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# taz.de -- Nancy Fraser über Cancel Culture: „Angriff auf die Meinungsfreih…
> Die US-Philosophin Nancy Fraser über die Gründe für ihre Ausladung durch
> die Uni Köln, den deutschen Umgang mit Israel und Boykotte gegen das
> Land.
Bild: Nancy Fraser ist Philosophin und eine der bekanntesten US-amerikanischen …
taz: Frau Fraser, Sie sollten im Mai an der Universität zu Köln eine
Gastprofessur antreten. [1][Die wurde jetzt kurzfristig abgesagt]. Wie kam
es dazu?
Nancy Fraser: Ich stand seit Monaten im Austausch mit der Universität, um
meinen Aufenthalt vorzubereiten. Im Juli 2023 wurde ich offiziell
eingeladen. Vor etwa zehn Tagen erhielt ich dann eine E-Mail, in der es
hieß, dass der Rektor über eine Erklärung, die ich vergangenen November
unterschrieben habe, besorgt sei und dass er gerne meine Ansichten über den
Staat Israel hören würde.
Die Universität sagt, Ihre Antwort habe „keine neuen Erkenntnisse zum
Sachstand und zu Ihrer Position gegenüber Israel erbracht“.
Ich hielt diese Anfrage für unangebracht. Aber ich schrieb, zu diesem Thema
gebe es verschiedene Meinungen und viel Schmerz auf allen Seiten, auch für
mich als Jüdin. Aber ich hätte gelesen, dass sich der Rektor für einen
freien und offenen Dialog einsetzt, und darauf könnten wir uns alle
einigen. Ich hatte gehofft, dass die Angelegenheit damit erledigt wäre.
Aber schon am nächsten Tag erhielt ich eine Mail vom Rektor selbst, in der
er mir mitteilte, dass er angesichts meiner Unterstützung des offenen
Briefs „Philosophy for Palestine“ leider keine andere Wahl habe, als seine
Einladung zurückzuziehen.
Haben Sie mit dem Rektor der Uni Köln, Joybrato Mukherjee, gesprochen?
Nein, aber ich sehe, dass er mit deutschen Medien spricht und Nebelkerzen
wirft, um davon abzulenken, dass das ein unverfrorener Angriff auf die
akademische Freiheit ist, auf die Autonomie der Wissenschaftler, die mich
als Gastprofessorin ausgewählt haben, und ein Angriff auf die
Meinungsfreiheit insgesamt. Wie jeder Bürger habe ich das Recht, mich am
politischen Diskurs zu beteiligen, ohne um meinen Job fürchten zu müssen.
Wenn ich mich nicht irre, ist dieses Recht auch in Deutschland in der
Verfassung verankert.
In der [2][„Frankfurter Rundschau“ ist zu lesen], Herr Mukherjee würde
gerne öffentlich mit Ihnen über die Gründe für seine Ausladung diskutieren.
Was halten Sie davon?
Nun, das habe ich auch gelesen, aber ich habe keine solche Einladung
erhalten, das ist eine Lüge. Und warum sollte ich mit ihm überhaupt über
die Gründe für meine Kündigung diskutieren? Er hat ein PR-Problem. Aber es
ist nicht meine Aufgabe, ihm zu helfen, den Schaden zu reparieren, den er
seinem Ruf zugefügt hat.
Der Rektor wirft Ihnen vor, Sie hätten mit Ihrer Unterschrift unter diesen
Brief den Angriff der Hamas relativiert, das Existenzrecht Israels infrage
gestellt und zum Boykott israelischer Institutionen aufgerufen. Was sagen
Sie dazu?
Ich bin keine Kriminelle, die angeklagt ist und sich rechtfertigen muss.
Ich habe nur von meinem Recht als freier Bürger Gebrauch gemacht, meine
Meinung in Form einer Unterschrift unter einem offenen Brief kundzutun. Ich
möchte aber erläutern, was wirklich in dem Brief stand, denn es kursieren
zutiefst diffamierende Behauptungen darüber. Der Brief drückt Solidarität
mit den Menschen in Palästina aus, und ich würde sagen, dass das heute noch
dringender ist als damals, als er veröffentlicht wurde. Er stellt die
aktuelle Krise in den Kontext einer breiteren Geschichte von Gewalt und
Besatzung, Enteignung und Vertreibung, und er verurteilt ausdrücklich die
Ermordung von Zivilisten, sowohl in Israel als auch in Palästina. Um das
Leben aller Menschen, die in der Region leben, zu schützen, müssen die
Bedingungen, die Gewalt hervorbringen, beendet werden – das steht in dem
Brief. Kein Wort darüber, dass Israel kein Existenzrecht hätte.
