# taz.de -- Aufarbeitung von Stasi-Unterlagen: Puzzeln für die Geschichte | |
> Vor dreißig Jahren wurde die Stasi-Zentrale in Berlin gestürmt. Die zuvor | |
> geschredderten Akten werden noch immer rekonstruiert. Stück für Stück. | |
Bild: Allein mit den Schnipseln: Aktenüberreste in der ehemaligen Berliner Sta… | |
Es sind 16.000 braune Säcke. Gefüllt mit Papier, zerrissen, zerhäckselt, | |
zerstört. Unterlagen, die Menschen vor ziemlich genau dreißig Jahren in der | |
Berliner Stasi-Zentrale und ihren Außenstellen zusammengefegt und | |
sichergestellt haben. Die Überbleibsel von vier Jahrzehnten Irrsinn, in | |
denen der Staatssicherheitsdienst der DDR Informationen über die | |
Bürger*innen seines Landes gesammelt, notiert und fein säuberlich in | |
Aktenordnern abgeheftet hatte. Um am Ende seiner Existenz so viel wie | |
möglich davon zu verbrennen, zu häckseln, zu schreddern oder teils per Hand | |
zu zerreißen. | |
In diesen 16.000 braunen Säcken steckt die Arbeitsgrundlage von Andreas | |
Loder und seinen Kolleg*innen, die man in der Behörde für | |
Stasi-Unterlagen „Manuelle Rekonstruktion“ nennt. Projektleiter Loder steht | |
in Hemd und Pullunder zwischen zwei Schreibtischen, auf denen bereits | |
vorsortierte Papierfetzen liegen. „Zum Großteil stecken in den Säcken | |
einfach oder zweifach zerrissene Seiten, die wir sichten, kombinieren und | |
wieder zusammenkleben“, erklärt er in nüchternem Bürokratenton. 500 Säcke | |
haben die Angestellten seit 1995 wieder zusammengesetzt, in einem | |
Vierteljahrhundert kaum überschaubarer Puzzlearbeit. Bleiben noch 15.500. | |
In einem Sack mit der Aufschrift „maReko“ stecken um die 3.000 Seiten. | |
Karteikarten, Notizzettel, Plakate, größtenteils aber | |
Schreibmaschinenseiten im A4-Format. Die zerrissenen Fragmente müssen nicht | |
unbedingt zusammengehören. Sie können auch auf mehrere Säcke verteilt sein. | |
Ab und an hat Andreas Loder aber auch Glück: Dann liegen die passenden | |
Fetzen direkt nebeneinander. Stasi-Schnipsel sichten, puzzlen, kleben und | |
für das Archiv abheften, jeden Tag. „Die schiere Masse erschlägt einen | |
manchmal“, sagt Loder trocken. | |
In den Monaten der Friedlichen Revolution, im November und Dezember 1989, | |
nahm die Vernichtung der Akten ihren Lauf. Stasi-Chef Erich Mielke hatte | |
seinen Offizieren befohlen, alle Beweise zu vernichten, die einen Verstoß | |
gegen das Brief- oder Fernmeldegeheimnis belegen könnten. Ebenso sämtliche | |
internen Unterlagen und die Dokumente aus der Auslands- und Militärspionage | |
sowie die Bestände über Ein- und Ausreisen in die DDR. Und natürlich alle | |
sonstigen Berichte, die die Stasi im Nachhinein belasten könnten. Kurzum: | |
die gesamten Akten, die die Stasi je zusammengestellt hat. | |
## Hände statt Reißwölfe | |
In allen Stasi-Behörden liefen die Schredder auf Hochtouren, wochenlang. | |
Lkw-Ladungen mit Akten verließen die Zentrale in Berlin-Lichtenberg und | |
wurden verbrannt, unter Wasser gesetzt, zermahlen. Als die heiß gelaufenen | |
Reißwölfe ihren Geist aufgaben, wurden die Papiere per Hand zerrissen, 40 | |
bis 50 Millionen Seiten. Bis die Frauen und Männer einer Bürgerbewegung auf | |
die Aktion aufmerksam wurden und [1][die Vernichtung stoppten]. | |
Im Dezember 1989 besetzten Frauen die Bezirksverwaltung der Stasi in | |
