# taz.de -- Neue Bücher über die Folgen der Wende: Kluge Köpfe zum Erzählen… | |
> Kowalczuk und Mau sind ostdeutscher Herkunft. Sie gehen der Frage nach, | |
> wie aus dem Momentum des Aufbruchs ein Gefühl des Scheiterns werden | |
> konnte. | |
Bild: Kita Lütten Klein in der Stockholmer Straße 1976 | |
Als vor kurzem [1][Sigmund Jähn starb], entbrannte medial eine hitzige | |
Debatte darüber, ob der erste Deutsche im All und einstige Generalmajor der | |
Nationalen Volksarmee überhaupt zum Helden tauge. Im Ostberliner Roten | |
Rathaus war gerade erst das Kondolenzbuch für den – fast ausschließlich im | |
Osten prominenten – Verstorbenen ausgelegt, da schrottete der Historiker | |
[2][Ilko-Sascha Kowalczuk] mit einem grimmigen Text im Tagesspiegel das | |
zart erblühende Wirgefühl. | |
„Sigmund Jähn verkörperte das DDR-System“, schrieb Kowalczuk. Deshalb tau… | |
der – als Person zweifellos bescheidene, als propagandistische Erzählfolie | |
jedoch stets zu Diensten gewesene – Mann nicht zum Vorbild. Im Gegenteil, | |
Jähn sollte vielmehr „als Anschauungsbeispiel dafür dienen, dass | |
sympathische, leise, bescheidene Menschen trotzdem eine | |
menschenverachtende, laute, gewaltvolle Diktatur stützen und verteidigen | |
können“. | |
Es war ein klassischer Kowalczuk-Text: meinungsstark, pointiert, | |
faktengesättigt. Dieser publizistische Angang, das Politische stets auch | |
persönlich zu spiegeln und zu brechen, eignet in diesem Wendeherbst-Jahr | |
gleich zwei aktuellen Sachbüchern. Mit „Die Übernahme. Wie Ostdeutschland | |
Teil der Bundesrepublik wurde“ zieht Ilko-Sascha Kowalczuk eine sehr | |
lesenswerte Bilanz, was in diesen Wendewirren tatsächlich passiert ist. Und | |
er geht der Frage nach, auf welche Weise sich der Osten bis heute vom | |
Westen unterscheidet und warum zwischen Suhl und Saßnitz Populisten und | |
Extremisten so erfolgreich sein können. | |
In zwölf Kapiteln schreitet Kowalczuk die Bereiche des Umbruchs ab: vom | |
„Letzten Jahr der DDR“ über „Die soziale Katastrophe“ Anfang der Neunz… | |
den Elitenaustausch, die Abwanderung bis hin zum „unverstandenen Osten“. Er | |
schmeichelt niemandem, leistet sich widersprüchliche Haltungen und Gefühle | |
und unterlegt das Behauptete mit unzähligen Fakten. | |
## Frustrierter Zufriedener oder glücklicher Enttäuschter | |
Das zweite Buch kommt von dem Rostocker [3][Steffen Mau]. In „Lütten Klein“ | |
beschreibt der Soziologe das „Leben in der ostdeutschen | |
Transformationsgesellschaft“. Der 50-Jährige begnügt sich nicht mit der ja | |
im Grunde hinlänglich bekannten Geschichte des Mauerfalls und der | |
Schilderung jener Umbrüche, Einschnitte und Verletzungen, die den | |
Ostdeutschen mittlerweile als „Lebensleistung“ in Rechnung gestellt werden | |
und die ihnen das Gefühl vermitteln mögen, sie hätten damals, 1990, schon | |
die richtige Entscheidung getroffen. Nein, Mau zieht das Bild deutlich | |
größer. | |
„Die Bilanz der Einheit“, schreibt er gleich zu Beginn, „ist nicht nur | |
durchwachsen, sie ist auch widersprüchlich. Selbst Individuen wirken oft | |
innerlich gespalten, wenn man sie auffordert, ihre persönliche Situation zu | |
schildern – manch einer entpuppt sich gar als frustrierter Zufriedener oder | |
als glücklicher Enttäuschter.“ | |
Ebenso wenig, das stellt er klar, wolle er sich an jenem Schulterklopfen | |
beteiligen, „dem sich alle Jubeljahre die Führungskräfte dieses Landes | |
hingeben und dabei übersehen, dass viele Probleme in Ostdeutschland nicht | |
nur Erblasten des Staatssozialismus sind, sondern im Zuge der Vereinigung | |
und Transformation reproduziert, verstärkt oder gar hergestellt wurden“. | |
Wäre der umstrittene Sigmund Jähn nicht vor Erscheinen von „Lütten Klein“ | |
verstorben, läge die Idee nahe, auch Mau unternehme hier den Versuch, die | |
