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# taz.de -- Gewerkschaften und Rechtspopulisten: Aus dem Paradies vertrieben
> Vor allem männliche Arbeiter sympathisieren mit rechten Parteien. Die
> Gewerkschaften ignorieren das Thema.
Bild: Gewerkschaftsprotest am 1. Mai: Der DGB sorgt sich über den rechten Rand…
Der kalifornische Stadtsoziologe Mike Davis machte schon 2004 auf eine
politische Verschiebung in den Vereinigten Staaten aufmerksam. Als John
Kerry gegen George W. Bush verlor, belegte er das am Beispiel von West
Virginia. In den Appalachen, die die liberale Ostküste vom konservativen
„Bible Belt“ trennen, liegt das Zentrum des einst wichtigen Kohlebergbaus �…
in Europa vergleichbar mit dem Ruhrgebiet, der belgischen Wallonie,
Oberschlesien oder Südwales.
West Virginia, analysierte Mike Davis, war in den Vereinigten Staaten lange
eine Domäne der Demokraten, doch plötzlich gewannen die Republikaner mit
einem Vorsprung von über 10 Prozent. Der Hype um Barack Obama überdeckte
den Trend vorübergehend, bei der Wahl von Trump 2016 aber stimmten die
altindustriellen Bundesstaaten wieder rechts. [1][Joe Biden, der Kandidat
der Demokraten, hat das jetzt vier Jahre später trotz seines Siegs nur
ansatzweise stoppen können.]
Auch Ohio, Pennsylvania oder Michigan haben von dem Boom im Silicon Valley
und anderswo wenig profitiert. Dort und erst recht im konservativen Süden
wohnen die Rednecks, wie sie von den intellektuellen Eliten der
Küstenregionen verächtlich bezeichnet werden. „Angry white men“ nennt sie
der US-Geschlechterforscher Michael Kimmel.
Durch den Wandel zur Dienstleistungsökonomie ausgestoßen aus „ihrer“ Welt
machen sie Feministinnen, Homosexuelle, Politiker oder Richterinnen für den
Verlust von Privilegien verantwortlich. Die patriarchalen Dividenden sind
aufgebraucht, die Arbeiter vertrieben aus dem Paradies vergangener
Jahrzehnte.
Donald Trump, obwohl selbst keineswegs deklassiert, traf den Ton dieses
Milieus. Die treuesten Anhänger des abgewählten Präsidenten waren und sind
weiße Männer mit herkömmlichen Rollenmustern. Akademische Genderdebatten
ignorieren sie, fühlen sich aber dennoch diskriminiert: durch Quoten und
„affirmative action“, durch staatliche oder betriebliche Programme, die
Frauen und Schwarzen bessere berufliche Chancen verschaffen wollen.
## „Not am Mann“
Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung spricht von der
[2][„Not am Mann“, die internationale Forschung vom „double loser“], vom
doppelten Verlierer, der weder eine gesicherte Arbeit noch eine feste
Partnerin findet.
Arlie Russell Hochschild, Soziologin aus Berkeley, präsentiert in ihrer
Untersuchung „Fremd im eigenen Land“ die Ergebnisse von Feldstudien aus der
Kleinstadt Lake Charles in Louisiana. New Orleans wurde nach dem
Wirbelsturm „Katrina“ überflutet, die petrochemische Industrie am Golf von
Mexiko verschmutzt die Umwelt wie nirgendwo sonst in Nordamerika – dennoch
leugnen die meisten der von ihr Befragten den Klimawandel. Ähnliche
Mentalitäten lassen sich in abgeschwächter Form in der Bundesrepublik
Deutschland beobachten.
In der vom Braunkohletagebau geprägten Lausitz ist die Alternative für
Deutschland (AfD) längst Volkspartei. Fast die Hälfte der Arbeiter stimmten
bei der Landtagswahl in Brandenburg für sie, in Thüringen waren es knapp 40
Prozent.
Doch auch das westliche und saturierte Baden-Württemberg, in dem im
kommenden Jahr gewählt wird, ist eine Hochburg der Rechtspopulisten – nicht
zuletzt dank der Facharbeiter mit Gewerkschaftsbindung, die in der
Autoindustrie oder ihren Zulieferbetrieben beschäftigt sind.
## Bild der Warteschlange
Klaus Dörre, Soziologe an der Universität Jena, beschreibt das Phänomen in
einem gerade erschienenen Buch mit dem Bild von der „Warteschlange“: Die
Betroffenen warten am Fuße des Berges der Gerechtigkeit, aber es geht nicht
mehr vorwärts. Ständig gibt es neue Gründe für Stockungen wie die
Globalisierung oder die Eurokrise, und während dessen ziehen andere
vermeintlich vorbei.
Am oft ländlichen Wohnort der vom Ressentiment Geprägten zerbröselt die
soziale Infrastruktur, verstärkt durch die aktuellen Coronabeschränkungen:
Läden schließen, der Bus fährt nur noch zweimal am Tag, die letzte Kneipe
macht dicht. „Überall muss gespart werden, aber die Zugewanderten bekommen
angeblich alles“, beschreibt Dörre das gängige Deutungsmuster. So wirke ein
„Mechanismus, der Kränkungen durch Abwertung anderer kompensiert“.
Der Soziologe diagnostiziert die „Sehnsucht nach einem goldenen Zeitalter“,
als Arbeiter noch respektiert wurden und Chancen zum gesellschaftlichen
Aufstieg hatten. Er beschreibt deren schleichende Annäherung an den
inzwischen auch parlamentarisch etablierten Rechtspopulismus. Die
Entwicklungslinie reicht vom [3][Frust der Ostdeutschen in der
Nachwendezeit] über die wachsende Globalisierung und Prekarisierung in den
Nullerjahren bis zu den sozialen Folgen der Finanzkrise und den
Ressentiments gegen Geflüchtete nach 2015.
Alarmierend ist der Rechtstrend unter Arbeitern für den DGB und seine
Gewerkschaften. Dass vor allem männliche Mitglieder keineswegs immun sind
gegen Stammtischparolen, wird intern mit Sorge beobachtet, doch eine
öffentliche Positionierung fehlt weitgehend. Man kehrt das Thema
gefährlicherweise unter den Teppich, um es nicht aufzuwerten. Dörre legt
mit seinem Klartext sprechenden Forschungsband also den Finger in eine
offene Wunde – gerade im Hinblick auf die kommenden Landtagswahlen und die
Wahl zum Bundestag im Herbst 2021.
Zwar stimme die Mehrheit der Industriearbeiter nach wie vor demokratisch,
„in EU-Europa sogar überwiegend links“. Doch erhebliche Teile der
Arbeiterschaft fühlten sich von den sie traditionell vertretenden Parteien
„im Stich gelassen“. Es wachse die Sympathie für rechtes Gedankengut. Eine
„demobilisierte“ Gesellschaft bilde den „Nährboden, den die radikale Rec…
für eine Umdefinition sozioökonomischer und kultureller Spannungen nutzt“.
27 Dec 2020
## LINKS
[1] /US-Regierung-unter-Joe-Biden/!5735302
[2] /Kommentar-AfD-Erfolg/!5033185
[3] /DDR-Geschichte-in-der-Nachwendezeit/!5645958
## AUTOREN
Thomas Gesterkamp
## TAGS
Schwerpunkt AfD
Rechtspopulismus
Donald Trump
Arbeitnehmerrechte
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Lesestück Interview
US-Demokraten
30 Jahre friedliche Revolution
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