# taz.de -- Berliner Straßenporträt: Straße lesen | |
> Tempo-30-Zone mit Gründerzeitfassaden und vielen Spuren jüdischer | |
> Geschichte: Ein Spaziergang durch die Florastraße in Pankow. | |
Bild: Unterwegs in der Florastraße | |
BERLIN taz | Wer aus dem Berliner Stadtzentrum, über die Schönhauser Allee | |
kommend, in die Pankower Florastraße will, muss hinter den Bahndamm, denn | |
dort ist es, wo sie an einer stählernen Bogenbrücke abbiegt und die Breite | |
Straße mit der Wollankstraße in Richtung Wedding verbindet. | |
Communikationsweg hieß die Florastraße im 19. Jahrhundert, bis sie in | |
dessen zweiter Hälfte ihren heutigen Namen erhielt, nach der römischen | |
Blütengöttin und den zahlreichen Gartenanlagen, die damals das Straßenbild | |
prägten. | |
Tatsächlich wird, wer die Florastraße auf ihrem einen Kilometer Länge | |
erkundet, auch heute insgesamt drei Blumenläden bemerken. Gerade mal eine | |
Viertelstunde zu Fuß oder fünf Minuten mit dem Rad wird das dauern, wobei | |
es ratsam ist, mehr Zeit einzuplanen. | |
Wer wie skizziert den Weg zur Florastraße gefunden hat, wird sich auf jeden | |
Fall erst einmal einem Bauwerk gegenübersehen, das mit dem Abstand des | |
Panoramablicks ansprechender wirkt als aus der Nähe, einem | |
Dienstleistungszentrum mit meerdunkler Natursteinfassade. Aus der Distanz | |
gleicht der Mittelteil des 2012 fertiggestellten Gebäudes einer Brücke über | |
einen der Eingänge zum U-Bahnhof Pankow, aus der Nähe ist es eben eine Mall | |
mit einem Edeka-Markt und Einzelhandel, einer Drogerie und Arztpraxen. | |
Zu dem Ensemble gehört aber auch ein ausladendes metallenes Gedenkband von | |
Susanne Ahner [1][mit dem Schriftzug „Garbáty“], es erinnert an den | |
deutsch-jüdischen Zigarettenfabrikanten Josef Garbáty, dessen Firma und | |
Familie bis Ende der dreißiger Jahre nicht nur Arbeitgeber, sondern sozial | |
engagiert und ihrer Zeit um einiges voraus waren: So gab es bei Garbáty | |
bereits 1918 eine Arbeitslosenversicherung, die Firma sponserte | |
Sportveranstaltungen und das Jüdische Waisenhaus in der nahe gelegenen | |
Berliner Straße. | |
Als Josef Garbáty seine Firma 1906 in die Hadlichstraße, ebenfalls hinter | |
den Bahndamm, holte, gehörte Pankow noch zum Landkreis Niederbarnim und war | |
formal ein Dorf, seiner sprunghaft steigenden Einwohnerzahl zum Trotz. 1870 | |
hatte Pankow 2.105 Einwohner gezählt, ihre Zahl sollte sich bis 1890 mehr | |
als verdreifachen und dann bis 1912 großzügig verdoppeln. | |
1918, zwei Jahre vor der Eingemeindung durch das Groß-Berlin-Gesetz, lebten | |
dann 58.000 Menschen in Pankow. Aus dieser Zeit datiert auch Berlin in | |
seiner heutigen Ausdehnung. Der S-Bahnhof Pankow, ein Ensemble aus | |
Empfangs-, Wohn- und Verwaltungsgebäude, Treppenaufgang und Bahnsteig in | |
der Florastraße 52, konnte wenige Jahre vorher fertiggestellt werden. Seine | |
Entstehungszeit ist dem Baudenkmal anzusehen; das ist ein Kompliment. | |
Dabei verströmt die Florastraße auf dieser Höhe eine gewisse Rauheit. Es | |
braucht schon ein paar Schritte, bis sich nach der Bahnhofsgegend hinter | |
der Mühlenstraße jenes Viertel zeigt, das fast wie eine | |
Prenzlauer-Berg-Exklave wirkt. Da sind ein Tee- und ein Bioladen, eine | |
Apotheke, Musikschule und Fahrradwerkstatt. Mit dem „Prager Frühling 1968“ | |
hat die Florastraße eine amtliche tschechische Kneipe mit Verköstigung zu | |
bieten. Aber wer an der Ecke, wo sich Flora- und Wollankstraße kreuzen, aus | |
der Trattoria kommt, sieht die Suppenküche des Franziskanerklosters. | |
Die Florastraße ist Tempo-30-Zone mit Gründerzeitfassaden und umzäunten | |
Vorgärten. An einer Stelle rostet malerisch ein Balkon vor sich hin, | |
gegenüber steht ein Haus, das sich in einem mitteleuropäischen Spielfilm | |
gut machen würde. Pankow ist ein Kinobezirk gewesen. Das „Zimmer 16“, | |
benannt nach seiner Hausnummer, beherbergt an der Adresse eines ehemaligen | |
Lichtspielhauses eine Kleinkunstbühne. 2019 ist es hier zu Mieterprotesten | |
gekommen. Neun Häuser in der Florastraße und ihrer Umgebung, darunter das | |
von „Zimmer 16“, standen zum Verkauf an die Deutsche Wohnen; die | |
Betroffenen fürchteten Mietsteigerungen und Verdrängung. Für vier | |
Wohnhäuser konnte das Bezirksamt eine Abwendungsvereinbarung treffen. | |
