Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Sturm auf die Stasi-Zentrale: „Die wollen mithören!“
> Am 15. Januar 1990 besetzten DemonstrantInnen die Zentrale der Stasi. Sie
> standen vor einer Herausforderung: Wie löst man einen Geheimdienst auf?
Bild: Die Stasi-Zentrale der DDR in Ost-Berlin am 15.1.1990
„Dass es [1][so friedlich] bleiben würde, war überhaupt nicht absehbar.
Aber als ich ankam und sah, dass die Polizei nicht eingriff, war die
Erleichterung groß“, erinnert sich Arno Polzin an den Sturm der
Stasi-Zentrale am 15. Januar 1990. An jenem Winterabend strömten Hunderte
auf das Gelände der Zentrale in Berlin-Lichtenberg.
Seit Anfang Dezember 1989 kursierten erste Gerüchte darüber, dass die Stasi
[2][in großem Stil Akten vernichte]. Während die regionalen
Stasi-Bezirksverwaltungen schon im Dezember besetzt worden waren, konnte
die Zentrale des Ministeriums ungestört weiterarbeiten. Es sollte noch mehr
als einen Monat dauern, bis das Neue Forum am 15. Januar zu Protesten in
der Berliner Normannenstraße aufrief – mit Erfolg. Noch am selben Abend
gründete sich in Berlin ein Bürgerkomitee, um die Abwicklung der Behörde
kontrollierend zu begleiten.
Als gelernter Werkzeugmacher bekam Polzin die Folgen des kollabierenden
Wirtschaftssystems unmittelbar zu spüren. Die Auftragslage brach ein, eine
schnelle Kündigung drohte. Polzin erfuhr, dass das Bürgerkomitee
Mitstreiter*innen bei der Auflösung der Stasi suchte. Er ließ sich
freistellen und kümmerte sich ab Februar 1990 in der „Arbeitsgruppe 2“ des
Komitees um die Sicherung von Akten.
Formal hatte die DDR-Regierung für die Auflösung des Ministeriums ein
staatliches Komitee eingerichtet. Darüber hinaus wurde jede ehemalige
Diensteinheit der Staatssicherheit aufgefordert, Mitarbeiter*innen zu
stellen, die über die Tätigkeitsbereiche der jeweiligen Abteilungen
Auskunft geben.
## Pakete schnüren
Außerdem war ihre Aufgabe: Bündel zu schnüren. 30 Zentimeter sollten die
Aktenstapel hoch sein, beschriftet mit Informationen zu Herkunftsort und
Brisanz des Materials. Haus für Haus wurde geräumt, die Pakete anschließend
ins Stasiarchiv transportiert, wo sie auf ihre archivarische Erschließung
warteten.
Aber wie sieht es im Alltag aus, wenn ehemalige [3][Stasi-Hauptamtliche]
zusammen mit Bürgerrechtlern und Regierungsabgesandten einen Geheimdienst
auflösen? Zuerst musste herausgefunden werden, wer zu welcher Partei
gehört.
„Zu unseren besten Zeiten waren wir beim Bürgerkomitee mehr als 100 Leute.
Der klassisch langhaarige Vollbärtige war definitiv kein
Stasi-Hauptamtlicher, aber andere sahen unscheinbarer aus. Umgekehrt wirkte
ein Major oder Oberstleutnant im Hausmeisterkittel plötzlich ganz harmlos“,
berichtet Polzin.
Dass die Perspektiven einer beruflichen Neuorientierung für Beschäftigte
der Staatssicherheit nicht rosig aussahen, motivierte nicht gerade dazu, an
der Aufklärung mitzuwirken. „Aber Vernichtungsaktionen im größeren Maß
waren in den Auflösungsmonaten nicht mehr unkontrolliert möglich,
allenfalls kleine, heimliche Aktionen“, resümiert Polzin. Menschen, die den
Alltag eines jeden kontrolliert hatten, wurden zwangsläufig zu Entsorgern
ihrer eigenen Machtposition. Ende Juni 1990 waren die Arbeiten
abgeschlossen.
