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# taz.de -- Buch „Wie der Punk nach Hannover kam“: Maß und Mitte des Punk
> Punk in Deutschland war zu Beginn ein Mittelschichtsphänomen. Ein neues
> Buch zeigt, wie deshalb Hannover zu einer Metropole des Punk werden
> konnte.
Bild: Wie der Punk nach Hannover kam? Oft genug mit dem Zug, um vorm Hauptbahnh…
Um das Resümee gleich vorwegzunehmen: Das Foto-Lesebuch „Wie der Punk nach
Hannover kam“ erklärt umfassend, warum die ob ihrer vermeintlichen
Langweiligkeit vielgeschmähte niedersächsische Landeshauptstadt Ende der
1970er zu einem der Punk-Zentren Deutschlands werden konnte. Ähnlich wie
das strukturell vergleichbare Düsseldorf.
Da der Punk in Deutschland zumindest zu Beginn vor allem [1][ein
Mittelschichtsphänomen] war, brauchte er logischerweise vor allem eins: Die
Mitte. In jeder Hinsicht. Erstens musste das Leben in der Stadt mittelmäßig
langweilig sein. So langweilig, dass es nervte, schmerzte und man etwas an
der Situation verändern wollte, aber nicht so öde, dass man schon
kapituliert und sich dem Elend gefügt hatte.
Zweitens durfte die Stadt nicht zu klein sein. Sie musste mindestens eine
mittlere Größe haben. Groß genug, damit sich konkurrierende Szenen bilden
konnten und auch eine [2][Binnendifferenzierung innerhalb des Punks]
möglich war: Politpunks, intellektuelle Kunstpunks, Gossenpunks…
Es musste genügend Möglichkeiten, Lücken und Leerstellen geben, um
unterschiedliche Auftrittsorte für Bands etablieren zu können, Festivals zu
organisieren, Fanzines und sogar ein Platten-Label zu gründen. Und die
Stadt musste immerhin so viel Großstadtflair haben, um auf die
[3][verlorenen Seelen des Umlands] wie ein Magnet zu wirken, ohne jedoch
die Land- und Kleinstadtflüchtlinge wie ein Moloch zu verschlingen.
Als drittes mediokres Punk-Zentrums-Qualifikations-Kriterium musste in der
Stadt vorher musikalisch schon was passiert sein. So mittelviel eben. So,
dass man es ernst nehmen und man dagegen rebellieren, es verachten konnte:
Hannover war, bevor es eine Zeit lang zur Punk-City wurde, eine Kraut- und
Hardrockstadt gewesen. Deswegen lautete die zentrale ästhetische Parole des
Punkaufstandes: „Ohne Scorpions, Jane und Eloy in die 80er Jahre!“
„Wie der Punk nach Hannover kam“ beschreibt in Text und Bild diesen
gitarrensolifreien Aufbruch aus verschiedenen – zumeist streng subjektiven
– Perspektiven.
Die drei Herausgeber Hollow Skai, Klaus Abelmann und Detlef Max stammen aus
dem journalistischen Umfeld. Begonnen haben sie standesgemäß als
Fanzine-Macher. Inzwischen sind sie Buchautoren, Verlagsgeschäftsführer und
Pressesprecher.
Wobei [4][Hollow Skai], der bis heute seinen Punk-Namen trägt, eine
besondere Rolle in der Hannoverschen Punk-Geschichte einnimmt. Zwischen der
Erstellung seines ersten Fanzines in einem der damals noch neuen Copy-Shops
und seiner späteren Tätigkeit als Kultur-Redakteur, unter anderem beim
Stern, liegen vier, fünf Jahre, in denen er eines der wichtigsten deutschen
Punklabels betrieb: „No Fun Records“. Hier erschienen die Tonträger der
hannoverschen Bands Hans-A-Plast, Rotzkotz, Der moderne Man, Bärchen und
die Milchbubis, Mythen in Tüten, UnterRock, Index Sign und 39 Clocks.
Neben den Herausgebern erzählen im Buch vor allem Musiker*innen dieser
Bands ihre persönlichen Hannover-Punk-Storys. Diese Geschichten sind alle
unterhaltsam und amüsant zu lesen. Manche sind kondensierte „Coming of
age“-Stories, manche eher halbironische para-religiöse
Erweckungsgeschichten, die eine oder andere hat auch eine gewisse
Omma-erzählt-von-der-Nachkriegszeit-Qualität: Wir hatten ja nix, also haben
wir Kartoffeln vom Acker geklaut, uns in Glasscherben gewälzt und
Punkrock-Cafés eröffnet.
Gewürzt werden diese Geschichten mit skurrilen Anekdoten, die vom damals
offensichtlich sozial akzeptierten, heute aber doch eher [5][eigenwillig
erscheinenden Sozialverhalten] der Punk-Protagonisten erzählen. Menschen,
die sich drollige Namen gaben wie [6][„Dussel“], „Sperma-Willy“ oder �…
Flamenco“. Oder Bands, die sich wegen der Weigerung des Gitarristen, aus
philosophisch-physikalischen Gründen mehr als einen Ton pro Song zu
spielen, auflösen mussten. Jener Gitarrist übrigens – Rudolf Grimm von
„Bärchen und die Milchbubies“ – wurde nach seiner Punk-Karriere dann ein
renommierter Experimentalphysiker. Er lehrt inzwischen an der Uni
Innsbruck.
Am interessantesten ist das Buch, wenn die historischen Darstellungen
aktuelle Fragen provozieren. Zum Beispiel die nach der [7][Rolle der Frauen
in der Subkultur] und im Musikbusiness. Immerhin bestand die wohl
erfolgreichste Hannoversche Punkband „Hans-A-Plast“ zu drei Fünfteln aus
Frauen.
Noch ungewöhnlicher als dieser Umstand war, dass zwei der Frauen, Renate
Baumgart und Bettina Schröder, die Rhythmusgruppe bildeten, also die damals
selten von Frauen gespielten Instrumente Bass und Schlagzeug bedienten. „In
unseren Songtexten machten wir uns die männliche Sicht auf die Welt zu
eigen und führten sie dann ad absurdum“, schreibt Sängerin Annette
Benjamin. „Dominantes Gebaren wurde von uns lächerlich gemacht. Früher
konnten Männer tun und lassen, was sie wollten. Das wollten wir auch, in
jeder Hinsicht. Wir ermächtigten uns selbst.“
Grade weil Punk zu dieser Zeit in Deutschland ansonsten vor allem von
Männern gespielt wurde, konnte „Hans-A-Plast“ dialektisch klarstellen, dass
Rock’n’Roll kein Herrengedeck sein muss. Unter uns: Schon dafür hat es sich
gelohnt, dass der Punk nach Hannover kam.
24 May 2023
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## AUTOREN
Hartmut El Kurdi
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