# taz.de -- Workshop mit Jürgen Habermas: Längst nicht am Ende | |
> Jürgen Habermas ist mit dem „Tutzinger Löwen“ ausgezeichnet worden und | |
> stellte klar, Philosophie könne weiterhin der Sozialintegration dienen. | |
Bild: Jürgen Habermas wies darauf hin: Lernprozesse sind keineswegs gegen Regr… | |
Es war eine akademische Gala für und mit Jürgen Habermas. Ein Jahr [1][nach | |
Erscheinen von „Auch eine Geschichte der Philosophie“] wurde das Opus | |
magnum gewürdigt, nachdem die Pandemie dies zuvor verhindert hatte. Im | |
Tutzinger Schloss der Evangelischen Akademie im katholischen Bayern vor | |
einem großen Wandbild der einzigen evangelischen bayerischen Königin Marie | |
Therese versammelten sich rund 50 zugelassene Gäste, viele davon ehemalige | |
Doktoranden von Habermas oder Wissenschaftler, die Doktorarbeiten über | |
Habermas geschrieben hatten. | |
[2][Der Gewürdigte] war mitten unter ihnen, und zwar wach, gewitzt und | |
klar. Egal, wer welchen Vortrag hielt, immer war er gefragt. Der inzwischen | |
92-Jährige entledigte sich dann umständlich seines Kopfhörers, ging ein | |
wenig wacklig die Stufen rauf zum Pult, sagte, er sei eben nicht mehr so in | |
Form und demonstrierte dann seinen unveränderten Scharfsinn. Er erfasste | |
blitzschnell strittige Punkte und widersprach häufig. | |
Ob Habermas sich darüber gefreut hat, dass er von der Evangelischen | |
Akademie den „Tutzinger Löwen“ bekam, ist schwer einzuschätzen – der �… | |
ist übrigens kein Bambi der EKD, sondern eine Trophäe für verdienstvolle | |
Weltbürger wie Hildegard Hamm-Brücher, Desmond Tutu oder eben nun für den | |
Starnberger Nachbarn. In jedem Fall kam der [3][Gewürdigte und Geehrte] | |
immer mit dem eigenen Auto – damit er autonom blieb und nach Hause konnte, | |
wenn er wollte. | |
Die Laudatio auf Habermas’ Philosophiegeschichte hielt Jan Philipp | |
Reemtsma, der bereits 2001 den Philosophen bei der Verleihung des | |
Friedenspreises des Deutschen Buchhandels gewürdigt hatte. Damals hatte er | |
die „Anschlussfähigkeit“ von Habermas’ Denken und Forschen hervorgehoben, | |
nun bezeichnete er den „Roman abendländischen Denkens“ als „Eulenflug“… | |
Eule der Minerva kommt von ihrem Flug zurück und berichtet, was sie gesehen | |
hat: eine Erfolgsgeschichte, denn die Menschheit lernt! | |
## Forschritt und Regression | |
Habermas hingegen war mit diesem Bild nicht einverstanden: Sein Buch sei | |
nicht in Abschiedsstimmung verfasst worden, demnach nun eine bestimmte | |
Philosophie an ihr Ende gekommen sei. Sondern als Ermutigung, dass | |
Philosophie weiter dem praktischen Gebrauch von Vernunft und der | |
Sozialintegration dienen könne. | |
Der Befund von Lernprozessen bedeute auch keine teleologische und | |
ungebrochene Fortschrittserzählung, denn sie habe weder Anfang noch Ziel, | |
noch sei dieses Lernen gegen Einbrüche und Regressionen gefeit. | |
Auf der Tagung wurde Habermas’ Opus magnum von vielen Seiten mit Exegesen, | |
Kommentaren und Interpretationen beleuchtet. Wie viel Adorno steckt in | |
Habermas, fragte etwa Stefan Müller-Doohm. Gibt es ein normatives Erbe von | |
Religion im nachmetaphysischen Zeitalter, das als „Ausfallbürgschaft“ bei | |
misslingender Sozialintegration genutzt werden könne, diskutierte der | |
skeptische Religionsphilosoph Thomas Schmidt. | |
Wo bleibt die Ästhetik des Irrationalen, wollte Matthias Bormuth wissen. | |
Ist Habermas’ Buch eine philosophische Therapie der „Ermutigung“, überle… | |
sich Martin Seel. | |
## Biografische Details | |
Viel Scholastik wurde zudem betrieben, beispielsweise über die Dialektik | |
von Genesis und Geltung, über „komprehensive“ Vernunft und solche Dinge. | |
Spannend wurde es immer dann, wenn Habermas in seine Antworten biografische | |
Details einwebte, die man so noch nicht kannte. Etwa, wie er im Januar 1956 | |
im Zug auf dem Weg nach Frankfurt Adornos Stichworte verschlang. Ihn | |
elektrisierte damals der Geist, der aus Adornos Essay und seiner | |
politisch-philosophischen Schriftstellerei in dieser | |
postnationalsozialistischen Zeit wehte. | |
Das war ansteckend, weit mehr als Adornos Musiktheorie und die | |
Hegel-Seminare. Tatsächlich und groteskerweise war Habermas in den | |
Frankfurter Jahren konzeptionell dem jungen Horkheimer viel ähnlicher als | |
Adorno. | |
Über die aktuelle Bedeutung von „vernünftiger Freiheit“ wurde selten | |
gesprochen – ein wenig über die gegenwärtige „demokratische Regression“ | |
(Peter Niesen) in Europa oder „den Kapitalismus“, den es nach wie vor | |
aufzuheben gelte (so der zornige Transzendentalsoziologe Hauke Brunkhorst). | |
## Freiheit des Einzelnen | |
Das Problem der Freiheit des Einzelnen, sich nicht impfen zu lassen, im | |
Konflikt mit der Freiheit aller, die durch den Eigensinn der Abstinenzler | |
eingeschränkt ist, war kein Thema. Dafür wurde viel über Religion | |
diskutiert, was den Patron dann doch am Ende wunderte. | |
Denn er habe doch eigentlich ein normales Philosophiebuch geschrieben, um | |
dem akademisierten Fach seine gesellschaftliche Bedeutung zu | |
vergegenwärtigen. Schon, allerdings hat er seine Philosophiegeschichte ja | |
anhand der Konstellation von „Glauben und Wissen“ aufgezogen. | |
Vielleicht rächte sich ein Ereignis von 2000, an das der „calvinistische | |
Atheist“ Reemtsma erinnerte: Habermas hatte damals Kardinal Ratzinger die | |
Hand gereicht – „so, wie Faust dem Mephisto“. Religiös sei man auf den | |
Knien oder gar nicht! Habermas, der sich als säkularen Philosophen sieht, | |
musste manches Gespenst aus dem Tutzinger Schloss vertreiben. Er tat es | |
noch immer behände und geistreich. | |
29 Oct 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Habermas-neue-Philosophiegeschichte/!5640759 | |
[2] /Beim-Deutsch-Franzoesischen-Medienpreis/!5519317 | |
[3] /Debatte-um-Buchpreis-fuer-Habermas/!5765818 | |
## AUTOREN | |
Jörg Später | |
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