Erfurt. Ohne zu wissen, ob man ihnen mit Waffengewalt entgegentreten würde. | |
Am 15. Januar 1990 strömten Demonstrierende auf das Gelände der | |
Stasi-Zentrale in Berlin. Was die Bürgerbewegung damals vor der Vernichtung | |
retten konnte, liegt heute säckeweise vor den Mitarbeitenden der manuellen | |
Rekonstruktion. Trophäen des Sturms auf die Stasi-Bastille. | |
Nach der Wiedervereinigung wurde ein Rostocker Pfarrer und späterer | |
Bundespräsident als Sonderbeauftragter für die Stasi-Unterlagen ernannt: | |
Joachim Gauck. Ende 1991 trat das Stasi-Unterlagen-Gesetz in Kraft, das | |
seitdem den Zugang zu den Akten regelt. Das öffentliche Interesse ist bis | |
heute ungebrochen. Im vergangenen Jahr beantragten über 56.000 Menschen | |
Einsicht in die Stasiakten. | |
Dreißig Jahre später stehen zwei Nachfolger von Joachim Gauck auf dem Hof | |
der Stasi-Zentrale: Behördenchef Roland Jahn und Bundespräsident | |
Frank-Walter Steinmeier. Stoisch erdulden sie den Presserummel, binnen | |
Minuten werden mehr Fotos geschossen als in der ganzen historischen | |
Januarnacht von 1990, in der friedliche Revolutionäre Demokratiegeschichte | |
geschrieben haben, wie es Steinmeier in seiner Ansprache formuliert. | |
Der Bundespräsident ist hier, um einen Ort des Widerstands zu würdigen. Um | |
Vergangenheit nicht ruhen zu lassen. Erst lässt er sich einen der acht | |
Archivräume voller Akten zeigen, dann besucht er eine Podiumsdiskussion. | |
Steinmeier spricht mit Schülerinnen und Schülern – und mit Zeitzeugen der | |
damaligen Besetzungen. | |
Vergangenheit aufarbeiten. Das ist das, wofür die Manuelle Rekonstruktion | |
wie ein Sinnbild steht. Auf den Schreibtischen der Aktenpuzzler in den | |
Häusern 7 und 8 der alten Stasi-Zentrale stapeln sich die Papierfetzen. Ein | |
winziger Teil von 500 Millionen. „Die Arbeit ist mühsam, aber wir machen | |
weiter“, sagt Andreas Loder, der Projektleiter. „Die Stasi darf am Ende | |
nicht bestimmen, was wir lesen dürfen und was nicht“, sagt Roland Jahn, der | |
Behördenchef. „Unsere Aufgabe bleibt es, die Unterlagen zu bewahren und | |
Bürgern und Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen.“ | |
Andreas Loder hat zusammengehörige Papierstücke mit einer Büroklammer | |
zusammengeheftet. Die Vergilbung der Seite, die Risskanten, die Schriftart | |
der Schreibmaschine – alles passt zusammen, den Inhalt des Dokuments muss | |
er gar nicht lesen. Das übernehmen später die Archivare nebenan. Sie | |
sichten die geretteten Seiten wie alle anderen Akten, Tonträger und Fotos | |
und bewerten, wie brisant ihr Inhalt ist. Über 90 Prozent von 111 | |
Regal-Kilometern Stasiakten hat das Archiv mittlerweile erschlossen. | |
Loder legt die vier Papierstücke mit der bedruckten Seite nach unten auf | |
eine rutschfeste Matte und beschwert sie mit kleinen Sandsäckchen. Dann | |
glättet er die Fetzen und klebt sie mit speziellen Klebestreifen zusammen, | |
erst in der Mitte, dann an den Rändern. Zum Schluss werden überstehende | |
Klebestreifen mit der Schere gestutzt, bevor das zusammengesetzte Dokument | |
abgeheftet wird. | |
„Man braucht ein bisschen Geschick und natürlich viel Geduld“, erklärt | |
Andreas Loder. „Dann benötigt eine geschulte Kraft für einen Sack etwa ein | |
Jahr.“ Um die zehn Mitarbeiter*innen puzzlen in Berlin, es gibt noch | |
