# taz.de -- Fotoausstellung in Braunschweig: Ein Rahmen für das Selbst | |
> Auf der Suche nach Identität: In der Halle 267 setzen sich | |
> Fotograf*innen mit Lebenswelten der „Generation Y“ auseinander. | |
Bild: Technisch versierter Protest: Sebastian Wells hat in Hongkong Demonstrier… | |
BRAUNSCHWEIG taz | Generation Y, Englisch ausgesprochen mit der Konnotation | |
„why“, warum, bezeichnet in der Soziologie [1][die Gruppe der in den | |
1980er- und 1990er-Jahren Geborenen], denen allen ein natives Interesse an | |
und die technische Vertrautheit mit digitalen Medien unterstellt wird. | |
Ansonsten ist diese Gruppe wohl genauso heterogen wie andere | |
Alterskohorten. | |
In Deutschland und Europa lassen sich vielleicht noch geänderte Situationen | |
im beruflichen Bereich zuordnen, hier eher unsichere, befristete oder | |
prekäre Erwerbsmodelle, eine Ausweitung der „Generation Praktikum“ auch in | |
nicht akademische Milieus. Daraus mögen spezielle Lebensmodelle und | |
Weltsichten für die nun über 20- und bis unter 40-Jährigen erwachsen sein. | |
Die beiden Kuratorinnen am Braunschweiger Museum für Photographie, Anne | |
Wriedt und Franziska Habelt, sind selbst aus dieser Generation. So lag es | |
nahe, dass sie einmal eine Gruppenausstellung mit zehn | |
Alterskolleg*innen zusammenstellen, die darüber hinaus internationale | |
Perspektiven und ganz unterschiedliche Gebrauchsweisen des Fotografischen | |
widerspiegeln. | |
Gleich am Eingang empfängt eine Fotoserie von Anna Tiessen. Sie wurde 1993 | |
in Dithmarschen geboren, lebt und arbeitet in Berlin. Ihr jüngerer Bruder | |
hingegen ist auf dem Lande geblieben und hat den elterlichen Hof | |
übernommen. Wie lebt es sich also dort für eine mittelalte Person? | |
Tiessen hat ihren Bruder eine Weile fotografisch verfolgt und ist in eine | |
rustikale Männergemeinschaft eingetaucht, deren Interessen, neben der | |
Arbeit, im kollektiven Autoschrauben und Saufen zu bestehen scheinen. Aber | |
es gibt auch eine handfeste Solidarität, etwa wenn einem Bauern die | |
Heu-Ernte zu verregnen droht. Dann packen alle mit an, organisiert in | |
Whatsapp-Gruppen. Und so ist das Smartphone dort, und in Tiessens | |
Fotografien, genauso präsent wie in urbanen Milieus, erfüllt vielleicht gar | |
existenziellere Funktionen als andernorts. | |
Mit präzisem dokumentarischem Blick, wie der von Tiessen und weiteren | |
Teilnehmer*innen der Ausstellung an der Berliner Ostkreuz-Schule | |
geschärft, hat Sebastian Wells [2][Protestierende in Hongkong] begleitet. | |
Zwei große Bildtapeten, etwa von einer Gruppe | |
Regenschirm-Aktivist*innen, spannen einen atmosphärischen Raum auf, | |
dem Porträts Einzelner individuelle Gestalt geben. Der 1996 bei Berlin | |
geborene Wells ist seit einem Jahr Mitglied der Fotografenagentur Ostkreuz, | |
bezeichnet sich selbst als fast überall zu Hause und ist für internationale | |
Medien unterwegs. | |
Sehr subjektiv mit sich selbst beschäftigt sind Maik Gräf und Harry | |
Hachmeister. Gräf geht es um seine queere Existenz, derer er sich mit | |
Verweisen auf die Kunstgeschichte versichern will. Aber sowohl die | |
Bildbeispiele klassischer Skulptur als auch Aufnahmen seines eigenen | |
Körpers zeigen vielfältige Beschädigungen und Verletzungen. | |
Seine analoge Fototechnik mit großformatigen Handabzügen, oft auf | |
überaltertem Material, verleiht den Bildwerken surreale Brechungen. Hier | |
will er sich ganz offensichtlich auf seinen geistigen Mentor Roland Barthes | |
beziehen, der im „Punctum“ ein Moment eines guten Fotos sah, das die | |
Betrachtenden besticht, verwundet, trifft. Das grundsätzliche Gleichgewicht | |
des Bildes hätte hingegen das „Studium“ zu leisten, die sorgfältige Hinga… | |
an ein Thema. | |
Hachmeister, vor zwei Jahren Stipendiat an der Hochschule für bildende | |
Künste Braunschweig, hadert wohl noch stärker mit seiner Existenz, sieht | |
seinen Körper als „kleine Missgeburt“, die ihn verwirrt und Rätsel aufgib… | |
Seine verstörende Wandinstallation kombiniert entblößende Selbstbildnisse | |
mit Zeichnungen und Malerei, er benennt die schonungslose Direktheit einer | |
Nan Goldin und Wolfgang Tillmans als sein Vorbild. | |
Min Kim wurde 1982 in Korea geboren und studiert seit 2015 freie Kunst an | |
der HbK Braunschweig. Sie setzt sich mit Schönheitsidealen ihrer Heimat | |
auseinander, dazu gehört etwa das auffällige Make-up für Frauen. Sie lehnt | |
dies ab, möchte so sein und erkannt werden, wie sie ist. | |
Für eine Foto- und Video-Aktion bat sie 22 Kolleg*innen aus Berlin und | |
Braunschweig, sich auf einem Trampolin hüpfend grellbunt zu schminken. Die | |
Maquillage geriet entsprechend aus den Fugen, danach bat sie alle zum | |
kleinformatigen Passfoto. Ein solches müsse sie ja jedes Jahr der | |
Ausländerbehörde vorlegen, sagt sie, sicherlich würde ein derart | |
verunglückt geschminktes Konterfei abgelehnt werden. Was aber ist dann | |
Aussehen? | |
Der optische Auftritt einer Person beschäftigt auch die 1984 geborene | |
Japanerin Rie Yamada. Sie lebt in Berlin, hat für ihre Arbeit aber eine | |
Marriage-Hunting-Party in Japan besucht. Diese direkte Kontaktbörse ist | |
beliebt bei gut situierten heiratswilligen jungen Männern, die sich | |
anbietende Partnerinnen aber recht einseitig nach ästhetischen Kriterien | |
beurteilen. | |
Yamada drehte den Spieß um: Mit einer verdeckten Kamera hat sie beim Dating | |
alle rund 40 ihr gegenübersitzenden Männer fotografiert. Für ihre | |
interaktive Projektion, die im Spiegel an einem Toilettentischchen verfolgt | |
werden kann, ist sie in die Rolle jedes Mannes geschlüpft, perfekt mit | |
Perücke, Brille und Garderobe nachgestellt. Nun stehen also sie zur | |
kritischen Auswahl. | |
Ein beliebter Vorwurf an die Generation Y lautet ja, sie sei zu wenig | |
politisch, nur mit individuellen Prioritätensetzungen beschäftigt. „Das | |
Private ist politisch und das Politische ist privat“: So sahen es Spontis, | |
die zweite Frauenbewegung und Alice Schwarzer in den 1970er-Jahren. Machen | |
die zehn Fotokünstler*innen somit alles richtig? | |
18 Jan 2020 | |
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## AUTOREN | |
Bettina Maria Brosowsky | |
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