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# taz.de -- Neues Buch über Gegenwartskapitalismus: Wir sind erledigt
> Die Philosophin Nancy Fraser analysiert den Kapitalismus als gefräßiges
> Ungeheuer, das alles verschlingt und zerstört.
Bild: Die Philsophin Nancy Fraser ist in den USA eine wichtige Stimme des Femin…
Das Cover von Nancy Frasers neuem Buch ziert eine Schlange, die sich
selbst auffrisst. Der Kapitalismus, so die Autorin, habe eine kannibalische
Dynamik, er muss alles, und am Ende auch sich selbst verschlingen. Von
Menschen etabliert, sei er eine Fressorgie, „deren Hauptgericht wir selbst
sind“.
Der kraftvolle Titel des Buchs: „Der Allesfresser“. Es sind starke Bilder
und starke Metaphern, mit denen die Philosophin und Feministin Nancy Fraser
von den ersten Seiten an aufs Ganze geht. „Sind wir erledigt und am Ende?“
fragt sie gleich zu Beginn. Sehr viel optimistischer wird der Sound dann
auch nicht mehr.
Die „Allesfresser“-Diagnose ist mehr als ein Sprachbild. Fraser fragt sich,
was der Kapitalismus überhaupt sei. Ihn als bloßes Wirtschaftssystem zu
sehen, würde zu kurz greifen. Er ist ein Wirtschaftssystem, dessen
Besonderheiten darin bestehen, „dass er die ihn strukturierenden sozialen
Beziehungen so behandelt, als ob sie wirtschaftliche wären“.
Kapitalismus heißt also nicht nur „kapitalistische Wirtschaft“, sondern
„kapitalistische Gesellschaft“. Was wie Wortklauberei erscheinen mag, ist
keineswegs trivial. Der Kapitalismus frisst sich überall rein, frisst sich
überall durch, ist eine Art Krebs. Er kannibalisiert alles, also auch die
nichtmarktlichen Umgebungen, die ihn erst ermöglichen.
## Ausbeutung und Enteignung
So weit rennt Fraser durchaus offene Türen ein: Dass der Kapitalismus die
soziale Reproduktion braucht, die [1][gratis geleistete Care-Arbeit], dass
er nicht nur Rohstoffe vernutzt, sondern Ökologie und Natur ausbeutet und
vernichtet, die sozialen Kulturen der Städte und die nichtmarktlichen
Gemeinschaften verschlingt und verdaut, und all diese sozialen und
natürlichen Ressourcen behandelt, „als wären sie kostenlos“, ist jetzt
nicht unbedingt eine Feststellung, die man das erste Mal hört.
Fraser unterscheidet zwei Modi der Aneignung, die im Kapitalismus
vorherrschend sind. Die Ausbeutung („Exploitation“) und die Enteignung
(„Expropriation“), die zwei „Ex“. Simpel gesagt: Ausbeutung ist das, was
auf etablierten Arbeits-, Güter- und Konsummärkten geschieht, durch die
Aneignung von Mehrwert und Profiten.
Aber das ist nur der schöne, vertragliche Schein, und jenseits dessen
findet eine Enteignung statt, die ähnlich grausam ist wie zu Zeiten des
Räuberkapitalismus früherer Tage mit seiner ursprünglichen Akkumulation.
Mittels Finanzmärkten und Verschuldung wird das Vermögen normaler Leute
einfach enteignet, mittels Landgrabbing und Ähnlichem werden die
Lebensgrundlagen in den ausgebeuteten Gesellschaften der Peripherie und die
„kostenlose“ Natur zerstört und in Privatbesitz verwandelt und so weiter.
Die Unterdrückung der Frauen, deren still vorausgesetzte Gratis- oder
Billigarbeit, der Rassismus, der Enteignung und Überausbeutung als legitim
erscheinen lässt, die Zerstörung der Natur, all das sind keine
Nebenerscheinungen kapitalistischer Wirtschaft, sondern haben Zentralität
für eine globale kapitalistische Gesellschaft.
## Reformismus gleich Sackgasse
Eine Zähmung des gefräßigen Untiers ist ebenso wenig möglich wie ein
„nichtrassistischer Kapitalismus“ oder ein „grüner Kapitalismus“. Die
halben Sachen und kleinen Schritte, wie sie der Reformismus oder gar der
Linksliberalismus oder ein Feminismus erträumt, der „faire Chancen“ für
Frauen im Rahmen des Kapitalismus einfordert – alles Sackgassen.
Wenn man diesen Weg verfolge, lande man bei einem „progressiven
Neoliberalismus“, wie er viele Spielarten von Feminismus, Antirassismus,
Multikulturalismus, LGBTQ- und Umweltbewegung auszeichne.
Nichts davon ist gänzlich falsch, vieles sehr plausibel, doch die
Theoretikerin muss sich ihre Argumente auch ein wenig mit der Axt
zuschlagen. Die gesamte Geschichte der vergangenen zweihundert Jahre ist
allerhöchstens eine Geschichte von Anpassungen des Kapitalismus selbst,
erfolgreiche Kämpfe der Unterprivilegierten bleiben eine Randnotiz.
Demgegenüber steht ein appellativer Jargon, immer wieder ist zu lesen: „es
braucht“, „es muss“. Je größer und kompromissloser die Autorin die Aufg…
definiert, umso unwahrscheinlicher erscheint bei der Lektüre, dass sich die
Dinge in die Richtung entwickeln mögen, in die sie „müssen“.
## Antikapitalismus als Common sense
„Der Antikapitalismus könnte – und sollte – (…) zum zentralen Leitmotiv
eines neuen Common Sense werden“, schreibt Fraser, da Reparaturmaßnahmen,
Herumreformiererei und Partialbefreiungen ohne diesen Common Sense
letztlich zu nichts führen würden. Die Ökopolitik müsse sich von der Idee
des „grünen Kapitalismus“ distanzieren, der Klassenkompromiss als Betrug
„entlarvt“ werden. Wer nicht aufs große Ganze gehe, der könne gleich dahe…
auf dem Sofa bleiben.
Fraser bringt sehr viele berechtigte Kritiken gegen einen Progressismus für
Warmduscher und liberale Mittelschichten vor, hängt dabei aber leider die
Trauben so hoch, dass kaum vorstellbar erscheint, dass sie irgendwie
erreichbar wären.
„Wenn der Sozialismus alle Fehler des Kapitalismus beheben will, steht er
vor einer ziemlich großen Aufgabe“, erklärt sie lapidar. Fürwahr, möchte
man sagen. Da die Erfolgsaussichten für eine epochale Wende auch nicht sehr
viel wahrscheinlicher erscheinen als die einer Strategie der kleinen
Trippelschritte, bleibt man deprimiert zurück.
12 Mar 2023
## LINKS
[1] /Philosophin-ueber-Care-Arbeit/!5834052
## AUTOREN
Robert Misik
## TAGS
Philosophie
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