| # taz.de -- Stasi-Mann vor Gericht: Mord am Tränenpalast | |
| > Erstmals steht wieder ein ehemaliger Stasi-Mitarbeiter vor Gericht. Ihm | |
| > wird heimtückischer Mord an einem Polen im Jahr 1974 vorgeworfen. | |
| Bild: Der Angeklagte Kriminalgericht Moabit in Berlin am 14. März | |
| Berlin taz | Der Andrang ist groß, der Saal im Kriminalgericht Moabit voll: | |
| Hier wird seit langem wieder ein Stück deutsch-deutsche Geschichte | |
| verhandelt, nachdem vor knapp zwanzig Jahren die letzten | |
| Mauerschützenprozesse zu Ende gegangen waren. Ein 80-jähriger ehemaliger | |
| Mitarbeiter des [1][Ministeriums für Staatssicherheit] muss sich wegen | |
| heimtückischen Mordes verantworten. | |
| Die Staatsanwaltschaft beschuldigt den inzwischen 80-jährigen Angeklagten | |
| aus Leipzig, vor fast genau 50 Jahren, genauer: am 29. März 1974, einen | |
| polnischen Staatsbürger „aus einem Versteck heraus“ tödlich in den Rücken | |
| geschossen zu haben, als dieser am Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße in | |
| den Westen ausreisen wollte. | |
| Der 38-jährige Czesław Kukuczka war demnach zuvor mit einer Bombenattrappe | |
| in der polnischen Botschaft in Ost-Berlin erschienen und hatte mit einem | |
| Anschlag gedroht, sollte er keine Ausreisegenehmigung in den Westen | |
| erhalten. Daraufhin soll die Stasi entschieden haben, dem Polen die | |
| Ausreise zu genehmigen, so die Staatsanwaltschaft. Einsatzkräfte der Stasi | |
| sollen dem Ausreisewilligen die nötigen Papiere ausgestellt und ihn zum | |
| Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße begleitet haben. | |
| Gleichzeitig soll die Stasi den Angeklagten, der einer sogenannten | |
| „Operativgruppe“ angehörte, aber mit der „Unschädlichmachung“ von Kuk… | |
| beauftragt haben. Als dieser am Sektorenübergang ankam, ließen ihn die | |
| DDR-Grenzbeamten auch passieren, laut Anklageschrift „unter Vorspiegelung, | |
| dass ihm die Ausreise gestattet wurde“. Als er sich schon hinter dem | |
| letzten Kontrollpunkt befand, erschoss der Angeklagte Kukuczka von hinten, | |
| so die Anklage. Der Pole wurde in ein Krankenhaus gebracht, wo er kurz | |
| darauf seinen Schussverletzungen erlag. | |
| ## Landen bald noch mehr Fälle vor Gericht? | |
| Der Angeklagte schweigt, seine Verteidigerin erklärte, ihr Mandant | |
| bestreite den Tatvorwurf. Ein Sohn des getöteten Czesław Kukuczka sowie | |
| dessen Schwester treten im Prozess als Nebenkläger auf. Zum Prozessauftakt | |
| am Donnerstag wurden zunächst zwei Zeugen gehört: Ein Kriminalbeamter, der | |
| den Fall zuletzt zur Anzeige brachte, sowie eine ehemalige Schülerin, die | |
| sich zum Tatzeitpunkt auf Klassenfahrt und somit am Tatort, dem | |
| Tränenpalast an der Friedrichstraße befand. | |
| Auch 50 Jahre nach dem für sie traumatisierenden Geschehen sehe sie den | |
| Vorfall noch bildlich vor sich, erklärt die Zeugin den drei Richtern und | |
| zwei Schöffen, die über den Fall urteilen. Gefragt, ob sie außer einigen | |
| Klassenkameraden und ihren Eltern noch weiteren Personen von dem Erlebten | |
| an der Berliner Grenze erzählt habe, antwortet die inzwischen über | |
| 60-Jährige: „Mit so einer Geschichte geht man nicht hausieren.“ | |
