| # taz.de -- Neuaufstellung von Arendt-Preis: Zu viele ausgezeichnete Antisemiten | |
| > Neue Leute und Strukturen sollen den Arendt-Preis vor Israelhassern | |
| > bewahren. Nach dem Eklat von 2023 folgen jetzt Reformen bei Trägerverein | |
| > und Jury. | |
| Bild: In einer kleinen Galerie im Bremer Viertel durfte sich Masha Gessen 2023 … | |
| Im Jahr 2024 muss der Bremer Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken | |
| aussetzen. Das bestätigte die neue Vorstandsvorsitzende des 1994 | |
| gegründeten Arendt-Preis-Vereins, Waltraud Meints-Stender. Die Pause ist | |
| eine Folge, aber keine Reaktion [1][auf den Eklat des vergangenen Jahres], | |
| in dem der Preis an Mascha Gessen verliehen worden war. | |
| „Ich bedauere die Unterbrechung sehr“, so die Politik-Professorin, die in | |
| Mönchengladbach lehrt und zu Arendts Begriff der politischen Urteilskraft | |
| [2][geforscht hat]. Gleichzeitig wolle man die Zwangspause nutzen, „um | |
| Sicherungen einzubauen“, stellt Meints-Stenders Stellvertreter, der Bremer | |
| Politikwissenschaftler Lothar Probst klar: „damit eine Katastrophe wie im | |
| vergangenen Herbst sich nicht wiederholt“. | |
| Ursache der Zwangspause ist der Rücktritt des Altvorstands unter Leitung | |
| der Gründungsvorsitzenden Antonia Grunenberg. Das vierköpfige Team hatte | |
| bei der Vereinssitzung im April hingeschmissen, weil es für seine Rolle im | |
| [3][weltweit wahrgenommenen Gessen-Skandal] teils scharf angegriffen worden | |
| war. | |
| ## Kein Preis ohne Geld | |
| Es hatte zuvor aber nicht die nötigen Mittel für eine Neuauflage der Ehrung | |
| bei den Preisgebern beantragt, der örtlichen Heinrich Böll-Stiftung und dem | |
| Bremer Senat. Als im Juni eine neue Vereinsführung gefunden und gewählt | |
| wurde, war es zu spät, um noch Geld zu beantragen. | |
| „Wir danken dem bisherigen Vorstand für seine Arbeit“, sagt Meints-Stender | |
| im Gespräch mit der taz. Für die Zukunft des Preises müsse darüber | |
| nachgedacht werden, wie sich politisches Denken auszeichnen lässt, zu dem | |
| es ausdrücklich gehöre, „in der Öffentlichkeit streitbare Positionen zu | |
| beziehen“. | |
| Diese müssten sich „auf die reale Welt beziehen – aber im Sinne der | |
| Menschlichkeit des Menschen“. Die nimmt allerdings, nach einem Bonmot | |
| [4][aus Arendts Hamburger Lessingpreis-Rede] (1959) in dem Maße ab, in dem | |
| auf das Denken überhaupt verzichtet und stattdessen auf Gemeinplätze | |
| gesetzt wird. | |
| Als inhaltliches Kriterium ist das freilich schwer fassbar. Und es ist | |
| unwahrscheinlich, dass es im Fall Gessen etwas ausgerichtet hätte: Gessen | |
| ist durch mutige Bücher übers Putin-Regime und LGBTI*-Aktivismus in den USA | |
| bekannt geworden. Die – ab 2019 einsetzende Anti-Israel-Publizistik – hatte | |
| wenig Resonanz gefunden und war unterm Radar geblieben. | |
| Bis Gessen dann in einem Essay im New Yorker Magazine, das wenige Tage vor | |
| dem geplanten Festakt im Bremer Rathaus erschien, den Gaza-Streifen mit den | |
| jüdischen Zwangsghettos in den von den Nazis besetzten osteuropäischen | |
| Städten [5][gleich gesetzt hatte]. Diese ausdrückliche Identifikation – | |
| Gessen sprach gegenüber der taz von sameness – sollte dazu dienen, die | |
| Gegenwehr Israels gegen den Angriff der Hamas am 7. Oktober zu | |
| skandalisieren. | |
| Daraufhin hatten der Senat und auch die Böll-Stiftung die Veranstaltung | |
| [6][abgeblasen]. Statt im festlichen Rahmen der Halle des Bremer | |
| Welterbe-Rathauses wurde die Auszeichnung in einer Hinterhofgalerie im | |
| Bremer Viertel überreicht – bei der laut Gessen „seltsamsten | |
| Preisverleihung, an der ich je teilgenommen habe“. | |
| Für Diskussionen oder gar kritische Nachfragen war da kein Platz. Und zu | |
| einem klärenden Wort hatte sich der Vorstand auch nicht bereit gefunden. | |
| abei war aus seinen Reihen der Vorschlag Gessen der Jury ohne Vorwarnung | |
| kurzfristig vor den Latz geknallt worden. | |
| Um überhaupt eine Entscheidung zu fällen, hatte eine neue Sitzung | |
| einberaumt werden müssen, bestätigt Lothar Probst. Die mit der Entscheidung | |
| betrauten Fachleute hatten insofern Zeit, um sich einen oberflächlichen | |
| Eindruck vom Oeuvre zu verschaffen, das sie ehren sollten – nicht aber, um | |
| auch dessen Dreckecken auszuleuchten. | |
| Solche Überrumpelungsvorschläge soll es unter Meints-Stenders Führung nicht | |
| geben. „Die Kommunikation zwischen Vereinsvorstand und Jury müssen wir | |