Innerlich zerrissen
Zurück zu denen, die auf der anderen Seite standen. Karla Sachse hatte
gerade ihr Studium der Kunstpädagogik begonnen, als bei ihrem Bruder im
Jahr 1970 illegale Flugblätter gefunden wurden. Er wurde zunächst im
Jugendgefängnis Torgau und dann in der „Sonderhaftanstalt der
Staatssicherheit“ in Bautzen inhaftiert. „Ich habe eigentlich immer damit
gerechnet, dass mich irgendwann jemand zur Mitarbeit nötigen wird, und
versucht, mir auszumalen, was ich dann mache“, erinnert sie sich, „Ich weiß
nicht, wie ich mich entschieden hätte, ich war ja noch so jung.“
„In den 80er Jahren hatte ich das Gefühl, innerlich zerrissen zu sein“,
erzählt Sachse. „Wir wussten ja, dass wir bespitzelt wurden. Zum Beispiel
hat mein Mann fünf Jahre auf sein Telefon gewartet, ich hatte meines nach
wenigen Monaten. Da war klar: Die wollen mithören! Aber ich habe es einfach
nicht geglaubt, dass wirklich immer jemand in der Leitung sitzt. Und ich
wollte mein Leben nicht damit zubringen, Angst zu haben.“
Sie machte sich zum Ziel, vorhandene Spielräume auszudehnen. „Wir haben
Katz und Maus mit der Obrigkeit gespielt. Es gab immer wieder Versuche, die
Künstler zu verhätscheln, damit nicht alle abhauen, und das haben wir
genutzt.“
An Republikflucht war für sie nicht zu denken, im Gegenteil: „Als
Künstlerinnen und Künstler haben wir uns nicht als Staatsfeinde betrachtet.
Ich wollte nicht weg, sondern hier die Verhältnisse verbessern. Mit der
Maueröffnung war mir dann klar: Dass wir hier selbst noch etwas bestimmen
können, wird nicht stattfinden.“ Dennoch hat sie an der Demokratisierung
des Kunstverbandes mitgewirkt.
„Es ist, als ob jemand anderes deine Biografie schreibt“
Karla Sachse hat ihre Stasiakte nie angefordert. Auch Ulrike Callenius
wollte die Vergangenheit eigentlich ruhen lassen. Erst 15 Jahre nach der
Wende entscheidet sie sich, ihre Akte zu beantragen.
Als die Mauer fällt, ist sie gerade 25 Jahre alt. Als junges Mädchen ließ
ihre Linientreue zu Wünschen übrig. Sie verweigerte sich FDJ und
Jugendweihe. An Abitur oder Studium war daraufhin nicht mehr zu denken.
Aber auch für ungelernte Arbeiten mussten Akten vorgelegt werden. Nach
mühseliger, erfolgloser Suche blieb nur die Möglichkeit, als Putzkraft zu
jobben. Schließlich wechselte sie zum Kino. Riss Karten ab, machte später
selbst Filmvorführungen.
„Ich habe mich immer vor den Akten gefürchtet“, erklärt sie „Jemand and…
schreibt da an deiner Biografie – das wollte ich eigentlich gar nicht
sehen.“ Schon kurz nachdem sie ihre Stasi-Akte beantragte, erhält sie einen
Anruf. Sie könne nun Einsicht bekommen, solle aber Zeit mitbringen, es sei
viel Material. „Das war der erste Schock, bei dem ich überlegt habe, ob ich
überhaupt hingehen soll“, erinnert sich Callenius.
Es sind mehrere Ordner, die da auf sie warten. Darin: Fotos, Aufzeichungen
über einen geplanten Anwerbeversuch, Protokolle einer Hausdurchsuchung bei
ihrer Arbeitsstelle. „Was mich im Nachhinein wirklich schockiert hat, war,
dass mich zum Beispiel Leute verfolgt haben. Wir haben immer versucht, uns
unser Leben nicht kaputtmachen zu lassen – auf die Gefahr hin, dass jemand
mitschreibt. Dass es mich fast erwischt hätte, war mir nicht klar. Reiner
Zufall, dass ich nicht hopsgegangen bin“, resümiert sie. „Im Nachhinein
habe ich Angst bekommen. Ich habe lange gebraucht, um damit fertig zu
werden.“
Die Repression begann nicht bei der Stasi
Wie die drei Ostberliner*innen die bisherige Aufarbeitung des
DDR-Geschichte einschätzen? „Wir sind noch überhaupt nicht beim Aufarbeiten
angekommen, wir sind noch am Verdauen. Das ist alles noch so nah dran, und
so viele, die sich mit der Aufarbeitung beschäftigen, sind unmittelbar
davon betroffen“, erklärt Callenius.