| In dem Fall wurde zwar schon mehrmals ermittelt, doch erst 2016 brachten | |
| neue Erkenntnisse aus [2][dem Stasi-Unterlagen-Archiv] den Stein wieder ins | |
| Rollen, und die Staatsanwaltschaft nahm ihre Ermittlungen wieder auf. | |
| Zuerst war sie nur von einem Totschlag ausgegangen, der allerdings nach | |
| spätestens 30 Jahren verjährt. Mord dagegen verjährt nicht, und so konnten | |
| die Staatsanwälte den mutmaßlichen Stasi-Schützen nun knapp 50 Jahre nach | |
| der Tat mit einem Mord-Vorwurf anklagen. | |
| Der Prozess holt damit nicht nur allgemein die systematischen Verbrechen | |
| des DDR-Regimes wieder ans Licht und an die breite Öffentlichkeit, sondern | |
| könnte auch über die zahlreichen, vor 20 Jahren zu Ende gegangenen | |
| Mauerschützenprozesse hinaus zu weiteren Ermittlungen und neu aufgerollten | |
| Fällen führen. Das hofft jedenfalls Martin Heger, Professor für Straf- und | |
| Strafprozessrecht an der Humboldt Universität Berlin. Er setzt dabei auch | |
| auf die Forschung, die über 30 Jahre nach dem Mauerfall immer weitere | |
| Dokumente zugänglich macht. | |
| ## Klarer Mord? | |
| Der Fall sei aber gänzlich anders gelagert als die in den 1990er und 2000er | |
| Jahren viel beachteten und diskutierten Mauerschützenprozesse, in denen | |
| zumindest noch mit einem Narrativ von Grenzschutz seitens der DDR | |
| argumentiert worden und den Flüchtenden ihre Gefahr durchaus bewusst | |
| gewesen sei. „Im aktuellen Fall wollte man aber einen Menschen schlicht | |
| ermorden, weil er das Land verlassen wollte“, so der Berliner Jurist. | |
| Anders als in den Mauerschützen-Fällen, die der BGH größtenteils als | |
| Totschlag einstufte, handele es sich hier um einen Paradefall des | |
| Heimtücke-Mordes. „Heimtückischer geht es nicht“, erklärt Heger mit | |
| Hinblick auf die Arg- und Wehrlosigkeit, in der sich Czesław Kukuczka | |
| befand, als der Angeklagte ihn ohne Vorwarnung von hinten erschoss. | |
| Die Berliner Staatsanwaltschaft beruft sich in ihrer Anklage zunächst auf | |
| den Mord-Paragraphen aus dem DDR-Strafgesetzbuch, der für einen | |
| Heimtücke-Mord sogar die Todesstrafe vorsah. Mit der Wiedervereinigung | |
| wurde allerdings geregelt, dass das bundesdeutsche Strafgesetzbuch mitsamt | |
| seinen Rechtsfolgen auch auf Straftaten aus DDR-Zeiten Anwendung findet. | |
| Und qua Grundgesetz ist die Todesstrafe in der BRD verboten, der Angeklagte | |
| muss also im Falle einer Verurteilung maximal mit einer lebenslänglichen | |
| Haftstrafe rechnen. | |
| Wegen seiner großen zeitgeschichtlichen Bedeutung wird der Prozess | |
| aufgezeichnet. Aufgrund dieses besonderen Umstands musste der Prozess extra | |
| in einen besonders großen Saal im Keller des Gerichts an der Turmstraße | |
| verlegt werden. Für den Prozess sind nun erst einmal noch sechs weitere | |
| Verhandlungstage angesetzt, in denen unter anderem noch ein Experte aus dem | |
| Bundesarchiv für Stasi-Unterlagen sowie ein Gerichtsmediziner als Zeugen | |
| gehört werden sollen. Ein Urteil könnte dann am 23. Mai gesprochen werden. | |
| 14 Mar 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Paula Schöber | |
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