| unbedingt verbessern“, sagt sie. Auch die zwischen Jury und Öffentlichkeit: | |
| „Wir haben in der Satzung jetzt festgelegt, dass die einen Sprecher wählen | |
| muss“. Auch durch die Berufung neuer Jury-Mitglieder habe man versucht, für | |
| mehr Breite und zugleich eine höhere Sensibilität zu sorgen – gerade im | |
| Hinblick auf Antisemitismus. | |
| Am deutlichsten [7][belegt] wird das durch den Namen und die Schriften des | |
| Schweizer Schriftstellers Alexander Estis, der aus einer russisch-jüdischen | |
| Künstlerfamilie stammt. Aber auch der dänische Minderheiten-Forscher Thomas | |
| Brudholm, ebenfalls neu in der Jury, [8][kennt sich mit Erscheinungsformen | |
| des Hasses aus]. | |
| ## Gessen war kein Einzelfall | |
| Tatsächlich war Gessen keineswegs die erste Person, die den Arendt-Preis | |
| trotz oder sogar wegen Dämonisierung des Staates Israel erhalten hatte. | |
| Judenhass bis hin zu Vernichtungsfantasien hatte der 2023 gestorbene | |
| italienische Bücherschreiber Gianni Vattimo, Preisträger 2002, artikuliert, | |
| allerdings in exzessiver Form erst Jahre nach seiner Auszeichnung. | |
| Tony Judt, Historiker, der geradezu obsessiv Kritik an der Existenz Israels | |
| übte, erhielt ihn 2007. Étienne Balibar, BDS-Unterstützer, 2017. Dagegen | |
| nimmt sich die Preisträgerin von 2006, Julia Kristeva, die [9][zuletzt zur | |
| EU-Wahl Europa zur Geschlossenheit gegen Antisemitismus aufrief], fast wie | |
| ein Ausrutscher aus. | |
| Grigori Pantijelew, [10][Stellvertretender Vorsitzender der Bremer | |
| Jüdischen Gemeinde] setzt jedenfalls kein Vertrauen in die bisherigen | |
| Reformbemühungen des Arendt-Preis-Vereins: „Wenn das schon der Neuanfang | |
| gewesen sein soll, dann will ich Hannah heißen“, sagt er. | |
| ## Termin wird geändert | |
| Auch der Verweis auf andere Preisträger, die keine antizionistischen und | |
| judenfeindlichen Ressentiments artikuliert haben, heile das nicht: „Das | |
| bedeutet ja, dass es in Ordnung ist, wenn jeder dritte Preisträger | |
| Antisemit ist.“ Er befürchte, dass trotz einiger neuer Gesichter die | |
| Beteiligten „weiter machen wie bisher“. | |
| Diese Skepsis nehme man ernst, sagt Waltraud Meints-Stender. „Wir werden | |
| uns im August mit dem Vorstand der Jüdischen Gemeinde treffen“, kündigt sie | |
| an. Auch die Terminfrage werde man angehen: Arendt selbst war 1906 in | |
| Hannover Linden in eine jüdische Familie geboren, die jüdische Tradition | |
| ist zentral für ihr denkerisches Werk. | |
| Der Festakt zum nach ihr benannten Preis findet jedoch alljährlich Anfang | |
| Dezember an einem Freitagnachmittag statt – zu Beginn des Shabbat. | |
| Religiösen Juden ist es damit unmöglich, an der Veranstaltung teilzunehmen. | |
| „Ich denke, der Preis sollte an einem Sonntag verliehen werden“, sagt | |
| Meints-Stender. „Wie fast alle bedeutenden Preise.“ | |
| 23 Jul 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Hannah-Arendt-Preis-fuer-Masha-Gessen/!5977628 | |
| [2] https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-1445-9/partei-ergreifen-im-inte… | |
| [3] https://www.washingtonpost.com/style/media/2023/12/14/masha-gessen-hannah-a… | |
| [4] https://philpapers.org/archive/AREVDM-5.pdf | |
| [5] https://www.sueddeutsche.de/kultur/masha-gessen-holocaust-israel-palaestina… | |
| [6] /Bremer-Hannah-Arendt-Preis-2023/!5980282 | |
| [7] https://www.ndr.de/kultur/film/festivals/Berlinale-Eklat-Autor-Alexander-Es… | |
| [8] https://ccrs.ku.dk/staff/?pure=en%2Fpublications%2Fhate-politics-law(0f8439… | |
| [9] http://www.kristeva.fr/l-europe-contre-l-antisemitisme.html | |
| [10] /Gemeindevorstand-ueber-Judenhass/!5987826 | |
| ## AUTOREN | |
| Benno Schirrmeister | |
| ## TAGS | |
| Hannah Arendt | |
| Jüdische Gemeinde Bremen | |
| Bremen | |
| Antisemitismus | |
| Theodor W. Adorno | |
| Meinungsfreiheit | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Renommierter Adorno-Preis an Benhabib: Für Kosmopolitismus | |
| Seyla Benhabib ist neue Preisträgerin des Adorno-Preises. Zuletzt gab es | |
| Forderungen, ihrer Vorgängerin Judith Butler den Preis zu entziehen. | |
| Nancy Fraser über Cancel Culture: „Angriff auf die Meinungsfreiheit“ | |
| Die US-Philosophin Nancy Fraser über die Gründe für ihre Ausladung durch | |
| die Uni Köln, den deutschen Umgang mit Israel und Boykotte gegen das Land. | |
| Genozidforscher über Gaza: „Jeder Genozid ist anders“ | |
| Der Historiker Omer Bartov über den Vorwurf, Israel begehe in Gaza einen | |
| Völkermord, über Nazi-Vergleiche und über Deutschlands Rolle in dem | |
| Konflikt. |