Unterstützung aus Frankfurt (Oder), einem der zwölf weiteren Standorte. Mal | |
helfen dort mehr, mal weniger Leute. Es lässt sich schwer schätzen, wie | |
lange die manuelle Rekonstruktion auf diese Weise und in diesem Tempo wohl | |
dauern wird, und die Unterlagenbehörde verkneift es sich, hierzu Angaben zu | |
machen. Doch mit welchen Zahlen man auch herumknobeln mag, am Ende bleibt | |
die Frage: Lohnt sich die Mühe überhaupt? | |
## Erfolge des Puzzelns | |
Aber sicher, findet Andreas Loder. Es ist sein Job und die Aufgabe der | |
gesamten Behörde, wenigstens ein kleines bisschen von dem gigantischen | |
Unrecht der Stasi aufzuarbeiten. Den Opfern dabei zu helfen, zu ihren | |
Geschichten zu kommen. | |
Der Puzzlearbeit ist zu verdanken, dass staatliches [2][Zwangsdoping] an | |
Minderjährigen im Leistungssport belegt werden kann. Sie hat Dokumente der | |
Verfolgung prominenter DDR-Oppositioneller – Jürgen Fuchs, Robert Havemann, | |
Stefan Heym – wiederhergestellt. Zu den großen Funden zählen auch die Akten | |
über die untergetauchte RAF-Terroristin Silke Maier-Witt. | |
Doch für die manuelle Rekonstruktion eignen sich nur die grob zerrissenen | |
Seiten. Ob die in kleinere Schnipsel zerfetzten Seiten einen brisanteren | |
Inhalt haben, kann man bislang nur vermuten. Eine Computersoftware könnte | |
es mit der Puzzelei aufnehmen. Für ein paar Jahre lang tat das auch eine | |
Technik des Fraunhofer-Instituts. | |
Dessen „ePuzzler“ stellte in einem Testlauf rund 91.000 Seiten aus 23 | |
Säcken wieder her. Das Programm erkannte auf gescannten Seitenfragmenten | |
Merkmale wie Kontur, Beschriftung, Linienverläufe oder Papierfarbe und | |
setzte sie zu vollständigen Dokumenten zusammen. | |
## Aufwendiges Scannen | |
„Die Software läuft an sich hervorragend“, sagt Bertram Nickolay vom | |
Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen. „Sie hat es mit der | |
wahnsinnigen Menge an Fragmenten im Stasi-Archiv aufgenommen und dafür | |
nicht umsonst den Europäischen Innovationspreis bekommen“. | |
Weiterentwicklungen des ePuzzlers sind bei der Wiederherstellung der | |
Bestände des eingestürzten Kölner Stadtarchivs im Einsatz. In Hannover | |
retten sie gerade zerschnittene Handschriften von Gottfried Wilhelm | |
Leibniz, doch für die Stasi-Schnipsel wurde die digitale Aufarbeitung 2013 | |
eingestellt. | |
Zwar war man auch dort von der Software überzeugt. Aber das Scannen selbst | |
war zu aufwendig. Jeder Zettel musste aus einem Sack herausgenommen, | |
gesäubert, geglättet und in Folie gepackt werden, um die Geräte nicht zu | |
beschädigen. Für die Menge der Schnipsel in 16.000 Säcken viel zu | |
umständlich. | |
Vor vier Jahren hat die Behörde noch mal 2 Millionen Euro zur Verfügung | |
gestellt bekommen, um die digitale Rekonstruktion zu verbessern. Und das | |
Fraunhofer-Institut hat neue Scanner und Konzepte vorgelegt, darunter eine | |
Scanstraße, mit der sich 50 Säcke Schnipsel im Jahr zusammensetzen ließen. | |
Bis die Technik jedoch so weit ist, dass die übrigen Säcke nur in riesige | |
Trichter gekippt und unten die fertigen Seiten ausgespuckt werden, muss die | |
Behörde noch warten. | |
18 Jan 2020 | |
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## AUTOREN | |
Philipp Brandstädter | |
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