Ein erschwingliches Pflaster ist die Florastraße nicht, auch wenn es in ihr | |
sogar eine Umsonstboutique gibt. Sie gehört zum Unabhängigen | |
Jugendzentrum Pankow e. V., kurz JUP genannt, einer Institution seit den | |
frühen neunziger Jahren. Mit seinen Transparenten und dem Schriftzug | |
„Räubahöhle“ über dem Eingang zum Café, Räuber mit Anarchie-A, versteht | |
sich, könnte es sogar aus dem Kreuzberg der achtziger Jahre kommen. | |
Dann ist die Florastraße eine Adresse, wo es annähernd so viele Buchläden | |
wie Friseursalons gibt. Da sind [2][die „Buchdisko“] und der „Buchsegler�… | |
dann die kürzlich eröffnete [3][Dependance des Ventil-Verlags] und das | |
„einBuch.haus“, eine Galerie und Kunstbuchplattform. | |
Als Pionier dieser Tradition darf ein Pankower jüdischer Schriftsteller | |
vermutet werden, Albert Katz. Seine Geschichte erzählt der Historiker | |
Hermann Simon in dem mittlerweile vergriffenen Buch „Jüdische Lebenswege. | |
Ein kulturhistorischer Streifzug durch Pankow und Niederschönhausen“ von | |
Inge Lammel, einer Musikwissenschaftlerin und Expertin für Arbeiterlieder. | |
Katz kam 1881 aus seiner Geburtsstadt Łódź nach Berlin, Simon zitiert aus | |
einem Adressbuch des Jahres 1899, in dem die Florastraße 58 als Adresse | |
des „Buchhändlers Dr. phil. Albert Katz“ angegeben wird. | |
Die Florastraße ist eine, in der gelesen werden kann und über die gelesen | |
werden sollte. An der Ecke Dusekestraße, in Richtung Rathaus Pankow und | |
Volkshochschule, sticht eine Wohnanlage im Stil der Zwanzige-Jahre-Moderne | |
heraus. Sie hat etwas eigentlich Unmögliches, eine runde Ecke. Über ihre | |
Architekten, die gebürtigen Berliner Alfred Wiener und Hans Sigmund | |
Jaretzki, die von 1925 bis 1930 ein gemeinsames Architekturbüro | |
unterhielten, schreibt die deutschisraelische Architektin und | |
Bauhistorikerin Myra Wahrhaftig in dem Buch „Deutsche jüdische Architekten | |
vor und nach 1933 – Das Lexikon“. | |
Auf Wiener und Jaretzki gehen mehrere Berliner Wohn- und Geschäftsbauten im | |
sachlich-eleganten Stil zurück, außer in Pankow in Schmargendorf, | |
Prenzlauer Berg und Weißensee. Jaretzki floh 1933 vor den Nazis über | |
Holland und Frankreich nach London, wo er weiter als Architekt arbeitete. | |
Alfred Wiener sollte erst 1938 mit seiner kranken Tochter nach Palästina | |
fliehen, seine in Deutschland gebliebene Frau und die Schwiegermutter | |
wurden im Konzentrationslager ermordet. | |
1938 ist auch das Jahr, in dem aufgrund der „Verordnung zur Ausschaltung | |
der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“ der Besitz der Familie | |
Garbáty zwangsverkauft wurde. Josef Garbáty, der Gründer des | |
Zigarettenimperiums, starb 1939 in Deutschland. Seiner Familie gelang die | |
Flucht in die USA, seine Pflegerin Sophie Boroschek wurde 1943 vergast. | |
Seit dem Jahr 2000 trägt der Vorplatz des S-Bahnhofs Pankow den Namen | |
Garbáty. | |
In unmittelbarer Nachbarschaft des Bahnhofs, in der Florastraße 48, | |
erinnert eine Gedenktafel an die kinderreiche Familie Jany, die an dieser | |
Stelle ihren Laden mit Wirtschaftsartikeln betrieb und gleich nebenan in | |
der Nummer 50 wohnte. Das Foto auf der Gedenktafel ist auch eines der | |
Einbandfotos von Inge Lammels Buch „Jüdische Lebenswege“, das der Familie | |
Jany und ihrer weitverzweigten Geschichte ein Kapitel widmet: über die | |
Herkunft aus Ungarn, die Heirat des Familienoberhaupts Adolf Jany mit | |
Margarete Bernstein, einer Cousine des SPD-Politikers Eduard Bernstein und | |
des KPD-Politikers Rudolf Bernstein. Elfriede Jany, eine der Töchter, | |
arbeitete als Lehrerin für Deutsch, Englisch und Turnen an der jüdischen | |
Schule in der Rykestraße in Prenzlauer Berg. | |
Im Februar/März 1943 verhafteten die Nazis acht der Familienmitglieder und | |
ermordeten sie in Auschwitz. Die Gedenktafel wurde 2004 durch den Verein | |
der Förderer und Freunde des ehemaligen Jüdischen Waisenhauses in Pankow e. | |
V. enthüllt, der Lammels Buch mit herausgegeben hat. Dessen fünftes Kapitel | |
ist überschrieben mit: „Pankower Juden im Widerstand“. | |
4 Apr 2021 | |
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## AUTOREN | |
Robert Mießner | |
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