Widersprüchlichkeit des realsozialistischen Menschen an dessen Person zu | |
erklären. | |
## Politische Teilhabe unerwünscht | |
Die DDR, darauf besteht Mau und das belegt er auch, war demnach nicht nur | |
ein repressives Land, dessen BürgerInnen am Ende dieses 40 Jahre währenden | |
Sozialismusprojekts mehrheitlich in nischenbasierte Lethargie verfallen | |
waren. Politische Teilhabe war bis zum Oktober 1989 weder erwünscht noch | |
führte sie zu Veränderungen. Aber die DDR war eben auch für jene, die dort | |
gelebt haben, eine Gesellschaft weitgehender Unterschiedslosigkeit. | |
Das Gleichsein wurde dann nach dem Fall der Mauer sozial, kulturell und | |
marktwirtschaftlich in sein glattes Gegenteil gedreht. Der Osten – in dem | |
der Bezirksparteisekretär neben der Krankenschwester wohnte, der | |
hauptamtliche Stasi-Mitarbeiter im selben Haus wie der Pfarrer – sei durch | |
die deutsche Einheit zu einer „fraktionierten Gesellschaft“ geworden. | |
Leute, die erfahren hatten, dass Geld nicht die entscheidende Rolle spielt | |
in ihrem Leben, waren plötzlich angehalten, sich als fitte Marktteilnehmer | |
zu verstehen. | |
Der ganze historische Vorgang war zugleich verstärkt von unzähligen | |
Endpunkten, ökonomischen und damit immer auch persönlichen Niederlagen. | |
Treuhand, Management-Buy-out, Übernahmen – man kennt die Geschichten. Aber | |
will man sie noch hören? Ist es nicht mal gut langsam? Nein, ist es nicht. | |
Mau erklärt, warum das Vergangene nicht vergehen kann, solange es in eine | |
gespaltene Gesellschaft führt. | |
Der Ort, an dem Steffen Mau sein Stück DDR erfahren hat, heißt Lütten | |
Klein. Das Neubauviertel in Rostock ist ein betongewordenes Zeugnis dieser | |
Idee von Gleichheit und Fürsorge durch einen Staat, von dem seine Gründer | |
gehofft hatten, jeder und jede würde sich ihm anvertrauen wollen. Lütten | |
Klein ist eine jener am Reißbrett entworfenen Idealstädte, in denen Arbeit | |
und Leben der sozialistischen Menschengemeinschaft ihren Platz finden | |
sollten. 26.000 Menschen lebten dort, heute sind es noch 17.000. | |
Man hat die Namen dieser mittlerweile mitunter als Unorte begriffenen | |
Städte im Ohr: Hoyerswerda, Eisenhüttenstadt, Schwedt an der Oder, | |
Halle-Neustadt. Es sind heute Gegenden, die mit ihrem harten Image zu | |
kämpfen haben – Mau verwahrt sich ausdrücklich gegen abfällige | |
Bezeichnungen wie Platte, Fickzelle, Arbeiterschließfach. Zu ihrer Zeit | |
waren die Neubaugebiete gelebte Moderne für arbeitende Menschen mit Kindern | |
und Interessen. Heute werden dort die sozialen Ränder vermutet – was nicht | |
zwangsläufig stimmt. Schon gar nicht in einer Stadt am Meer wie Rostock. | |
Mau ist in Lütten Klein zur Schule gegangen, er hat dort seine Kindheit und | |
Jugend verbracht, in den achtziger Jahren nahm ihn ein Freund mit zu einem | |
Gottesdienst, den ein gewisser Joachim Gauck abhielt. Und als die Zeiten | |
unruhig wurden, schob Mau als NVA-Soldat Wache vor der Kaserne in | |
Schwerin. Mittlerweile ist er Professor an der Humboldt-Universität in | |
Berlin. | |
Auch Ilko-Sascha Kowalczuk hat es beruflich geschafft. Geboren 1967 in | |
Ostberlin, gehört er jener Generation an, die durch das Ende der DDR | |
tatsächlich befreit worden sind. Viele in den sechziger Jahren geborene | |
Ostdeutsche sind Nutznießer dieser historisch einmaligen Situation. Sie | |
sind es auch, die authentisch Kunde tun können vom Gewesenen und | |
Erfahrenen. | |
Auch wenn sich drei Jahrzehnte danach manche Erinnerung verschoben, | |
verdunkelt oder vergoldet haben mag – diese Gesellschaft muss eine | |
respektable sein, die kluge Köpfe wie Mau und Kowalczuk nicht nur | |
hervorgebracht, sondern auch zum Erzählen ermächtigt hat. | |
20 Oct 2019 | |
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## AUTOREN | |
Anja Maier | |
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