Das stellen Sie nicht infrage?
Ich und die rund vierhundert Menschen, die diese Erklärung unterschrieben
haben, werden durch solche Behauptungen verleumdet. Der Rektor und die
Kräfte innerhalb der deutschen Regierung, die ihn unterstützen, sollten mit
ihren Falschdarstellungen des Briefs konfrontiert werden und für diese
Verzerrungen zur Rechenschaft gezogen werden. Der Kölner Rektor ist
übrigens auch [3][der Präsident des DAAD], der den gesamten Austausch der
deutschen Wissenschaft mit internationalen Wissenschaftlern und Studenten
organisiert. Wenn es für Stipendien und andere Formen des akademischen
Austauschs jetzt diese Art von McCarthyhaften Anforderungen geben sollte,
wäre das sehr beunruhigend.
Wer für einen Boykott ist, der dürfe sich nicht beschweren, wenn er selbst
boykottiert wird, sagen manche.
Nun, ich werde nicht boykottiert. Ich werde im Grunde gefeuert von einem
Job, den zu übernehmen ich vertraglich vereinbart habe. Wer fordert, Israel
zu boykottieren, will nicht andere Menschen für ihre Meinung bestrafen oder
andere Menschen feuern, sondern einen Staat sanktionieren, dem er
Menschenrechtsverletzungen und Schlimmeres vorwirft. Das ist etwas völlig
anderes und der Vergleich so absurd wie Äpfel und Birnen. Aber es ist
bezeichnend, mit welchen Argumenten die Leute versuchen, vom eigentlichen
Skandal abzulenken.
Wie stehen Sie zur [4][Boykottbewegung BDS]?
Ich habe den Aufruf zu einem wirtschaftlichen Boykott Israels zur
Beendigung der Besatzung immer unterstützt, hatte aber Zweifel an einem
akademischen Boykott – nicht aus prinzipiellen Gründen, sondern weil ich
meinen Kolleginnen und Kollegen an israelischen Universitäten, die gegen
die Besatzung sind und die sich heute mutig gegen den Krieg im Gazastreifen
stellen, nicht schaden wollte. Aber ich habe den Boykott der akademischen
Einrichtungen in Südafrika unterstützt, und ich würde auch nicht an eine
israelische Universität gehen, um dort einen Vortrag zu halten. Aber das
ist meine persönliche Entscheidung.
Judith Butler wird in Deutschland angefeindet, eine Preisverleihung für
[5][Masha Gessen] wurde abgesagt. Die Direktorin des Einstein-Forums Susan
Neiman sagt, sie will Deutschland verlassen. Ist Ihr Fall symptomatisch?
Ehrlich gesagt fühle ich mich geehrt, in einer Reihe mit diesen
bemerkenswerten, prinzipientreuen und mutigen Menschen zu stehen. Aber ich
weiß auch von palästinensischen Filmemachern, Schriftstellerinnen und
anderen, die gecancelt wurden. Prominenten wie uns wird mehr Aufmerksamkeit
geschenkt. Das bedeutet aber nicht, dass es nicht auch viele andere
Menschen gibt, die davon betroffen sind.
Sehen Sie die Meinungsfreiheit in Deutschland bedroht?
Ich bin zu selten in Deutschland, um mir ein Urteil zu erlauben. Aber in
den Vereinigten Staaten und in vielen anderen Ländern entsteht der
Eindruck, dass Deutschland von einer Art McCarthy-Fieber befallen ist.
Kritiker der israelischen Staatspolitik werden des Antisemitismus
beschuldigt und das Existenzrecht Israels zu leugnen. Die meisten dieser
Vorwürfe sind völlig aus der Luft gegriffen und werden benutzt, um eine
rechte politische Agenda voranzutreiben. Das ist sehr traurig. Viele
Deutsche fühlen verständlicherweise eine besondere Verantwortung gegenüber
Juden. Aber man darf diese Verantwortung nicht mit der Unterstützung einer
rechten, hypermilitaristischen, expansiven israelischen Regierung
gleichsetzen.
Sondern?
Die jüdische Erfahrung ist sehr reich und sehr tief. Warum empfindet man
nicht mehr Verantwortung gegenüber der jüdischen Tradition, die von
Spinoza, Heinrich Heine, Sigmund Freud bis hin zu Albert Einstein reicht?
