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# taz.de -- Spielfilm „Letzter Abend“: Bis die Fetzen fliegen
> Der preisgekrönte Film „Letzter Abend“ erzählt von der Verfassung junger
> Bildungsbürger*innen. Dabei spielt Hannover eine heimliche Hauptrolle.
Bild: Eine Feier unter Freunden aus dem Uni-Milieu: Protagonist*innen im Film �…
Man schaut gern zu, wenn eine Feier richtig schön aus dem Ruder läuft. Im
Kino bieten Hochzeiten, Geburtstage, Jubiläen, Weihnachtsbescherungen oder
Silvesterfeten wunderbare Gelegenheiten für tragische und/oder komische
Streitereien. In Hollywood gibt es inzwischen schon ein kleines Subgenre
von Filmen mit Familienschlachten beim Thanksgiving-Truthahn-Essen.
Wer während der [1][Coronazeit] unbedingt einen Film machen wollte, also
nur mit einer möglichst kleinen Kohorte (so hieß das damals) an möglichst
wenigen, abgeschlossenen Drehorten arbeiten konnte, tat gut daran, von
einer solchen Feier zu erzählen. Und genau dies hat Lukas Nathrath, der bis
2019 an der Hamburg Media School Filmregie studierte, in seinem Debütfilm
„Letzter Abend“ auch gemacht.
Und zwar sehr erfolgreich, auch international: Schon 2022 bekam er beim
Filmfest von Locarno den „First Look Award“ und beim Rotterdam Filmfest war
er in der „Tiger Competition“ nominiert. Preise hat er dieses Jahr in
Emden-Norderney und – für die beste Regie – beim Max-Ophüls-Festival
erhalten.
Jetzt kommt der Film also endlich in die Kinos: Erzählt wird vom jungen
Paar Lisa und Clemens. Das hat die besten Freunde eingeladen, weil sie von
Hannover nach Berlin ziehen wollen. Lisa ist Neurologin und hat dort einen
Job an der Charité bekommen. Clemens ist ein erfolgloser Musiker und kommt
einfach so mal mit. Berlin habe zwar auch eine größere Musikszene als
Hannover, vor allem aber gebe es dort „viel mehr Kneipen, in denen ich
kellnern kann“.
Ein witziger und wahrer Satz, der Clemens und sein Verhältnis zu Lisa genau
auf den Punkt bringt. Der Darsteller des Clemens, Sebastian Jakob
Doppelbauer, hat zusammen mit Nathrath das Drehbuch geschrieben und die
Figur als depressive, von Selbstzweifeln zerfressene Künstlerseele ins
Zentrum des Films gestellt. Keine andere Person erscheint so komplex und
lebendig wie er.
Die anderen Figuren wurden zusammen mit den Schauspielern und
Schauspielerinnen entwickelt, von denen viele beim Schauspielhaus Hannover
arbeiten, wo auch Doppelbauer seit 2019 zum festen Ensemble gehört. Und so
agieren sie zwar als Typen, die leicht zu wandelnden Klischees oder
Witzfiguren hätten werden können. Aber da mit ihren Darsteller*innen
jede Figur ein gewisses Mitspracherecht beim Drehbuch bekam, wird diese
Falle geschickt vermieden.
Dabei hat der Film durchaus eine subversiv satirische Schärfe, denn auf der
Party treffen sich gesellschaftlich Bessergestellte, die zur Szene des
neuen Bildungsbürgertums zählen. Der Bruder von Lisa arbeitet in einer
Werbeagentur, ein Freund von Clemens ist Performance-Künstler beim Theater
und die Nachbarin von oben ist eine Medienwissenschaftlerin, die gerade ein
Buch über Selbstdarstellung im Internet schreibt.
Sie hat sich übrigens irgendwie selbst zu der Party eingeladen, und auch
eine junge Städtetouristin, die vergebens einen Freund und ein Bett in
[2][Hannover] sucht, ist ein eher unerwünschter Überraschungsgast. Mit
ihrem woken Sendungsbewusstsein geht sie Lisas eher konservativem
Studienfreund schnell auf die Nerven. Als der dann den Akzent des
österreichischen Freundes von Clemens nachäfft, ist der bald so sauer, dass
er die gesamte Tischrunde als „Piefkes“ beschimpft.
Nathrath nennt als Inspirationsquellen für seinen Film Vorbilder wie „A
Woman Under the Influence“ von John Cassavetes, „Husbands and Wives“ von
[3][Woody Allen] und „Festen“ von Thomas Vinterberg. Aber auch
Theaterstücke wie Anton Tschechows „Drei Schwestern“, in denen alle davon
träumen, nach Moskau zu ziehen, aus der Provinz in die Metropole.
Hier sind es die Hannoveraner, die nach Berlin wollen. Und dieses Thema
wird wie ein Leitmotiv immer wieder im Film angesprochen: Sehr deutlich
verortet sich der Film in Hannover, und die Stadt wird sogar in einem
Liebeslied besungen. Als wahre Lokalpatrioten müssen Nathrath und
Doppelbauer natürlich auch erwähnen, dass es in Berlin keine Band gab oder
gibt, die sich am internationalen Erfolg der [4][Scorpions] aus Hannover
messen kann.
Auch die Pandemie wird immer wieder erwähnt: „Wegen Corona …“ ist da
wiederholt eine bequeme Begründung für eine eher gedankenlose Verweigerung.
Einmal hält Clemens auch eine [5][Gesichtsmaske] in der Hand. Dieser vor
Kurzem noch allgegenwärtige Gegenstand wirkt im Film wie eine Irritation:
Er erinnert an ein inzwischen abgetanes Lebensgefühl. In diesem Sinne ist
„Letzter Abend“, der im Sommer 2020 gedreht wurde, auch ein historischer
Film.
24 Aug 2023
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## AUTOREN
Wilfried Hippen
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Kolumne Poetical Correctness
Krise der Demokratie
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