Für Arno Polzin besteht eine Schieflage darin, dass die Aufarbeitung sich
auf die Stasi konzentriert, während andere gesellschaftliche Institutionen
nicht ausreichend in den Blick genommen werden: „Die Repression begann
nicht bei der Stasi, sondern bei der Vergesellschaftung des öffentlichen
Raums. An der Schule gab es die Pioniere, die FDJ, in der Lehre die
Gesellschaft für Sport und Technik, dann stand der Beitritt zu Gewerkschaft
und Partei im Raum, für Jungen die Wehrpflicht, die deutsch-sowjetische
Freundschaft und was da noch so alles war. Wer hier auffällig wurde, geriet
bereits durch diese Institutionen unter Druck.“
Karla Sachse erinnert sich an die 1990er Jahre: „Alles in unserem Leben
musste neu sein, von der Krankenkasse bis zur Verpackung des Zuckers. Für
sehr viele Leute war das eine extreme Überforderung. Und dass uns gesagt
wurde, wie wir so waren, wie stark wir gelitten hätten und wie bescheuert
wir gewesen sein mussten, nicht in den Westen zu gehen, hat viele
verprellt. Dass unser Leben vielschichtig und kreativ war, und zwar nicht
nur, um Schnitzel zu essen und Autoreifen zu bekommen, wird erst langsam
sichtbar.“
15 Jan 2020
## LINKS
[1] /Friedliche-Wende-in-der-DDR/!5628564
[2] /Kartenspiel-ueber-Stasi-Erstuermung/!5651331
[3] /Promovierte-DDR-Altkader/!5652727
## AUTOREN
Franziska Schindler
## TAGS
30 Jahre friedliche Revolution
Schwerpunkt Überwachung
DDR
Sturm
Stasi
Stasi-Unterlagen
Wende
Stasi-Gedenkstätte
DDR
Stasi
Stasiunterlagenbehörde
Lübeck
Stasi
30 Jahre friedliche Revolution
## ARTIKEL ZUM THEMA
Mit System durch die Ex-Stasi-Zentrale: Orientierung im Stasi-Labyrinth
Das Gelände der Ex-Stasi-Zentrale in Lichtenberg ist so gigantisch wie
unübersichtlich. Ein neues Wegeleitsystem verspricht, nun Abhilfe zu
schaffen.
Jahrestag Erstürmung der Stasi-Zentrale: 178 Kilometer Akten
Am 15. Januar 1990 kam es zum Sturm auf die Zentrale der Staatssicherheit
der DDR in der Normannenstraße. Daran und an die Folgen erinnert ein Video.
Verfallendes Stasi-Gelände: Vermodernde Geschichte
Mit der Erstürmung der Stasi-Zentrale war 1990 die Staatssicherheit
Geschichte. Teile des Areals werden seitdem sich selbst überlassen.
Aufarbeitung von Stasi-Unterlagen: Puzzeln für die Geschichte
Vor dreißig Jahren wurde die Stasi-Zentrale in Berlin gestürmt. Die zuvor
geschredderten Akten werden noch immer rekonstruiert. Stück für Stück.
Frauenbeauftragte über Ost und West: „Es gibt noch Befindlichkeiten“
1987 schlossen Lübeck und Wismar eine Städtepartnerschaft – da dachte
niemand an die Wende. Ein Gespräch über gefühlte Nähe trotz Trennung.
Promovierte DDR-Altkader: Doktor Stasi
MfS-Offiziere sollen ihre Vergangenheit kennzeichnen, meint der
Stasi-Beauftragte Jahn. Was nach einem Gag klingt, hat einen ernsten
Hintergrund.
DDR-Geschichte in der Nachwendezeit: Die Leerstelle im Unterricht
Die DDR ist Geschichte. An vielen ostdeutschen Schulen verschwand für
einige Zeit der Unterricht über das Land. Warum?
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.