht so aus wie | |
damals. Bis eben auf die stylishen WCs, die neuen schwarzen Türen mit den | |
Hinweis „Staff only“, und okay: Der Lift war früher auch nicht da. Das gilt | |
genauso für Restaurant oben, Museumsshop und Café im Erdgeschoss. Sitzt man | |
dort beim Kaffee und einem Pistaziencroissant, sieht man durch die großen | |
Panoramascheiben auf die Oranienburger Straße. Direkt gegenüber steht ein | |
Haus in völlig unsaniertem, desolaten Zustand. So grau sah es hier zu | |
DDR-Zeiten überall in dieser Ecke Berlins aus. | |
11 Mar 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Tacheles-Grundstueck-in-Berlin/!5289324 | |
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Kunsthaus_Tacheles | |
[3] https://berlin.fotografiska.com/de/programm | |
## AUTOREN | |
Andreas Hergeth | |
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