Das ist der Teil der jüdischen Tradition, mit dem ich mich persönlich als
Jüdin identifiziere. Er hat nichts mit israelischem Nationalismus und schon
gar nichts mit dieser schrecklichen Regierung zu tun, die Palästinenser als
„Tiere“ bezeichnet. Es gibt in Deutschland ein großes Missverständnis
darüber, was es bedeutet, der deutschen Verantwortung gegenüber Juden
gerecht zu werden.
Sehen Sie Parallelen zu aktuellen Campus-Debatten in den USA?
Die Parallele besteht darin, dass der Vorwurf des Antisemitismus als Waffe
eingesetzt wird, und es steht außer Frage, dass die Ergebnisse sich am Ende
ähneln: Die freie Meinungsäußerung und die politische Debatte werden
abgewürgt. Unsere Universitäten, vor allem unsere berühmten
Ivy-League-Universitäten, werden aber weitgehend privat finanziert. Was wir
hier erleben, ist ein Aufstand eines Teils der großen Geldgeber, die
versuchen, die akademische Freiheit der Fachbereiche, der Studierenden, der
Verwaltungen, der Universitätspräsidenten, der Dozenten und anderer
Mitarbeiter einzuschränken. Dass Leute, die reich sind und Geld spenden,
versuchen, Einfluss darauf zu nehmen, was an den Universitäten gelehrt
wird, das hat es früher schon gegeben. Aber jetzt hat es einen neue Stufe
der Dreistigkeit erreicht: Sie tun es ganz offen und ohne Scham.
Sehen Sie an US-Universitäten kein Antisemitismus-Problem?
Es steht außer Zweifel, dass es in den Vereinigten Staaten und an vielen
anderen Orten Antisemitismus gibt. Zu sagen, dass er als Waffe eingesetzt
wird, bedeutet nicht, das anzuzweifeln. Aber ich würde sagen, dass es
arabische, muslimische oder palästinensische Studenten und Kritiker der
Gaza-Invasion auch nicht einfach haben. Und auf der anderen Seite gibt es
in den Vereinigten Staaten eine wichtige Kraft, welche die israelische
Politik der Zerstörung in Gaza ohne Vorbehalte unterstützt, und das sind
die christlichen Evangelikalen. Sie glauben, dass der Messias erst dann
kommen wird, wenn alle Juden im Staat Israel versammelt sind und Israel vom
Fluss bis zum Meer reicht. Dann werden die Christen in den Himmel
aufsteigen und die Juden, die nach Israel gegangen sind, werden in der
Hölle brennen, zusammen mit den Muslimen und allen anderen.
Wie stark prägen solche Stimmen den Diskurs?
Was sich in den Vereinigten Staaten geändert hat, ist, dass es mehr
Sendezeit für palästinensische Stimmen und Stimmen der Solidarität mit den
Palästinensern gibt. Wir hatten viele Jahre lang eine sehr einseitige
öffentliche Sphäre. Das ändert sich jetzt, und ich glaube, dass das die
israelische Rechte in Angst und Schrecken versetzt. Denn sie ist es nicht
gewohnt, ihre Position in der Öffentlichkeit verteidigen zu müssen. Jetzt
muss sie es.
Zurück zu Ihrer Gastprofessur: Welche Folgen hat die Absage für Sie?
Im Moment habe ich keine Zeit, meiner eigentlichen Arbeit nachzugehen, weil
ich zu sehr damit beschäftigt bin, E-Mails zu schreiben und Interviews zu
geben. Ich erhalte viel Unterstützung und habe verschiedene Angebote, die
abgesagte Albertus-Magnus-Vorlesung woanders zu halten.
Vielleicht müssen Sie Ihren Flug also nicht stornieren?
Ich denke schon. Und ich erwarte, dass ich dafür entschädigt werde.
Erwägen Sie rechtliche Schritte gegen die Uni Köln?
Derzeit bevorzuge ich es, eine öffentliche Debatte zu führen. Aber wir
werden sehen. Es kann durchaus sein, dass ich mich irgendwann dazu
entschließen werde.
9 Apr 2024
## LINKS
[1] /Streit-um-Albertus-Magnus-Professur/!6002799
[2] https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/ploetzlich-unerwuenscht-uni-koeln-lae…
[3] /DAAD-Praesident-ueber-Gleichstellung/!5882832
[4] /BDS-Movement/!t5071445
[5] /Preis-fuer-Journalistin-Masha-Gessen/!5980312
## AUTOREN
Daniel Bax
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